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FORTBILDUNG
Cannabis bei chronischen Schmerzen – mehr als eine Option?
Chronische Schmerzen sind die häufigste Indikation für die Verschreibung von medizinischem Cannabis. Die Studienlage zu Medizinalcannabis bei chronischen Schmerzen ist insgesamt umfangreich, aber die Fallzahlen sind oft klein und die Aussagen variieren von «nicht empfohlen» bis zur «third-line treatment option». Die Klinik zeigt jedoch, dass die Patientinnen und Patienten von der Therapie mit Medizinalcannabis sehr profitieren und Analgetika wie Opioide reduziert werden können.
Foto: zVg
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Petra Hoederath Claude Vaney
von Petra Hoederath1 und Claude Vaney2
Chronischer Schmerz Chronische, nicht krebsbedingte Schmerzen gehören zu den häufigsten chronischen Krankheiten der westlichen Bevölkerung, und ihre geschätzte Prävalenz in Europa beträgt zwischen 12 und 30% (1, 2). Chronischer Schmerz gilt als eigenständige Schmerzerkrankung, die keine biologische Warnfunktion hat und weitgehend unabhängig von seinem Auslöser besteht. Als chronischer Schmerz wird Schmerz bezeichnet, der über einen Zeitraum von 3 oder mehr Monaten andauert oder wiederkehrt (3). Die Daten aus der Schweiz sind limitiert: Eine telefonische Umfrage unter der Schweizer Bevölkerung (Durchschnittsalter 48 Jahre) ergab eine Prävalenz von 16% (4). Darüber hinaus nimmt die Prävalenz von nicht krebsbedingtem chronischen Schmerz mit dem Alter zu (5).
Medizinalcannabis bei älteren Patienten Als Folgen von Schmerz im höheren Alter können Schmerzchronifizierung, Verzögerung des Genesungsverlaufs, sowie psychische Beeinträchtigungen auftreten (6). Eine nicht ausreichende Schmerzkontrolle kann zum Verlust von Autonomie, zu sozialen Beeinträchtigungen, Schlafstörungen, Depression und Angst führen (6). Die Schmerztherapie von chronischen, nicht krebsbedingten Schmerzen ist unter anderem bei vulnerablen Patientengruppen, wie beispielsweise betagten, multimorbiden und/oder polymedizierten Patienten nicht nur besonders häufig, sondern auch eine grosse Herausforderung: Aufgrund eingeschränkter Organfunktionen,
1 Fachärztin für Neurochirurgie, SPS Schmerzspezialistin, Hirslanden Klinik Stephanshorn
2 Facharzt für Neurologie FMH, Visp
beinträchtiger Kognition, möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen und Interaktionen stehen nur limitierte Therapieoptionen zur Verfügung (7). Neben der Therapie der chronischen Schmerzen zeigt sich zudem, dass Medizinalcannabis positive Effekte auf andere (altersbezogene) Symptome (Schlaf, Reizbarkeit, Muskelverspannung etc.) hat und teilweise auch zu einer Opiatreduktion führen kann (8).
Studienlage Chronische Schmerzen sind weltweit die häufigste Indikation für die Verschreibung von medizinischem Cannabis (9). Die Evidenz für den Einsatz von Medizinalcannabis bei chronischen Schmerzen ist jedoch begrenzt: In einer systematischen Review von 2017 kommen Aviram et al. zum Schluss, dass Medizinalcannabis bei der Behandlung chronischer Schmerzen wirksam sein könnte. Allerdings traten bei der oralen/ oromukosalen Verabreichung häufiger gastrointestinale Nebenwirkungen auf als bei der Inhalation (10). In der Publikation von Häuser et al. zeigte sich ausserdem, dass Studien mit Medizinalcannabis oft klein und von begrenzter Qualität sind, was dazu führt, dass die Ergebnisse bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit inkonsistent sind (11). Grotenhermen et al. fanden für die Jahre 1975 bis 2015 insgesamt 35 kontrollierte Studien mit 2046 Patienten mit chronischen und neuropathischen Schmerzen, bei denen die Autoren die Verordnung cannabisbasierter Medikamente als etabliert ansahen (12). Diese Ergebnisse widerspiegeln möglicherweise auch die hohe Komplexität einer Therapie chronischer Schmerzen mit Cannabis-Arzneimitteln. Auf das «Cannabis-Dilemma» wird im Editorial ausführlich eingegangen. Gemäss aktuellem Wissensstand respektive der vorhandenen Literatur kann eine Cannabismedikation nicht als
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First-Line-Behandlung empfohlen werden. Jede Anwendung ist zum aktuellen Zeitpunkt als ein individueller Therapieversuch zu betrachten, wenn die Guidelinekonforme Behandlung nicht wirksam ist oder aufgrund von Nebenwirkungen nicht vertragen wird (SGCM). Per 1. August 2022 wurde das Verbot von Cannabis zu medizinischen Zwecken im Schweizerischen Betäubungsmittelgesetz aufgehoben. Für die Behandlung mit Cannabisarzneimitteln braucht es vom BAG keine Ausnahmebewilligung mehr; die Therapiefreiheit wird gewährleistet und die Verantwortung für die Behandlung liegt ausschliesslich bei den Ärztinnen und Ärzten.
Entzündungshemmende, krampflösende und analgetische Wirkung von Medizinalcannabis Verwendet werden in der Schweiz je nach Symptomatik und pathophysiologischer Ursache sowohl Dronabinol-Präparate, als auch Cannabisextrakte mit unterschiedlichen Verhältnissen von THC zu CBD. THC ist ein dualer CB1-Rezeptor- und CB2-Rezeptor-partieller Agonist, der über beide Rezeptortypen entzündungshemmende, krampflösende und analgetische Wirkungen vermittelt. Im Gegensatz zu THC hat CBD eine geringe Affinität zu den Cannabinoid-Rezeptoren und wirkt polypharmakologisch über die Modulation von Calziumkanälen, GPR55 und transienten Rezeptor-PotenzialKationenkanälen wie TRPV1, sowie über die Modulation von Adenosin-vermittelten Signalwegen. Dies äussert sich dosisabängig in einer antikonvulsiven, antiinflammatorischen und anxiolytischen Wirkung.
Synergismus mit Opioiden Cannabinoide können den analgetischen Effekt von Opioiden verstärken (13). Verantwortlich ist hierfür eine enge Verbindung des Endocannabinoid- und Opioidrezeptorsystems, die auf molekularer Ebene belegt werden konnte (14). Es können Opioide eingespart und damit Medikamentennebenwirkungen reduziert werden (15). Neben Schmerzreduktion können Co-Analgetika verrngert und Begleitsymptome wie z. B. die Schlafstörung verbessert werden (15, 16). Auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität, sowie Angst und Depression besserten sich unter der Cannabinoidgabe (16). Die Tilray Observational Patient Study mit mehr als 1100 Patienten zeigte neben der Verbesserung der Lebensqualität unter der Therapie mit Medizinalcannabis auch eine Reduktion von Co-Analgetika und bis zu 78% bei Opioiden (18). In manchen Fällen konnten die Opioide sogar abgesetzt werden. Noori et al. (19) fand hingegen einen geringen bis keinen opioidsparenden Effekt, besonders bei chronischen Tumorpatienten, und ein leicht erhöhtes Risiko für Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkung.
Empfohlene Dosierungen für Patienten mit chronischen Schmerzen Da es keine wissenschaftlich begründeten Angaben zur Dosis oder Wahl der Präparate gibt, ist eine individuelle Dosisfindung unter strikter Kontrolle der Verträglichkeit, des Effekts und der möglichen Nebenwirkungen notwendig. Ob eine regelmässige oder punktuelle Einnahme einen besseren Effekt zeigt, muss individuell evaluiert werden.
Empfohlener Behandlungsalgorithmus
NEUROPATHISCHE SCHMERZEN
→→
→→
→
Indikationsstellung erfolgt? (Treede et al. Neurology 2008;
Finnerup et al. Pain 2016) ja
Topische Standard-Behandlung und nicht-medikamentöse Optionen:
• Lidocain 5% Pflaster oder Capsaicin 8% Pflaster • Entspannungsverfahren/Edukation • TENS (transcut. elektr. Nervenstimulation)
unwirksam Medikamentöse/interventionelle Behandlung gemäss aktuellen Guidelines:
• Pregabalin/Gabapentin • Tri-, tetrazyklische Antidepressiva, Duloxetin
(diabetische Neuropathie)
• Carbamazepin
(1. Wahl bei Trigeminusneuralgie)
• Opioide (3. Wahl) • Epidurale Rückenmarksstimulation/SCS • Botulinumtoxin
unwirksam
Patient/Patientin > 18 Jahre Keine Kontraindikationen ja
1. Kombinationspräparat mit THC und CBD (oral) 2. Reines THC-Präparat (oral), oder 3. Reines CBD-Präparat (THC-frei; oral)
nein
→ Diagnostik!
wirksam Konventionelle Therapie
→ beibehalten
wirksam Konventionelle Therapie
→ beibehalten
CAVE bezüglich
Medizinalcannabis
• Sorgfältige und enge
Indikationsstellung
nein
• Abwägung Nutzen-
Risiko-Verhältnis
→
• Regelmässige Re-
Evaluation
Alternative
→
Anderes Präparat als 2. Versuch
ungenügende Wirksamkeit/ Nebenwirkungen Therapiestopp
→
Wirksamkeit Weiterführung, Anfrage für
Kostengutsprache
AAbbb. b1:ilFdluussndgia:gTrahmemrazupmieEeinmsaptzfevohnluMnedgizninealucarnonpaabitshbiesicnheuerropSacthhimscheernzSdchemr eSrczehnweizer Gesellschaft 3 für Cannabis in der Medizin (SGCM) (Grafik: Dr. Petra Hoederath, 2022 Vorstandsmitglied SGCM)
Mögliches Dosierungsschema
THC: Start mit tiefer Dosis («start low – go slow») (mit/ohne CBD) initial 1- bis 3-mal täglich 1–2,5 mg THC p.o., Steigerung alle 2–3 Tage je nach Verträglichkeit bis zum gewünschten Effekt, max. 50 mg THC/Tag. Im Fall einer reinen Bedarfsmedikation: Einzeldosis 1–2,5 mg THC initial.
CBD: Initial 1- bis 3-mal täglich 2,5– mg CBD p.o., Steigerung alle 2–3 Tage um mehrere mg (ohne THC) CBD je nach Verträglichkeit bis zum gewünschten Effekt, Therapieevaluation bei fehlender Wirkung mit Tagesdosen bis 100 mg CBD. Im Fall einer reinen Bedarfsmedikation: Einzeldosis 2,5–5 mg CBD initial.
Kombinationen aus THC und CBD bieten zudem die Möglichkeit die Behandlung an die im Vordergrund stehende Symptomatik anzupassen. So kann man z. B. bei Schlafstörungen den CBD-Anteil und bei Schmerzen den THC Anteil erhöhen.
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Merkpunkte:
● Chronische, nicht-krebsbedingte Schmerzen gehören zu den häufigsten chronischen Krankheiten der westlichen Bevölkerung und sind weltweit die häufigste Indikation für die Verschreibung von medizinischem Cannabis.
● In der «Multimodalen Schmerztherapie» sollte Medizinalcannabis berücksichtigt werden.
● Derzeit gibt es keine Indikation für THC/CBD als First Line Therapie.
Was gilt es sonst noch zu bedenken? Patienten mit chronischen Schmerzen erhalten meist bereits starke Analgetika wie Opioide und Co-Analgetika (Antiepileptika/Antidepressiva). Zu beachten sind mögliche Kontraindikationen, Nebenwirkungen, Interaktionen und Informationen zur Verkehrsteilnahme. Trotz einer Vielzahl von Literatur haben wir sehr inhomogene Daten, und die Guidelines geben nur eine schwache Empfehlung (20). Die aktuellen Studien bilden jedoch nicht die ganze klinische Realität ab. Während Ärzte und chronisch erkrankte Patienten von den positiven Wirkungen von Cannabis berichten, kann die evidenzbasierte Medizin in den meisten Fällen diese Erfahrungen nicht erklären. l
Korrespondenzadresse: Dr. med. Petra Hoederath Fachärztin FMH für Neurochirurgie
SPS Schmerzspezialistin Hirslanden Klinik Stephanshorn
Brauerstrasse 95 9016 St.Gallen
E-Mail: petra.hoederath@hirslanden.ch
Referenzen: 1. Breivik H et al.: Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact
on daily life, and treatment. European journal of pain. 2006;10(4):287333. 2. Reid KJ et al.: Epidemiology of chronic non-cancer pain in Europe: narrative review of prevalence, pain treatments and pain impact. Current medical research and opinion. 2011;27(2):449-462. 3. Treede et al.: Chronic pain as a symptom or a disease: the IASP Classification of Chronic Pain for the International Classification of Diseases (ICD-11). Pain. 2019 Jan;160(1):19-27. 4. Oggier W: Volkswirtschaftliche Kosten chronischer Schmerzen in der Schweiz – eine erste Annäherung. Schweizerische Ärztezeitung 2007;88(29/30):1265-1269. 5. Schuler M et al: Schmerztherapie beim älteren Patienten; De Gruyter, 2016. 6. Bruhn C: Einsatzmöglichkeiten von medizinischem Cannabis in der Geriatrie. Schmerzmedizin 2023; 39 (S1). 7. Ali A et al.: Managing chronic pain in the elderly: an overview of the recent therapeutic advancements. Cureus. 2018;10(9):e3293. 8. Gastmeier et al.: Cannabinoide reduzieren den Opioidverbrauch bei älteren Schmerzpatienten. Der Schmerz. 2023;37:29-37. 9. Bilbao A et al.: Medical cannabinoids: a pharmacology-based systematic review and meta-analysis for all relevant medical indications. BMC Med. 2022;19;20(1):259. 10. Aviram J et al.: Efficacy of cannabis-based medicines for pain management: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Pain Physician. 2017;20(6):E755-E796. 11. Häuser W et al.: Efficacy, tolerability and safety of cannabis-based medicines for chronic pain management - an overview of systematic reviews. Eur J Pain. 2018 Mar;22(3):455-470. 12. Grotenhermen F et al.: in DGS Praxis Leitlinien Schmerzmedizin: Cannabis in der Schmerzmedizin, V1.0. 2018. www.dgspraxisleitlinien.de. Letzter Zugriff: 27.9.23. 13. Babalonis S et al.: Therapeutic potential of opioid/cannabinoid combinations in humans: Review of the evidence. Eur Neuropsychopharmacol 2020;36:206-216. 14. Bushin I et al.: Dimerization with cannabinoid receptors allosterically modulates delta opioid receptor activity during neuropathic pain”, PLoS One 2012;7:e49789. doi:10.1371/journal.pone.0049789. 15. Wendelmuth et al.: Dronabinol bei geriatrischen Schmerz- und Palliativpatienten. Schmerz. 2019;33:384-391. 16. Weber J et al.: Tetrahydrocannabinol (delta 9-THC) treatment in chronic central neuropathic pain and fibromyalgia patients: results of a multicenter survey. Anesthesiol res Pract 2009. pii:827290. 17. Maguire DR et al.: Impact of efficacy at the ?-opioid receptor on antinociceptive effects of combinations of ?-opioid receptor agonists and cannabinoid receptor agonists. J Pharmacol Exp Ther. 2014;351:383-389. 18. Lucas P et al.: Cannabis significantly reduces the use of prescription opioids and improves quality of life in authorized patients: results of a large prospective study. Pain Med 2021,22:727-739. 19. Noori A et al.: Opioid-sparing effects of medical cannabis or cannabinoids for chronic pain: a systematic review and metaanalysis of randomised and observational studies BMJ Open. 2021;11(7):e047717.doi: 10.1136/bmjopen-2020-047717. 20. Busse JW et al.: Medical cannabis or cannabinoids for chronic pain: a clinical practice guideline: BMJ. 2021;374:n2040. doi: 10.1136/bmj. n2040.
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