Transkript
FORTBILDUNG
«Kiffen hilft bei Spastik» – vom anekdotischen Bericht zum wissenschaftlichen Beleg
Cannabis in der Behandlung der Spastik und anderer Symptome der Multiplen Sklerose
Foto: zVg
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung, für die es heute noch keine Heilung gibt. Spastizität, Muskelkrämpfe, neuropathische Schmerzen, Tremor, Blasenfunktionsstörungen und kognitive Einbussen figurieren unter den Symptomen, welche die Lebensqualität der MS-Betroffenen massgeblich einschränken. Nachdem manch ein MS-Erkrankter vom günstigen Effekt von meist illegal konsumiertem Hanf auf seine Symptome zu berichten wusste, haben in letzter Zeit auch kontrollierte Studien die positive Wirkung von medizinischem Cannabis auf gewisse dieser Symptome dokumentieren können. Die folgende Übersicht soll summarisch darstellen, für welche der genannten Symptome genügend Evidenz für die Anwendung von medizinischem Cannabis vorliegt. Wenn Spastik und Schmerzen trotz konventioneller Medikamente nicht genügend gelindert werden, stellt Cannabis eine wertvolle Option dar, auch wenn das «Kraut» das Fortschreiten der Erkrankung nicht zu bremsen vermag!
Claude Vaney Daniela E. Eigenmann
von Claude Vaney1 und Daniela E. Eigenmann2
« H err Doktor, das Rauchen eines Joints ist das Einzige, was meine Muskelspasmen lindert!», sagte mir (Claude Vaney) 1993 ein junger Patient mit Multipler Sklerose (MS), der in der Berner Klinik Montana zur Rehabilitation weilte. Die klinische Untersuchung mit eindrücklicher Senkung des Muskeltonus nach dem Rauchen war für das ganze Team und für mich selbst als junger Chefarzt äusserst beeindruckend und bestätigte die Aussage des Patienten treffend. Einige Jahre später stellte ich für einen anderen, an starken Spasmen leidenden MS-Betroffenen ein Gesuch an das Bundesamt für Gesundheit (BAG), um ihm das Präparat Marinol® zu verschreiben. Marinol® war damals das einzige im Handel erhältliche Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) enthaltende Fertigarzneimittel. Dieses synthetisch hergestellte Cannabinoid war 1985 im Kontext der AIDS-Krise seitens der US-amerikanischen Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA), allerdings lediglich zur symptomatischen Therapie bei Anorexie bzw. Kachexie, zugelassen worden (1). Mein Gesuch wurde vom BAG mit der Begründung, dass für diese Indikation (Spastik bei MS) derzeit keine genügende Datenlage bestünde, abgelehnt. In der Tat waren seit der Erstbeschreibung durch Petro und Ellenberger 1981, die aufgrund der sporadischen Verbesserung von spastischen Patienten nach der Inhalation von Cannabis und dem wissenschaftlichen Nachweis der
1 Facharzt Neurologie FMH, Visp 2 eidg. dipl. Apothekerin, Bahnhof Apotheke Langnau AG,
Langnau i.E.
Hemmung polysynaptischer Reflexe durch THC in Tierversuchen nur anekdotische, wenige Patienten beinhaltende Studien veröffentlicht worden (3–5). Immerhin bot mir das BAG im Gegenzug an, eine Studie mitzufinanzieren, um die Sachlage an einem grösseren Patientengut zu untersuchen, was die Klinik natürlich gerne angenommen hat. Unsere 2004 publizierte Studie kam dann effektiv zum Schluss, dass ein standardisierter Cannabis-sativa-Pflanzenextrakt bei 50 MSPatienten mit anhaltender Spastik, die auf andere Medikamente nicht ansprechen, die Häufigkeit von Spasmen verringert und die Mobilität bei erträglichen Nebenwirkungen erhöht (6). Zeitgleich zu unserer Studie wurde in England eine grossangelegte, multizentrische Studie (CAMS study) mit denselben Cannabiskapseln veröffentlicht, in der die 622 Teilnehmer eine Verbesserung von Spastizität, Schlaf und Schmerzen meldeten (7). Es ist relevant, hier anzumerken, dass sowohl in dieser wie auch in unserer Studie der primäre Studienendpunkt, nämlich eine Veränderung der Spastizität, erhoben anhand des Ashworth-Scores, nicht erreicht wurde. Lediglich die sekundären Beurteilungspunkte, wie Spasmenhäufigkeit oder die Mobilität, gemessen an der Zeit, die benötigt wird, um 10 Meter zu gehen, unter der Behandlung mit Cannabis waren signifikant verbessert. Nicht von ungefähr wurden diese positiven Resultate bezüglich Verbesserung der Spastik hinterfragt und als «eingebildet» taxiert, zumal vorwiegend die «subjektiven» (Spasmen- und Schmerzreduktion) zu Gunsten von Cannabis ausfielen, nicht aber die objektiven Kriterien, wie der «objektivere» Ashworth-Score (8). Im Lauf der folgenden Jahre wurden mehrere kontrollierte Studien mit MS-Betroffenen publiziert, viele davon mit dem Präparat Nabiximols (Sativex®), ebenfalls ein
5/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5
Foto: zVg
FORTBILDUNG
Cannabisextrakt, der in den Mund gesprüht wird und die gleichen Mengen an THC und Cannabidiol (CBD) enthält. Bezeichnenderweise und im Sinn eines Paradigmenwechsels wurde bei diesen Studien die Wirksamkeit von Nabiximols auf die spastikassoziierten «subjektiven» Symptome mit der Numerischen Rang-Skala (NRS) beurteilt (0 = keine Spastik; 10 = schlimmste vorstellbare Spastik innerhalb der vergangenen 24 Stunden). Nach weiteren positiv ausgefallenen Studien (9–11) hat dann 2013 Swissmedic mit Sativex® erstmals ein Cannabisextrakt-Arzneimittel rechtlich zugelassen mit folgender Indikation (12): «Zur Symptomverbesserung bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von Multipler Sklerose (MS), die nicht angemessen auf eine andere anti-spastische Arzneimitteltherapie angesprochen haben und die eine klinisch erhebliche Verbesserung von mit der Spastik verbundenen Symptomen während eines Anfangstherapieversuchs aufzeigen.» Um das Bild zu diesem Thema abzurunden, schreibt die 2022 erschienene Cochrane Review (13): «Treatment with Nabiximols likely results in improvement of spasticity and may not increase serious harmful effects compared with placebo.» Diese Review bestätigt somit auch die Aussagen von früher publizierten Metaanalysen, die alle zum gleichen Schluss kamen, dass Cannabis ein erwiesenes, zwar bescheidenes Potenzial besitzt, Spasmen bei MS zu lindern (14, 15, 16). Und so schliesst sich der Kreis, wunderbar!
MS, eine Krankheit mit vielen die Lebensqualität beeinträchtigenden Symptomen Die Multiple Sklerose (MS) ist in unseren Breitengraden die häufigste, bei jungen Erwachsenen zu einer bleibenden Invalidität führende neurologische Erkrankung. Es wird angenommen, dass es bei genetisch dafür veranlagten Menschen zu einer autoimmunen Reaktion gegen die Myelinscheide der Nervenfasern kommt, was die Erregungsleitung in den Nervenbahnen stört. Zu Beginn treten meist Missempfindungen, Sehstörungen und eine beeinträchtigte Gehfähigkeit auf. Später können spastische Lähmungen sowie Blasen- und Sexualstörungen auftreten. Nicht selten sind auch das Gedächtnis, die Auffassungsgabe, die Gefühlswelt und das Sozialleben beeinträchtigt. Die Behandlung von MS konzentriert sich auf die Verhinderung neuer Schübe, die Modulation des Krankheitsverlaufs und die Behandlung der Symptome. Eine Behandlung, die die Remyelinisierung anregt und die Nerven repariert, ist derzeit nicht verfügbar (17). Zu den bei MS am stärksten einschränkenden Beschwerden gehört die Spastik, die sich als unwillkürliche, teils schmerzhafte, intermittierende oder anhaltende Muskelverkrampfung manifestiert. Dieses Phänomen lässt sich auch bei anderen Krankheiten mit Befall des ersten Motoneurons und gestörter zentraler sensomotorischer Kontrolle feststellen. Je nach Verteilungsmuster und der Menge der betroffenen Muskelgruppen wird die Spastik in fokale, multifokale, segmentale oder generalisierte Spastik eingeteilt. Diese Unterscheidung ist therapeutisch von Bedeutung, zumal sich eine fokale Spastik oft mit Botulinustoxin behandeln lässt. Gewisse Trigger, wie Harnwegsinfekte, starke Verstopfung, Hautulzerationen, Schmerzen und Anspannung
können die Spastik verstärken. Nicht jede Spastik ist behandlungsbedürftig. Manchmal erlaubt gerade eine «Restspastik» dem Betroffenen, kurz für den Transfer zu stehen oder einige Schritte zu gehen. Die Behandlung der Spastik umfasst orale Medikamente wie Baclofen, Tizanidin und intrathekale (Baclofen) Antispastika, Muskelinjektionen mit Botox, physikalische Therapie, elektrische und magnetische Stimulation sowie periphere Nervenstimulation allein oder in verschiedenen Kombinationen. Die Behandlung der Spastik bei MS zielt darauf ab, die funktionellen Fähigkeiten zu fördern, die Rehabilitation zu unterstützen, Kontrakturen zu vermeiden und Beschwerden der Betroffenen zu lindern.
Cannabis wirkt über die Cannabisrezeptoren des Endocannabinoidsystems Beim Menschen entfalten die Cannabinoide ihre Wirkungen durch die Bindung an Cannabinoidrezeptoren (CB). Die wichtigsten Vertreter dieser G-Protein-gekoppelten Rezeptoren sind CB1 und CB2, zu deren Liganden sowohl Phytocannabinoide (v. a. THC) und synthetische Cannabinoide als auch Endocannabinoide, das heisst körpereigene Cannabinoide wie Anandamid und 2-Arachidonylglycerol (2-AG), gehören. Das Endocannabinoidsystem wurde zu Beginn der 1990er-Jahre entdeckt (18). Die CB1-Rezeptoren sind vor allem im präfrontalen Kortex (Planen und Denken), in den Basalganglien (Bewegungssabläufe), im Kleinhirn (Koordination), im limbischen System (Emotionen), im Hypothalamus (Steuerung des Appetits) sowie im Hippocampus (Gedächtnis) lokalisiert. Das spärliche Vorhandensein von solchen Rezeptoren im Hirnstamm, wo das Atemzentrum liegt, erklärt, warum man, anders als bei hochdosierten Opiaten, nicht an einer Überdosis von Cannabinoiden durch Atemstillstand sterben kann. CB2Rezeptoren werden dagegen vornehmlich von Immunzellen exprimiert und spielen eine Rolle in der Regulation von Immun- und Entzündungsreaktionen. Die durch die Freisetzung von Botenstoffen (z. B. Glutamat, Serotonin oder Acetylcholin) an den Synapsen vermittelte Kommunikation von einer Zelle zur andern kann im Rahmen von Krankheiten manchmal überschiessen. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Freisetzung von Endocannabinoiden diese übermässige Stimulation zu modulieren vermag. Das aus dem postsynaptischen Neuron freigesetzte Endocannabinoid gelangt zum präsynaptischen Axonterminal und aktiviert dort den CB1-Rezeptor. Dadurch werden kalziumabhängige Signalwege inhibiert, was die Freisetzung von Neurotransmittern aus intrazellulären Vesikeln und damit die Signalübertragung hemmt. Diese retrograde synaptische Übertragung (retrograde signaling) wurde bei vielen GABAergen und glutamatergen Synapsen des zentralen Nervensystems beobachtet (19, 20). Bei der überwiegenden Mehrzahl der Synapsen wurde 2-AG als Botenstoff dieser retrograden Übertragung identifiziert. Die antispastischen Wirkungen beruhen vor allem auf der Modulation der deszendierenden hemmenden Systeme auf die spinalen Interneuronen des Rückenmarks (21).
6
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2023
FORTBILDUNG
Wirkungen und Nebenwirkungen von Medizinalcannabis Wie wirkt Medizinalcannabis auf die Spastik bei MS? In der erwähnten bisher umfangreichsten Review und Metaanalyse von Whiting et al. zum medizinischen Einsatz von Cannabinoiden wurden alle bisher durchgeführten randomisierten, kontrollierten Studien nach dem GRADE-Prinzip (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) ausgewertet (15). Insgesamt ergeben die Studien einen Vorteil für den Cannabisextrakt Nabiximols bei MS-korrelierter Spastik. Weiterhin erwähnt die Review, dass Nabiximols die Schlafqualität deutlicher verbessert als Plazebo. Bezogen auf die Nachbeobachtungen von 3 bis 15 Wochen lautete die GRADE-Beurteilung «moderate Evidenz» für eine Wirkung bei MS-assoziierter Spastik, gemessen anhand der Ashworth Scale oder der Gehgeschwindigkeit. Für die strengeren Outcomes 50% Reduktion der Spastik bei einem Follow-up von 6 bis 14 Wochen sowie dem Parameter Gesamteindruck wird die Evidenz als «im geringen Grad vorhanden» beurteilt. Nicht alle Patienten sprechen auf Medizinalcannabis gleich gut an. So prüfte eine Studie gezielt Nabiximols bei Patienten, die in einer Vorlaufphase als Responder ermittelt wurden. Responder sind Patienten, bei denen sich nach vierwöchiger Anwendung die Spastik um mindestens 20% besserte (22). Bei den Respondern, zu denen etwa 50% der jeweils zu behandelnden Patienten gehörten, liess sich in den 12 Folgetherapiewochen noch eine weitere signifikante Verbesserung der Spastik erzielen. Anwendungsbeobachtungen über ein Jahr bestätigten bei «Respondern» eine anhaltende Wirkung (23).
Was sollte bei der Verwendung von Cannabinoiden besonders beachtet werden? Nach einem Therapieversuch von etwa 4 Wochen sollten nur Responder die weitere Therapie erhalten. Wichtig ist eine einschleichende Dosierung, um die Nebenwirkungen zu minimieren. Die Dosis variiert und muss für jeden Patienten herausgefunden werden. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass die behandelten Patienten meist geringere Dosen als in Studien benötigen und dass es bei Langzeitanwendung in der Regel nicht zu einer Dosissteigerung kommt. Die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Abhängigkeit wird bei oralen Präparaten als gering eingeschätzt. Dennoch gelten Cannabispräparate mit > 1% THC in der Schweiz als Betäubungsmittel, mit den entsprechenden Erfordernissen für die Verschreibung. Bei Patienten mit Suchtmittelmissbrauch sollte die Indikation besonders sorgfältig evaluiert werden. Suizidalität, Schwangerschaft und das Vorliegen von schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen stellen eine Kontraindikation für THC-haltige Cannabispräparate dar. Kognitive Einbussen können auftreten, und die Fahrfähigkeit, besonders unmittelbar nach der Anwendung und zu Therapiebeginn, kann eingeschränkt sein. Über die eventuell beeinträchtigte Fahr- und Arbeitsfähigkeit muss der Patient informiert werden. Weiter sind mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und Alkohol zu beachten (24). Die Verträglichkeit von oralen Cannabispräparaten wird insge-
samt als «gut» eingeschätzt. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen unter anderem Müdigkeit, Benommenheit, Schwindel, Tachykardie, Blutdrucksenkung und Mundtrockenheit, die durch eine einschleichende Dosierung minimiert werden können. Psychotrope Effekte sind möglich, bei medizinischen, oralen Dosen jedoch eher selten. In der bereits erwähnten Review wurden verschiedene Darreichungsformen von Cannabispräparaten miteinander verglichen. Allerdings wurden die in den Schweizer Apotheken hergestellten Cannabis-/Cannabinoidhaltigen Magistralrezepturen zur oralen Einnahme bisher in keiner klinischen Studie berücksichtigt, sodass die Wirksamkeit dieser Präparate im Vergleich nicht schlüssig beurteilbar ist. In der Review fand sich allerdings kein signifikanter Unterschied bezüglich der Wirksamkeit zwischen der oromukosalen Anwendung in Form des Nabiximols-Sprays, dem inhaliertem THC in Zigarettenform und oral eingenommenem THC in Tablettenform. Bei der oromukosalen Anwendung von Nabiximols ergibt sich zwar eine etwas günstigere Pharmakokinetik und zuverlässigere Resorption als bei oralen Zubereitungen wie THC-Tabletten, doch kann von einer gleichwertigen Effizienz der oral eingenommenen Präparate ausgegangen werden. Die Resorption von THC wäre bei Inhalation am höchsten; allerdings spricht die Nebenwirkungsrate des Rauchens – das bislang nicht legalisiert ist – deutlich gegen diese Applikationsform. Anstelle von Rauchen könnte medizinisch die Vaporisierung (Verdampfung) mit einem geeigneten Verdampfer (Vaporiser) in Betracht gezogen werden. Aufgrund fehlender ausstehender Langzeitdaten zur Vaporisierung von Cannabisblüten ist in der Praxis allerdings eine besonders sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung notwendig.
Rückerstattung der Behandlungskosten von Cannabisarzneimitteln Da Sativex® nicht auf der Spezialitätenliste (SL) und die magistralen Cannabispräparate nicht auf der Arzneimittelliste mit Tarif (ALT) figurieren, werden sie ohne vorgängige Beantragung einer Kostenübernahme im Einzelfall (Art. 71a-d KVV) von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) nicht übernommen. In der Praxis hat es sich bewährt, den Patienten die erste Packung selbst bezahlen zu lassen. Bei guter Wirkung gegen die Spastik ist daraufhin ein Antrag auf Rückerstattung oft erfolgreich, zumal dem Gesuch den Nutzen belegende Studien für diese Indikation beigelegt werden können.
Medizinalcannabis in der Behandlung von neuropathischen Schmerzen und anderen Symptomen der MS Während die eingangs erwähnte statistisch zwar bescheidene Muskeltonussenkung und die alltagsrelevante Verringerung der damit einhergehenden Muskelschmerzen in mehr als 50% der Fälle durch die Einnahme von Cannabis gut belegt ist, ist die Evidenz für dessen Wirksamkeit auf die neuropathischen Schmerzen im Rahmen der MS schwächer (26). Mehr als 60% der Menschen mit MS empfinden irgendwann Schmerzen, einschliesslich neuropathischer Schmerzen und Schmerzen im Bewegungsapparat (27). Studien zur Verwendung von Cannabis in der Schmerz-
5/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
7
FORTBILDUNG
behandlung bei MS haben zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt, aber die meisten pharmazeutischen Präparate auf Cannabisbasis haben zumindest nach einigen Parametern zu einer Schmerzreduktion geführt. CB1-Rezeptoren finden sich auch auf den Schmerzbahnen im Gehirn und im Rückenmark und sind vermutlich an der Cannabinoid-bedingten Analgesie beteiligt. Kleine, nicht psychoaktive THC-Dosen sollen genügen, um in Kombination mit Opiaten synergistisch eine schmerzlindernde Wirkung zu entfalten. Opiate und Cannabinoide lassen sich gut kombinieren, zumal sie nicht die gleichen Rezeptoren besetzen. Cannabis unterbindet die opiatinduzierte Übelkeit und den Brechreiz und führt zur Wirkungsverstärkung, sodass die Opiatdosis teilweise gesenkt werden kann. Eine Review von randomisierten Vergleichsstudien zur Wirkung einer Cannabisbehandlung bei der Schmerzlinderung (einschliesslich Schmerzen im Zusammenhang mit MS) ergab, dass Cannabis in sieben von elf analysierten Studien im Vergleich zu Plazebo ein Analgetikum mit mässiger Wirksamkeit bei der Schmerzbehandlung war (28). Darüber hinaus wurde in einem Bericht des Guideline Development Subcommittee of the American Academy of Neurology (NAA) festgestellt, dass oral verabreichter Cannabisextrakt bei der Schmerzlinderung wirksam ist, dass diese Wirksamkeit bei gerauchtem Cannabis jedoch unklar bleibt (29). Eine weitere Überprüfung von vier Studien ergab keine Unterschiede in den Schmerzbewertungswerten zwischen den mit Cannabis behandelten Gruppen und den Vergleichsgruppen (30). In mehreren anderen Studien haben Forscher versucht, die Wirkung von Cannabis auf neuropathische Schmerzen bei Menschen mit diagnostizierter MS zu bewerten. Eine kleine klinische Studie mit 15 Personen mit schubförmiger MS ergab, dass Nabilon (ein synthetisches Cannabinoid) in Kombination mit Gabapentin (einem oral verabreichten Medikament zur Schmerzbehandlung) bei der Linderung neuropathischer Schmerzen wirksam und gut verträglich war (31). Eine weitere kleine Studie mit 64 Personen mit MS konnte zeigen, dass die Behandlung mit Cannabis bei der Schmerzlinderung wirksam und im Allgemeinen gut verträglich war (32). Ähnliche Ergebnisse wurden bei der CAMS-Studie beobachtet, bei der die von den Patienten angegebenen Ergebnisse darauf hindeuteten, dass die Schmerzen in ihrer Wahrnehmung gelindert wurden (7). Durch MS verursachte Schädigungen des Gehirns oder des Rückenmarks können die normale Blasenfunktion beeinträchtigen, indem sie die zwischen dem Gehirn und dem Harnsystem ausgetauschten Signale stören. Gemäss den NAA-Leitlinien ist Nabiximols wahrscheinlich wirksam in der Behandlung von Harndrang, aber nicht bei Harninkontinenz (29). Tremor ist eine motorische Störung, die durch unwillkürliche und relativ rhythmische Bewegungen gekennzeichnet ist. Er wird durch die Demyelinisierung eines Bereichs des Gehirns verursacht, der als Kleinhirn bezeichnet wird. Studien, in denen Tremor zu den Endpunkten gehörte, wurden im Rahmen der Entwicklung der NAA-Leitlinien analysiert und ergaben, dass Cannabis bei der Behandlung von Tremor im Zusammenhang mit SP10 wahrscheinlich unwirksam ist (29).
MS-Progression lässt sich ungleich den Tierstudien nicht verlangsamen Tierstudien, die die Fähigkeit der Cannabinoidbehandlung zur Verringerung der neuroinflammatorischen Infiltration sowie zur Gewährung einer Neuroprotektion (33, 34) belegen, haben das Interesse an der Untersuchung ihres potenziellen Nutzens bei MS beim Menschen geweckt. Frühe Studien zeigten auch, dass Cannabinoide den klinischen Verlauf verbessern, proinflammatorische T-Zellen herunterregulieren und die Remyelinisierung bei der durch Theilers murines Enzephalomyelitis-Virus (TMEV) ausgelösten demyelinisierenden Erkrankung der Maus, einem Modell für die progressiven Formen der MS, fördern können (35, 36). Das therapeutische Potenzial von Cannabis und Cannabinoiden hängt mit den multifunktionalen Fähigkeiten des Endocannabinoid-Rezeptorsystems zusammen, das neben entzündungshemmenden Effekten auch die Neuroprotektion, Regeneration und Remyelinisierung fördert (37, 38). Die Hoffnung, die in einer Vielzahl von In-vitro- und In-vivo-Versuchssystemen im ZNS-Gewebe beobachteten, reparationsfördernden Wirkungen auch bei menschlicher MS zu reproduzieren, hätte gleichzeitig auch die Möglichkeit eröffnet, neuropathologische Vorteile zu erzielen, die über die durch Immunsuppression allein vermittelte Linderung hinausgehen. Die Wirkung von Dronabinol (THC) auf die Progression der progressiven MS wurde in einem randomisierten, doppelblinden, parallelen und plazebokontrollierten Experiment untersucht (39). Die über 300 Patienten erhielten während 36 Monaten Dronabinol in einer Höchstdosis von 28 mg täglich oder ein Plazebo. Die Ergebnisse zeigten leider, dass Dronabinol keine allgemeine Wirkung auf das Fortschreiten der MS in der progressiven Phase hat. Bezüglich weiterer ähnlicher Studien zur Auswirkung von Cannabis bei der progressiven MS weisen die Autoren allerdings darauf hin, dass in ihrer Studie – wegen der geringeren Progressionsraten als erwartet – die Fähigkeit, klinische Veränderungen zu erkennen, möglicherweise beeinträchtigt war.
Zusammenfassung Die Wirksamkeit von Cannabis in der Behandlung von spastischen Bewegungsstörungen ist hinreichend wissenschaftlich belegt. Auch wenn sich in den RCT-Studien nicht immer ein signifikanter Wirkungsnachweis bezüglich Linderung von Spastik und Schmerzen durch die Einnahme von Cannabis messen lässt, so kommen die Metaanalysen doch zum Schluss, dass Cannabispräparate bei fast 50% der Patienten einen positiven Gesamteindruck hinterlassen (Plazebo nur 35%). Zudem finden sich Hinweise, dass Cannabis ebenfalls zu einer Verminderung des imperativen Harndrangs und von Inkontinenzepisoden führen kann. Unerwünschte Ereignisse traten in den Verumgruppen zwar häufiger auf, aber schwerwiegende unerwünschte Ereignisse waren selten, und die Cannabisprodukte wurden im Allgemeinen gut vertragen. In den meisten Studien wurde THC jeweils in durchschnittlichen Dosierungen zwischen 20 bis 25 mg/Tag, aufgeteilt auf mehrere Dosen, verwendet. Die Behandlung scheint nur bei etwa 50% der Patienten wirksam zu sein. Ob die Behandlung wirksam ist oder nicht, lässt sich meist erst innerhalb von 3 bis 4 Wochen feststellen.
8
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2023
FORTBILDUNG
Merkpunkte:
● Bezüglich Linderung von Spasmen und Schmerzen bei MS kommen Metaanalysen zum Schluss, dass Cannabispräparate bei fast 50% der Patienten einen positiven Gesamteindruck hinterlassen (Plazebo nur 35%).
● Unerwünschte Ereignisse treten in den Verumgruppen zwar häufiger auf, aber schwerwiegende unerwünschte Ereignisse sind selten, und die Cannabisprodukte werden im Allgemeinen gut vertragen.
● Die Behandlung scheint allerdings nur bei etwa 50% der Patienten wirksam zu sein. Ob die Behandlung wirksam ist oder nicht, lässt sich meist erst innerhalb von 3 bis 4 Wochen feststellen.
● Hinweise auf eine positive Wirkung von Cannabis auf die Krankheitsaktivität, das Fortschreiten der Behinderung bei MS oder gewisse Symptome wie Ataxie und Tremor fehlen.
Derzeit fehlen Hinweise auf eine Wirkung von Cannabis auf die Krankheitsaktivität, das Fortschreiten der Behinderung bei MS oder gewisse Symptome wie Ataxie und Tremor. Ebenso fehlen Studien, die Cannabis mit aktuellen Standardbehandlungen gegen MS vergleichen l
Korrespondenzadresse: Dr. med. Claude Vaney, Facharzt Neurologie FMH
Torstrasse 6 3930 Visp
E-Mail: claudevaney@gmail.com
Referenzen: 1. Beal JE et al.: Dronabinol as a treatment for anorexia associated with
weight loss in patients with AIDS. J Pain Symptom Manage. 1995;10(2):89-97. 2. Petro DJ et al.: Treatment of human spasticity with delta 9-tetrahydrocannabinol. J Clin Pharmacol. 1981;21:413-416. 3. Ungerleider JT et al.: Delta-9-THC in the treatment of spasticity associated with multiple sclerosis. Adv Alcohol Subst Abuse. 1987;7:39-50. 4. Meinck HM et al.: Effect of cannabinoids on spasticity and ataxia in multiple sclerosis. J Neurol. 1989;236:120-122. 5. Brenneisen R et al.: The effect of orally and rectally administered delta-9-tetrahydrocannabinol on spasticity: a pilot study with 2 patients. Int J Clin Pharmacol Ther. 1996;34:446-452. 6. Vaney C et al.: Efficacy, safety and tolerability of an orally administered cannabis extract in the treatment of spasticity in patients with multiple sclerosis: a randomized, double-blind, placebo-controlled, crossover study. Mult Scler. 2004;10(4):417-424. 7. Zajicek J et al.: Cannabinoids for treatment of spasticity and other symptoms related to multiple sclerosis (CAMS study): multicentre randomised placebo-controlled trial. Lancet. 2003;362(9395):15171526. 8. Killestein J et al.: The therapeutic value of cannabinoids in MS: real or imaginary? Mult Scler. 2004;10(4):339-340. 9. Rog DJ et al.: Oromucosal delta9-tetrahydrocannabinol/cannabidiol for neuropathic pain associated with multiple sclerosis: an uncontrolled, open-label, 2-year extension trial. Clin Ther. 2007; 29(9):2068-2079. 10. Wade DT et al.: Long-term use of a cannabis-based medicine in the treatment of spasticity and other symptoms in multiple sclerosis. Mult Scler. 2006;12(5):639-645. 11. Collin C et al.: Sativex spasticity in MS study group. Randomized controlled trial of cannabis-based medicine in spasticity caused by multiple sclerosis. Eur J Neurol. 2007;14(3):290-296. 12. h t t p s : / / w w w . s w i s s m e d i c . c h / s w i s s m e d i c / d e / h o m e / humanarzneimittel/authorisations/new-medicines/sativex---sprayzur-anwendung-in-der-mundhoehle--cannabis-sativa.html. Letzter Zugriff 16.8.23.
13. Filippini G et al.: Cannabis and cannabinoids for symptomatic treatment for people with multiple sclerosis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2022, Issue 5.
14. Nielsen S et al.: The use of cannabis and cannabinoids in treating symptoms of multiple sclerosis: a systematic review of reviews. Curr Neurol Neurosci Rep. 2018;18(2):8.
15. Whiting PF et al.: Cannabinoids for medical use. JAMA. 2015;313:2456-2473.
16. Torres-Moreno MC et al.: Assessment of efficacy and tolerability of medicinal cannabinoids in patients with multiple sclerosis: a systematic review and meta-analysis. JAMA Netw Open. 2018;1(6):e183485.
17. Comi G et al.: Evolving concepts in the treatment of relapsing multiple sclerosis. Lancet. 2017;389(10076):1347-1356.
18. Devane WA et al.: Isolation and structure of a brain constituent that binds to the cannabinoid receptor. Science 1992;258(5090):19461949.
19. Wilson RI et al.: Endogenous cannabinoids mediate retrograde signalling at hippocampal synapses. Nature 2001;410(6828):588592.
20. Maejima T et al.: Presynaptic inhibition caused by retrograde signal from metabotropic glutamate to cannabinoid receptors. Neuron. 2001;31(3):463-745.
21. Russo M et al.: Sativex in the management of multiple sclerosisrelated spasticity: role of the corticospinal modulation. Neural Plast. 2015;2015:656-582.
22. Novotna A et al.: A randomized, double-blind, placebo-controlled, parallel-group, enriched-design study of nabiximols (Sativex), as add-on therapy, in subjects with refractory spasticity caused by multiple sclerosis. Eur J Neurol. 2011 Sep;18(9):1122–31.
23. Flachenecker P et al.: Long-term effectiveness and safety of nabiximols (tetrahydrocannabinol/cannbidiol oromucosal spray) in clinical practice. European Neurology. 2014;72:95-102.
24. Lorenzini K et al.: Cannabinoides médicaux dans les douleurs chroniques. Aspects pharmacologiques. Rev Med Suisse. 2015;11:1290–4.
25. Vaney C: Le cannabis dans le traitement de la sclérose en plaques: possiblités et limites. RevMed Suisse. 2015;11:312-314.
26. Allan GM et al.: Systematic review of systematic reviews for medical cannabinoids: Pain, nausea and vomiting, spasticity, and harms. Can Fam Physician. 2018;64(2):e78-e94.
27. Foley PL et al.: Prevalence and natural history of pain in adults with multiple sclerosis: systematic review and meta-analysis, Pain. 2013;154:632-642.
28. Lynch ME et al.: Cannabinoids for the treatment of chronic noncancer pain: an updated systematic review of randomized controlled trials. J Neuroimmune Pharmacol. 2015;10:293-301.
29. Koppel BS et al.: Systematic review: efficacy and safety of medical marijuana in selected neurologic disorders: report of the guideline development subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology. 2014;82:1556-1563.
30. Jawahar R et al.: A systematic review of pharmacological pain management in multiple sclerosis. Drugs. 2013;73:1711-1722.
31. Turcotte D et al.: Nabilone as an adjunctive to gabapentin for multiple sclerosis-induced neuropathic pain: a randomized controlled trial. Pain Med 2015;16:149-159.
32. Rog DJ et al.: Randomized, controlled trial of cannabis-based medicine in central pain inmultiple sclerosis. Neurology. 2005;65:812-819.
33. Baker D et al.: Cannabinoid control of neuroinflammation related to multiple sclerosis. Br J Pharmacol. 2007;152:649-654.
34. Pryce G et al.: Cannabinoids inhibit neurodegeneration in models of multiple sclerosis. Brain. 2003;126:2191-2202.
35. Croxford JL et al.: Immunoregulation of a viral model of multiple sclerosis using the synthetic cannabinoid R+WIN55,212. J Clin Investig 2003;111:1231-1240.
36. Arévalo-Martín A et al.: Therapeutic action of cannabinoids in a murine model of multiple sclerosis. J Neurosci Off. J Soc Neurosci 2003;23:2511-2516.
37. Grotenhermen F et al.: The therapeutic potential of cannabis and cannabinoids. Dtsch Arztebl Int. 2012;109:495-501.
38. Rodrigues RS et al.: Cannabinoid actions on neural stem cells: implications for pathophysiology. Molecules. 2019;24:1350.
39. Zajicek J et al.: Effect of dronabinol on progression in progressive multiple sclerosis (CUPID): a randomised, placebo-controlled trial. Lancet Neurol. 2013;12:857-865.
10
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2023