Transkript
FORTBILDUNG
Cannabinoide: Rauschkonsum und medizinische Anwendung
Es ist gut belegt, dass das Risiko für das Auftreten psychischer Erkrankungen durch den Gebrauch von Cannabisprodukten signifikant steigt. Demgegenüber steht die Verschreibung von medizinischen Cannabisprodukten, die im Jahr 2017 in Deutschland gesetzlich neu geregelt wurde. Seitdem sind eine Reihe von Fertigarzneimitteln, Blüten und Vollextrakten auf dem Markt. Die Einsatzmöglichkeiten bieten Chancen, erfordern aber eine ausführliche Beratung und Aufklärung der Betroffenen sowie eine individuelle Bewertung der Risiken.
Foto: zVg
Foto: zVg
Ulrich W. Preuss Jessica WM Wong Eva Hoch
von Ulrich W. Preuss1, Jessica WM Wong2 und Eva Hoch3
L aut der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) konsumieren etwa 22,6 Millionen Bürger der Europäischen Union im Alter von 15 bis 64 Jahren Cannabis zu Rauschzwecken, etwa drei Millionen (zirka 1% im Vergleich zur Gesamtbevölkerung) haben eine Konsumstörung (schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit) (1). Schätzungen der EMCDDA zufolge konsumieren rund 1,3% der Erwachsenen in der Europäischen Union (3,7 Millionen Menschen) täglich oder fast täglich Cannabis. Wie ein Mensch auf den Rauschkonsum von Cannabis psychisch und physiologisch reagiert, ist individuell sehr variabel. Wissenschaftlich belegt sind erhöhte Risiken für kognitive Störungen, Einbussen im Bildungserfolg, Psychosen, Depressionen, bipolare Störungen, Angsterkrankungen sowie psychische und körperliche Abhängigkeiten im Zusammenhang mit Cannabis. Faktoren wie das Alter bei Erstkonsum die Dauer, die Menge und die Art des konsumierten Cannabis sowie eine individuelle Vulnerabilität spielen dabei eine Rolle (2). Andererseits sind Cannabinoide in unterschiedlicher Darreichungsform (Blüten, Fertigarznei, Sprays) seit einigen Jahren in Deutschland und auch international, etwa in einigen Bundesstaaten der USA, als Medikamente zur Behandlung einer breiten Palette von psychischen und somatischen Störungen zugelassen (3, 4). Das Ziel dieser narrativen Übersichtsarbeit ist es, das Spannungsfeld von einerseits Cannabisprodukten als
1 RKH Ludwigsburg und Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg, Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Ludwigsburg und Halle/Saale
2 Klinikum Schömberg, Schömberg 3 IFT Institut für Therapieforschung; Leitung der
Forschungsgruppe Cannabis, München
Mittel zum Rauschkonsum und andererseits Cannabinoiden als Medikament darzustellen. Zunächst werden Risikofaktoren für Konsumstörungen und assoziierte psychische Erkrankungen durch den Rauschkonsum zusammengefasst; im zweiten Teil wird die vorhandene Evidenz von Cannabinoiden als Medikamente für die Behandlung von psychischen Störungen dargestellt.
Epidemiologie von Rauschkonsum und Konsumstörung: Aktuelle Zahlen Cannabis ist seit vielen Jahren die am weitesten verbreitete Droge weltweit. Im Jahr 2021 konsumierten mehr als 4% der weltweiten Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren (209 Millionen Menschen) Cannabis (5). Die Prävalenz des Cannabiskonsums im vergangenen Jahr stieg um 8% im Vergleich zu 3,8% im Jahr 2010. Dies ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu Zahlen aus dem Jahre 2010 (mit 170 Millionen Konsumenten). Im Vergleich zu Erwachsenen war die Prävalenz des Cannabiskonsum in der Risikogruppe der Jugendlichen höher (5,8% bei den 15- bis 16-Jährigen) (5). Laut der europäischen Beobachtungsstelle (European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA) (1) wurde der Cannabiskonsum in der EU-Bevölkerung im Alter von 15 bis 34 Jahren auf 15,1% (15,3 Millionen Personen) geschätzt, wobei Männer in der Regel doppelt so häufig konsumieren wie Frauen. Von den 15- bis 24-Jährigen konsumierten schätzungsweise 18,2% (8,6 Millionen Personen) Cannabis im vergangenen Jahr und 9,6% (4,5 Millionen) im letzten Monat. Es wird geschätzt, dass etwa 1,3% (3,7 Millionen) der Erwachsenen (im Alter von 15 bis 64 Jahren) täglich oder fast täglich Cannabis konsumieren (d. h. die Droge während des letzten Monats an 20 Tagen oder öfter). Unter den 15- bis 34-Jährigen konsumieren schätzungsweise 2,1% (2,1 Millionen) täglich oder fast täglich Cannabis.
38
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2023
Foto: zVg
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Geschlechtsspezifische 12-Monatsprävalenzen der Cannabiskonsumstörungen im Zeitraum 1997–2018
(95%-Konfidenzintervall; nach [2])
Männer Missbrauch (DSM-IV) Abhängigkeit (DSM-IV) Frauen Missbrauch (DSM-IV) Abhängigkeit (DSM-IV)
1997 2000 2006 2012 2018
0,7 (0,4–1,2) 0,7 (0,4–1,1)
nicht bekannt 1,2 (0,9–1,7) 0,5 (0,3–0,8) 0,7 (0,5–1,0)
0,8 (0,6–1,2) 0,7 (0,5–1,0) 0,8 (0,5–1,1) 0,9 (0,6–1,3)
0,3 (0,2–0,7) 0,1 (0,0–0,4)
nicht bekannt 0,2 (0,1–0,4) 0,2 (0,1–0,4) 0,3 (0,2–0,6)
0,2 (0,1–0,4) 0,4 (0,3–0,6) 0,2 (0,1–0,4) 0,3 (0,2–0,5)
Rund drei Viertel davon sind Männer, und die Mehrheit (57%) ist jünger als 35 Jahre. In Deutschland wird die 12-Monatsprävalenz des Cannabiskonsums bei 18- bis 64-Jährigen in der Allgemeinbevölkerung auf 6,1% geschätzt. Das entspricht rund 3,1 Millionen Cannabiskonsumenten/-innen (6). Demnach ist Cannabis auch in Deutschland die am häufigsten konsumierte «illegale» Substanz. Von den 12- bis 17-Jährigen haben 10,4%, von den 18- bis 25-Jährigen 46,4% Cannabis zumindest einmal konsumiert (Drogenaffinitätsstudie BzGA 2020) (7). Auch durch die Coronapandemie war der Rauschkonsum von Cannabinoiden grösstenteils unbeeinträchtigt und hat bei einem nicht geringen Prozentsatz der Jugendlichen und Erwachsenen sogar etwas zugenommen (8).
Cannabisbezogene Störungen Unter dem Begriff «cannabisbezogene Störungen» (Cannabis use disorders, CUD) werden alle Erkrankungen und Störungsbilder erfasst, die mit dem Cannabiskonsum assoziiert sind (Kasten 1) (9). Es handelt sich um Risikozusammenhänge; eine Kausalität (Ursächlichkeit) kann daraus allerdings nicht abgeleitet werden. So ist die Grenze zwischen Folgeschäden und ebenfalls mit erhöhtem Risiko auftretenden psychischen Komorbiditäten fliessend. Es gibt jedoch einige Hinweise darauf, dass eine Reihe von psychischen Komorbiditäten und manche Folgeschäden erst dann auftreten, wenn regelmässiger Cannabiskonsum auf eine individuelle Disposition zur psychischen (und/oder somatischen) Komorbidität trifft. Schädlicher Konsum und Abhängigkeit als klinisch relevante Diagnosen treten bei etwa 9 bis 10% aller regelmässigen Konsumenten auf. Im Rahmen einer Cannabisabhängigkeit wird auch das Cannabisentzugssyndrom (F12.3) beobachtet. Ausserdem können mittel- und langfristig Flashbacks und das amotivationale Syndrom entstehen, das klinisch beobachtet wurde, aber bislang nicht ausreichend erforscht ist (2).
Folgen für die psychische Gesundheit Die Hauptschäden von Cannabis liegen in dessen Wirkung auf die psychische Gesundheit. Dass Cannabis gesundheitliche Schäden im psychischen Bereich auslösen kann, ist unbestritten (10), auch wenn das Ausmass eines einmaligen oder chronischen und regelmässigen Cannabiskonsums, etwa in Bezug auf die kurzund langfristigen kognitiven Defizite (darunter Gedächt-
Kasten 1:
Cannabis-bezogene Störungen (BfArm 2022) (24)
Zu den Cannabis-bezogenen Störungen (CUD) zählen laut ICD-10 und -11 (9) ● akute Intoxikationen (ICD-10: F12.0; ICD-11: 6C41.3) ● Intoxikationspsychosen (nach DSM 5, ICD-11: 6C41.6) ● schädlicher Konsum (ICD-10: F12.1; ICD-11: 6C41.1) ● Abhängigkeit (ICD-10: F12.2; ICD-11: 6C41.2).
nis, räumliches Vorstellungsvermögen, Konzentration und Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen) kontrovers diskutiert wird (2).
Folgen für die Kognition Studien weisen auf akute Veränderungen von kognitiven Leistungen bei regelmässigen Cannabiskonsumenten hin, die bei Erwachsenen mit Konsumbeginn im Erwachsenenalter möglicherweise umkehrbar sind, bei Personen mit regelmässigem Gebrauch im Kindes- und Jugendalter aber dauerhafte Einschränkungen zur Folge haben könnten. Im Zusammenhang mit diesem regelmässigen Cannabiskonsum kann auch ein amotivationales Syndrom beobachtet werden, bei dem der Antrieb und Motivationalität deutlich eingeschränkt ist (10). Eine ältere Metaanalyse berichtete über leichte negative Effekte auf das Lernvermögen und auf das Gedächtnis bei nicht abstinenten, gewohnheitsmässig konsumierenden Erwachsenen (11). Diese Effekte waren auch nach mindestens 24-stündiger Abstinenz nachweisbar. Die Aufmerksamkeit und die Reaktionsgeschwindigkeit waren im Vergleich nicht beeinträchtigt. Eine weitere, etwas aktuellere Metaanalyse liefert ebenfalls Belege für leichte, globale kognitive Einschränkungen bei Erwachsenen, die akut Cannabis konsumiert hatten (12). Im Vergleich zu abstinenten Personen waren bei Cannabiskonsumenten folgende Bereiche leicht eingeschränkt: abstraktes Denken, exekutive Funktionen, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit, Lernvermögen und weitere psychomotorische Funktionen. Diese Unterschiede waren nach mindestens 1-monatiger Abstinenz allerdings nicht mehr nachweisbar. Die Effekte sind somit bei Erwachsenen möglicherweise reversibel. Forschungen zum Cannabisgebrauch bei Jugendlichen deuten an, dass insbesondere bei einem frühen Beginn und regelmässigem Konsum in der Kind-
5/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
39
FORTBILDUNG
Kasten 2:
Welche Cannabismedikamente können verschrieben werden?*
Der Arzt oder die Ärztin kann unterschiedliche Arten von Cannabis-Mitteln verordnen: ● Die Wirkstoffe Nabilon und Nabiximols gibt es als Fertigmedikamente in der
Apotheke, als Kapseln beziehungsweise als Mundspray. ● Der Wirkstoff Dronabinol steht in Deutschland als sogenanntes Rezepturarznei-
mittel zur Verfügung. Das Mittel wird also für den Patienten persönlich in der Apotheke zubereitet, meist als ölige Tropfen zum Einnehmen. ● Vollextrakte: Zubereitungen der ganzen Cannabispflanze, sogenannte Vollspektrum-Präparate (Cannabisblüten, Vollspektrumextrakte), die in unterschiedlicher Kombination und Dosierung von THC/CBD angeboten werden. Es handelt sich ebenfalls um Rezepturarzneimittel, die in der Apotheke zubereitet werden. ● Des Weiteren gibt es Medizinal-Hanf in Form von getrockneten Blüten oder Pflanzen-Extrakt. Beides muss erhitzt werden, damit die Inhaltsstoffe wirken. Dafür eignet sich ein Verdampfer.
Quelle: mod. nach 21, 16 * Regelungen für die Schweiz: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/medizin-und-forschung/heilmittel/med-anwend-cannabis/gesetzesaenderungcannabisarzneimittel.html
heit oder in der Adoleszenz die kognitiven Einschränkungen auch nach 4-wöchiger Abstinenz nicht reversibel sind. Darüber hinaus konnten überdauernde leichte bis moderate Defizite in den Bereichen der psychomotorischen Geschwindigkeit, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Planungsfähigkeit belegt werden (13).
Psychoserisiko Der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum, Konsumstörungen und Psychoserisiko wird seit vielen Jahren diskutiert. Insbesondere die gegenseitige Beziehung von Abhängigkeitserkrankung und Psychose wird untersucht. Unstrittig ist, dass früher, regelmässiger, langandauernder und hochdosierter Konsum von Cannabinoiden das Risiko für psychotische Symptome erhöht, häufig in Kombination mit anderen Stressoren wie Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit oder einer Familienanamnese von psychotischen Erkrankungen und erneut bei einem Konsumbeginn und regelmässigem Konsum während der Adoleszenz. Eine Metaanalyse mit zehn eingeschlossenen Studien und rund 66 000 untersuchten Personen bezifferte das Risiko für Cannabiskonsumenten, eine Psychose zu entwickeln, auf eine Odds Ratio (OR) von 1,97. Das ist etwas höher als das Risiko für Depressionen, bipolare Erkrankungen oder Angsterkrankungen (18, 14). Zudem zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Intensität des Konsums (OR: 3,4). Beginnt der Gebrauch in der Adoleszenz, führt dies zu einer zeitlichen Vorverlagerung des Erkrankungsalters von Psychosen um 2,7 Jahre (19, 15). Bei Personen mit psychotischen Erkrankungen ist die Rate von Cannabiskonsumstörungen mit 39 bis 45% Doppeldiagnosen durchgehend signifikant erhöht, insbesondere bei jungen Patienten. Ausserdem wird bei den Betroffenen von einer erhöhten Ausprägung der Positivsymptome, von häufigeren und längeren Klinikaufenthalten und einem mindestens zweifach erhöhten Rückfallrisiko berichtet (10).
Cannabinoide als Medikamente: Das deutsche Gesetz zur Verschreibung von Cannabisarznei Die rechtliche Grundlage zur Verwendung von Cannabinoiden als Medikamente (Verschreibungsmöglichkeiten von Cannabisarzneimitteln in Form von Medizinalhanf und Cannabisextrakten) wurde über das «Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften» eingeleitet, das am 10. März 2017 in Kraft getreten ist. Es beinhaltet eine Reihe von Änderungen in einschlägigen Gesetzen und Verordnungen (z. B. des Betäubungsmittelgesetzes [BtMG], der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung [BtMVV] und des fünften Sozialgesetzbuchs [Deutsches SGB V]). Der Gesetzgeber war dabei bestrebt, den medizinisch wie ordnungspolitisch wenig sinnvollen Eigenanbau von Cannabispflanzen zu vermeiden, um Cannabinoide zur Linderung von Symptomen und Erkrankungen verwenden zu können (22, 17). Ergänzungen im SGB V (§ 31, Absatz 6) regeln den Anspruch von gesetzlich Versicherten auf eine Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen (23, 18). Demnach haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf die Versorgung mit medizinischem Cannabis, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung l nicht zur Verfügung steht oder l im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der
behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen l und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung l kommen kann, und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Überblick zu medizinischem Cannabis in Deutschland In Deutschland ist derzeit eine Reihe von Fertigarzneimitteln auf Cannabisbasis zugelassen, die auf Betäubungsmittelrezept verordnet werden können (4, 22, 17). Nabiximols als Mundspray (Sativex®, THC und CBD im Verhältnis 1:1), mit der speifischen Zulassung für die Zusatzbehandlung von Spastik bei Multipler Sklerose. Nabilon als synthetisches THC-Analogon ist zur Behandlung von chemotherapieinduziertem Erbrechen zugelassen.
Rezepturarzneimittel Eine Reihe von Cannabisblüten und Vollextrakten sind ebenfalls in Deutschland zugelassen. Je nach Verabreichungsform unterscheidet sich die Pharmakologie der Plasmakonzentration von THC und Derivaten. Dabei handelt es sich um Phytocannabinoide, die aus (standardisiert angebauten) Hanfpflanzen gewonnen werden. Die Palette der angebotenen Extrakte und Blüten ist je nach Anbieter variabel und ändert sich ständig. Damit ist auch die aktuelle Aufstellung nicht in jeder Apotheke verfügbar. Eine Absprache mit der jeweils dispensierenden Apotheke ist bei Verordnung von spezifischen Cannabisprodukten empfehlenswert (4).
40
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2023
FORTBILDUNG
Vollspektrumextrakte Nach Auskunft von Apotheken handelt es sich bei den sogenannten Vollspektrumextrakten um Produkte, die neben den beiden Hauptwirkstoffen THC und CBD auch alle weiteren Cannabiswirkstoffe enthalten wie beispielsweise Terpene. Sie sind typischerweise auf den THC- und/oder CBD-Gehalt standardisiert. Die Hersteller werben mit einer besseren Wirksamkeit der Vollextrakte gegenüber wirksamkeitsbestimmenden Reinsubstanzen wie Dronabinol. Sogenannte standardisierte Vollspektrum-Cannabisextrakte sind arzneimittelrechtlich bisher nicht zugelassen. Sie liegen als Rezepturarzneimittel vor und werden von mehreren Firmen in unterschiedlichen Verhältnissen und Dosierungen von THC und CBD angeboten. Im Gegensatz zu den Blüten, die geraucht oder mit einem Verdampfer inhaliert werden müssen, sind diese Produkte für die orale Anwendung gedacht. Es handelt sich um Tropfen zum Einnehmen, die ein Rezepturarzneimittel darstellen.
Ergebnisse Kohortenstudie Entsprechend der gesetzlichen Vorgaben in Deutschland wurde über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zwischen April 2017 und März 2022 eine Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimittelverordnungen durchgeführt. Die Erhebung umfasste Cannabisarzneimittel, die gesetzlich Versicherten nach Genehmigung der Krankenkassen verschrieben wurden und die zur Behandlung der bestehenden Erkrankung bzw. Symptomatik als Fertigarzneimittel zugelassen waren (24, 18). Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Verpflichtung für Ärztinnen und Ärzte, an der Begleiterhebung teilzunehmen, wurden im Jahr 2022 16 809 vollständige Datensätze in die Endauswertung einbezogen. Mit Cannabisarzneimitteln behandelte Patientinnen und Patienten waren im Durchschnitt 57 Jahre alt, in gut 54% der Fälle weiblich (rund 46% männlich). Bei der Behandlung mit Cannabisblüten lag das Durchschnittsalter bei 45,5 Jahren, mehr als zwei Drittel der Behandelten waren männlich. In mehr als drei Viertel aller Fälle (76,4%) wurden Cannabisarzneimittel zur Behandlung chronischer Schmerzen verschrieben. Weitere häufig behandelte Symptome waren Spastik (9,6%), Anorexie/ Mangelernährung (5,1%) und Übelkeit/Erbrechen (2,2%). In 14,5% der Fälle lag eine Tumorerkrankung, in 5,9% eine Multiple Sklerose vor. Nach deren Angaben verordnen Ärztinnen und Ärzte der hausärztlichen Versorgung am häufigsten Cannabisarzneimittel. Die Verordnung von Cannabisblüten dürfte allerdings in der Praxis einen deutlich höheren Anteil ausmachen. Nach Patientenangaben ist in nahezu 75% der Fälle durch die Anwendung von Cannabisarzneimitteln eine Besserung der Symptomatik zu erreichen. Nebenwirkungen waren häufig, aber in der Regel nicht schwerwiegend. Müdigkeit und Schwindel (insbesondere bei Frauen) traten sehr häufig auf. In einem Drittel der Fälle wurde die Therapie vor Ablauf eines Jahres abgebrochen, hauptsächlich aufgrund fehlender Wirkung (38,5%). In 25,9% waren Nebenwirkungen der Abbruchgrund, in 20,2% das Versterben der Patientin bzw. des Patienten. In 70% der Fälle wurde eine Besserung der Lebensqualität berichtet. Mit Cannabisblüten behan-
delte Patientinnen und Patienten bewerten den Therapieerfolg grundsätzlich höher, brechen die Therapie seltener ab und geben seltener Nebenwirkungen an. Lediglich die Nebenwirkung «Euphorisierung» wird dreimal häufiger berichtet als bei den anderen Cannabisarzneimitteln.
Nebenwirkungen und Kontraindikationen Eine Kontraindikation bei der Verordnung sollte bei anamnestischen Hinweisen auf Alkohol- und Substanzkonsumstörungen sowie Psychosen gelten sowie bei psychotischen Erkrankungen innerhalb von erstgradigen Familienangehörigen (4, 10). Ebenso können die kardiovaskulären Wirkungen das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen (insbesondere Myokardinfarkte) bei entsprechend veranlagten Personen erhöhen. Aus Untersuchungen mit Nabiximols und Dronabinol im Vergleich zu Plazebo liessen sich folgende Nebenwirkungen für Cannabinoide finden (3, 4): sehr häufig (> 10%) traten Schwindel und Müdigkeit auf, häufig (> 1%) reduzierter oder erhöhter Appetit, Gleichgewichts-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, Depression, Desorientierung, Euphorie, Konfusion, paranoide Reaktionen, Schläfrigkeit, verschwommenes Sehen, Durchfall, Aphten im Mund, Mundtrockenheit, Übelkeit und Erbrechen, Schmerzen in der Mundhöhle. Noch seltener werden Halluzinationen, Herzrasen, Bluthochdruck und starkes Schwitzen berichtet. Rauschkonsum von Cannabis wie auch der Gebrauch als Medikament kann zur Sedierung und zu Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten führen und damit auch die Fahrtüchtigkeit und die Teilnahme am Strassenverkehr stören. Deshalb sollten Patienten ausdrücklich auf eventuelle Beeinträchtigungen im Strassenverkehr hingewiesen werden. Ebenfalls sollte die Aufklärung schriftlich dokumentiert werden. Nach abgeschlossener Einstellungsphase einer Cannabistherapie können Patienten am Strassenverkehr (Autofahren) teilnehmen, sofern die Grunderkrankung dem nicht entgegensteht und sie frei von Nebenwirkungen ist. Die Verkehrsteilnahme ist bei medizinischem Cannabis im Zustand der beeinträchtigten Fahrtüchtigkeit strafrechtlich bedenklich. Den Patienten wird deshalb empfohlen, eine Kopie des Betäubungsmittelrezepts oder einen Behandlungsausweis mitzuführen.
Zusammenfassung Rauschkonsum und Konsumstörungen von Cannabisprodukten sind häufig. Etwa 6,1% der deutschen Erwachsenenbevölkerung konsumieren Cannabis, zirka 1,25% weisen eine Konsumstörung (schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit) auf. Die medizinische Organtoxizität von Cannabis ist eher gering, die Hauptprobleme und Folgeschäden liegen im psychischen Bereich. Im Zusammenhang von Konsumbeginn, Dauer und THC-Gehalt kann das Risiko für das Auftreten von kognitiven Beeinträchtigungen sowie Psychosen und Wahnerkrankungen sowie für die Abhängigkeit von weiteren Substanzen signifikant ansteigen. Die Studienlage zum Einsatz von medCB (THC-CBD oder CBD) als Cannabisarznei bei psychischen Störungen ist bislang noch sehr spärlich. Die Begleiterhebung zur Verordnung von medizinischem Cannabis weist da-
5/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
41
FORTBILDUNG
Merkpunkte:
● Etwa 6,1 Prozent der deutschen Erwachsenenbevölkerung konsumieren regelmässig) Cannabis
● zirka 1,25 Prozent weisen eine Konsumstörung (schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit) auf.
● Abhängig von Konsumbeginn, Dauer und THC-Gehalt kann das Risiko für das Auftreten von psychischen Störungen, insbesondere Psychosen für die Abhängigkeit von weiteren Substanzen signifikant ansteigen.
● Der Einsatz des Medizinischen Cannabis ist seit 2017 in Deutschland neu geregelt.
● Zulassungen bestehen für Fertigarzneimittel, Vollspektrumextrakte (Rezepturarzneimittel) sowie Blüten/Blätter.
rauf hin, dass mehr als drei Viertel aller verschriebenen
Cannabisprodukte im Bereich der Schmerzerkrankun-
gen angewandt werden. Am häufigsten werden Fertig-
arzneimittel verschrieben (Dronabinol 62,2%), gefolgt
von Blüten (16,5%), Extrakten (13%) und dem Cannabis-
spray Sativex® (8%). Bei rund einem Drittel der Beteilig-
ten wurde die Therapie binnen eines Jahres wegen
fehlender Wirkungen abgebrochen, während bei den
kontinuierlich therapierten Personen rund 75% eine
Besserung der Beschwerden berichteten. Für eine bes-
sere Indikationsstellung und Bewertung der Wirksam-
keit von medizinischen Cannabisprodukten sind mehr
kontrollierte Studien und Therapie-Katamnesen zu län-
gerfristigen Effekten dringend benötigt.
l
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Ulrich W. Preuss RKH Ludwigsburg und Martin-Luther-Universität Halle
Wittenberg Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatische Medizin Posilipostrasse 4
D-71640 Ludwigsburg E-Mail: ulrich.preuss@medizin.uni-halle.de
Referenzen: 1. Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht
(2023). Cannabis – the current situation in Europe (European Drug Report 2023). https://www.emcdda.europa.eu/publications/ european-drug-report/2023/cannabis_en. Letzter Abruf: 11.9.2023. 2. Seitz NN, Lochbühler K et al.: Trends in substance use and related disorders – analysis of the Epidemiological Survey of Substance Abuse 1995 to 2018. Dtsch Arztebl Int. 2019;116:585-591. 3. Hoch E et al.: Cannabis: Potenzial und Risiko. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. Heidelberg: Springer Nature; 2019. 4. Preuss UW et al.: Medizinisches Cannabis: Hintergründe, Evidenzen, Praxishinweise. Suchtmed. 2018;20:349-367. 5. WHO (2022) World Drug Report. https://www.unodc.org/unodc/en/ data-and-analysis/world-drug-report-2022.html. Letzter Abruf: 11.9.2023. 6. Gomes de Matos E et al.: Substanzkonsum in der Allgemeinbevölkerung in Deutschland. Ergebnisse des Epidemiologischen Suchtsurveys 2015. Sucht 2016;62:271-283. 7. Orth B et al.: Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2019. Rauchen, Alkoholkonsum und Konsum illegaler Drogen: aktuelle Verbreitung und Trends. BzgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2020. 8. Hanewinkel R et al.: Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Substanz- und Medienkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2023. https://www. bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_ Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Abschlussbericht/ ACoSuM_Abschlussbericht_bf.pdf. Letzter Abruf: 11.9.2023. 9. Sucht und Drogenbericht der Bundesregierung, 2021. https://www. bundesdrogenbeauftragter.de/assets/user_upload/PDFPublikationen/DSB_2021_final_bf.pdf. Letzter Abruf: 11.9.2023. 10. Soyka M et al.: Cannabis-induced disorders. Nervenarzt. 2017;88(3):311-325. 11. Grant I et al.: Nonacute (residual) neurocognitive effects of cannabis use: a metaanalytic study. J Int Neuropsychol Soc. 2003;9:679-689. 12. Schreiner AM et al.: Residual effects of cannabis use on neurocognitive performance after prolong abstinence: a metaanalysis. Exp Clin Psychopharmacol 2012;20:420-429. 13. Medina KL et al.: Neuropsychological functioning in adolescent marijuana users: Subtle deficits detectable after a month of abstinence. J Int. Neuropsychol Soc 2007;13:807-820. 14. Marconi A et al.: Meta analysis of the association between the level of cannabis use and risk of psychosis. Schizophr Bull 2016;42:12621269. 15. Large M et al.: Cannabis use and earlier onset of psychosis: a systematic meta-analysis. Arch Gen Psychiatry 2011; 68: 555–561. 16. Preuss UW et al.: Cannabinoide: Riskantes Rauschmittel und Arznei gegen psychische Störungen. DNP – Der Neurologe & Psychiater. 2021;22:42-50. 17. Häuser et al.: Welche Cannabis-basierten Arzneimittel gibt es? MMW – Fortschritte der Medizin 2020; 162: 6-9. 18. Bundesamt für Arzneimittelsicherheit BfArM 2022: https://www. bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bundesopiumstelle/ Cannabis/Abschlussbericht_Begleiterhebung.pdf?__ blob=publicationFile. Letzter Abruf: 11.9.2023.
42
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2023