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FORTBILDUNG
Trauma und Traumafolgestörungen bei Frauen
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Anne Guhn
Frauen weisen in repräsentativen Untersuchungen zwei- bis dreimal höhere Prävalenzraten von Traumata und Traumafolgestörungen auf. Die posttraumatische Belastungsstörung ist dabei die spezifischste, wenngleich nicht die einzige Folge traumatischer Ereignisse. In diesem Artikel wird zunächst ein kurzer Überblick über die Häufigkeit und Arten von Traumatisierungen referiert. Anschliessend wird auf die verschiedenen Traumafolgestörungen vor dem Hintergrund der aktualisierten Nomenklatur Trauma- und Stressassoziierter Störungen in der 11. Version der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-11) eingegangen. Der letzte Abschnitt widmet sich der Behandlung von Traumafolgestörungen und den dabei zu überwindenden Herausforderungen zur Umsetzung der aktuellen Leitlinienempfehlungen.
von Anne Guhn
Traumata Weltweit wird jede dritte Frau in ihrem Leben Opfer sexueller Gewalt; über die Hälfte entwickelt eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), nur knapp ein Drittel von ihnen sucht diesbezüglich professionelle Unterstützung (1). Diese Prävalenzraten sind das Ergebnis einer aktuellen Metaanalyse aus 32 Studien, durchgeführt in Nordamerika, Europa, Asien, Lateinamerika und Asien. Sie umfasst fast 75 000 untersuchte Frauen.
Mädchen und Frauen weisen ein höheres Risiko für Traumatisierungen auf. So erleben weltweit beispielsweise neun von 100 Mädchen unter 18 Jahren sexualisierte Gewalt (im Vergleich: drei Jungen [2]). Opfer von sexualisierter Gewalt in der Kindheit tragen ein höheres Risiko, im Erwachsenenalter erneut sexuelle Traumatisierung zu erfahren (3). Die Wahrscheinlichkeit, bereits früh ein Trauma zu erleben, ist auch in der Schweiz hoch. Laut einer bevölkerungsrepräsentativen Erhebung aus den Jahren 2009 und 2010 mit 6841 Schweizer Schülern und Schülerinnen der 9. Klassen (mittleres Alter: 15,5 Jahre) gaben 56,1% der Jugendlichen in einer anonymen Fragebogenerhebung an, mindestens ein Trauma erlebt zu haben; ein Drittel berichtete sogar mehr als ein Trauma (4). Mädchen und Jungen unterschieden sich dabei insgesamt nicht in der Häufigkeit, allerdings in der Art der erlebten Traumatisierung. So gaben Mädchen die höchsten Lebenszeitprävalenzraten für häusliche und sexuelle Gewalt an, die sogenannten Man-madeDisasters (Typ-II-Traumata). Jungen berichteten dagegen am häufigsten einmalige, zeitlich begrenzte Traumata wie Naturereignisse oder Unfälle (Typ-I-Traumata).
Mädchen erfüllten zudem fast dreimal häufiger die Diagnosekriterien für eine PTBS nach DSM-IV-TR als Jungen (6,2 vs. 2,4% der Gesamtstichprobe). Ein weiterer Schwerpunkt der Erhebung war die Untersuchung verschiedener Formen sexueller Traumatisierung, unter anderem nicht physische sexuelle Traumata über das Internet (5). Hier lag die Prävalenz bei 40% der weiblichen im Unterschied zu 17% der männlichen Jugendlichen. Dabei wurden am häufigsten Missbrauchserfahrungen über das Internet angegeben. In mehr als der Hälfte der Fälle waren die Täter und Täterinnen ebenfalls Jugendliche (6). Das Risiko für sexuellen Missbrauch bei Mädchen war zudem mindestens doppelt so hoch wie das der Jungen; in der Gruppe der Jugendlichen, die sowohl physischen als auch nicht physischen sexuellen Missbrauch angaben, war das Risiko sogar mehr als vierfach erhöht. Zusätzlich liessen sich Korrelationen mit einer geringeren Lebensqualität bezogen auf die physische und psychische Gesundheit bei Mädchen im Vergleich zu Jungen aufweisen. Die Studie weist damit eindrücklich darauf hin, dass auch nicht physische Formen von sexuellem Missbrauch über das Internet weit verbreitet und gerade bei Mädchen sehr wahrscheinlich mit Auswirkungen auf die Gesundheit assoziiert sind. Auch im Erwachsenalter werden Frauen öfter Opfer von Traumata. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 1 des Bundesamts für Statistik (BfS) waren 2022 in der Schweiz 70,2% der Geschädigten Frauen; in 73% der Fälle waren Männer die Täter (7). Neben der höheren Wahrscheinlichkeit, ein Trauma zu erleben, ist das weibliche Geschlecht weiterhin mit einem höheren Risiko belastet, in Folge eines traumatischen Ereignisses eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Dabei ist die PTBS die spezifischste, aber nicht die einzige psychische Erkrankung. Häusliche Gewalt geht beispielsweise mit
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einem zwei- bis dreifach erhöhten Risiko für Depression und PTBS einher; das Risiko für Suizidalität ist gegenüber Frauen, die keine Gewalt innerhalb ihrer Partnerschaft erleben, bis zu fünffach erhöht (8). Aber auch ohne eine geschlechtsspezifisch erhöhte Prävalenz von Traumatisierungen lässt sich eine grössere Vulnerabilität von Frauen für die Entstehung gesundheitlicher Folgen nach belastenden Erlebnissen aufzeigen. So ermittelte eine aktuelle Metaanalyse unter Angestellten im Gesundheitssystem während der COVID-19-Pandemie, dass Frauen eine signifikant höhere Prävalenz für Depression (Odds ratio [OR]: 1,4), Angst (OR: 1,5), PTBS (OR: 1,5) und Insomnie (OR: 1,4) gegenüber ihren männlichen Kollegen aufwiesen (9).
Istanbul-Konvention Geschlechtsspezifische Gewalt ist eine Menschenrechtsverletzung mit weitreichenden individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Internationale politische Initiativen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt sind daher ein wesentliches und notwendiges Mittel zur Prävention von Gewalt und Unterdrückung auf dem Weg zur Gleichstellung von Frau und Mann. Mit der Ratifizierung der Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) haben sich derzeit 38 Staaten (Stand: 10. August 2023) verpflichtet, konsequent gegen Gewalt an Frauen und Mädchen vorzugehen, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen und die Rechte von Gewaltbetroffenen auf Unterstützung und Schutz durchzusetzen. Die Konvention ist seit 1. April 2018 geltendes Recht in der Schweiz. Ihre Umsetzung verpflichtet zu einer Vielzahl von staatlichen Massnahmen in den Bereichen Prävention, Intervention, Schutz und Sanktion. Die Schweiz hat 2022 einen nationalen Aktionsplan vorgelegt, der für die Jahre 2022 bis 2026 drei Themenschwerpunkte mit 44 konkreten Massnahmen zur weiteren Umsetzung der Istanbul-Konvention vorsieht: a) Information und Sensibilisierung der Bevölkerung b) Aus- und Weiterbildung von Fachpersonal und eh-
renamtlich Tätigen c) Prävention und Bekämpfung sexualisierter Gewalt.
Traumafolgestörungen Die Einführung der seit 1. Januar 2019 international geltenden 11. Version der internationalen Klassifikation von Erkrankungen (ICD-11), herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation, hat eine Reihe von umfangreichen Änderungen im Bereich der Traumafolgestörungen mit sich gebracht. Eine wesentliche Neuerung umfasst die Einführung eines neuen Kapitels zu «Stress-assoziierten Störungen», welche die vier Diagnosen PTBS, komplexe PTBS, anhaltende Trauerstörung und Anpassungsstörung für den Erwachsenenbereich (s. Tabelle 1) sowie die reaktive Bindungsstörung und die Bindungsstörung mit sozialer Enthemmung als Diagnosen des Kindesalters zusammenfasst. Bei der komplexen PTBS und der anhaltenden Trauerstörung handelt es sich um neu eingeführte Diagnosen, die bislang nicht als eigenständige Störungsbilder in den Klassifikationssystemen vertreten waren oder vormals unter andere Bereiche subsumiert waren, wie beispielsweise die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembe-
Tabelle:
ICD-11-Diagnosen des Kapitels «mit Stress assoziierte Störungen» für den Erwachsenenbereich
ICD-11 Diagnosen Diagnosekriterien
Posttraumatische ● Ereigniskriterium: Ereignis aussergewöhnlicher
Belastungsstörung Bedrohung oder katastrophalen Ausmasses
(PTBS)
● Symptomgruppen:
1. Wiedererleben (z. B. Flashbacks und Albträume)
2. Vermeidung von mit dem Trauma assoziierten
Gedanken, Gefühlen, Situationen oder Personen
3. anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten
gegenwärtigen Bedrohung (z. B. übermässige
Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit)
● Zeitkriterium: in der Regel innerhalb von 3 Monaten
nach dem Trauma; ein verzögerter Beginn ist möglich
Komplexe PTBS
● erweitertes Ereigniskriterium (langanhaltende oder
sich wiederholende Ereignisse, denen man nur schwer
oder gar nicht entkommen konnte, z. B. Folter,
Sklaverei, häusliche Gewalt, sexueller oder körper-
licher Missbrauch in der Kindheit)
● 3 PTBS-Symptome (s.o.)
● 3 zusätzliche Symptome («Störungen der Selbst-
organisation»):
1. affektive Dysregulation
2. negatives Selbstkonzept
3. Beziehungsstörungen
Anhaltende
● Ereigniskriterium: Tod der Partnerin bzw. des Partners,
Trauerstörung eines Elternteils, eines Kindes oder einer anderen
nahestehenden Person
1. starke Sehnsucht bzw. anhaltendes Verlangen nach
der verstorbenen Person
2. Präokkupationen (gedankliches Verhaftetsein)
● akzessorische Symptome: Schuldgefühle, Trauer, Wut,
Vermeidung, emotionale Taubheit, beeinträchtigtes
Identitätsgefühl
● Zeitkriterium: mindestens 6 Monate nach dem Ereignis
Anpassungsstörung ● Ereigniskriterium: ein oder mehrere psychosoziale
Stressoren, wie z. B. Trennung, Scheidung, Krankheit,
Asylverfahren
● Kernsymptome:
1. Präokkupationen (gedankliches verhaftet sein)
2. Anpassungsschwierigkeiten, z. B. Interessenverlust,
Konzentrations- und Schlafprobleme
● Zeitkriterium: maximal 6 Monate andauernd
Anmerkung: Für alle Diagnosen gilt zusätzlich das Kriterium einer erheblichen psychosozialen Funktionsbeeinträchtigung. Dazu zählt neuerdings auch eine erhaltene Funktionsfähigkeit, wenn diese nur durch erhebliche zusätzliche Anstrengungen aufrechterhalten werden kann.
lastung (F62.0 im ICD-10, jetzt: kPTBS) unter den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Das DSM-5 hat die kPTBS nicht als eigenständige Diagnose definiert, hat jedoch in der aktuellen Version die Kriterien der PTBS durch ein zusätzliches Kriterium D (negative Veränderungen von Kognitionen und Emotionen) so verändert, dass darin die Symptome der kPTBS abgebildet werden können. Weiterhin definiert das DSM-5 einen Subtyp mit dissoziativen Symptomen, bei dem zusätzlich zur
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Komplexe PTBS – eine kontroverse Diagnose?
Die Neueinführung der Diagnose einer komplexen PTBS im ICD-11 ist das Resultat von Vorstudien und Befragungen im Rahmen der Überarbeitung des ICD-10. Diese hatten ergeben, dass die Konzeptualisierung der PTBS als Störung auf ein in sich abgrenzbares traumatisches Ereignis (Typ-I-Trauma) nicht die klinische Realität abbildet, in der Betroffene mit wiederholten oder langanhaltenden Traumatisierungen in Kindheit und Jugend (Typ-II-Traumata) oftmals komplexere und schwerere Krankheitsverläufe aufweisen. Die Einführung der kPTBS als abgrenzbares Störungsbild in der ICD-11 hat allerdings auch kontroverse Stimmen darüber ausgelöst, ob es sich bei der kPTBS tatsächlich um ein eigenes Störungsbild handelt, das von der PTBS und auch von der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) abgrenzbar ist (z. B. [14]). Mittlerweile bestätigen eine Vielzahl von Studien die Konstruktvalidität der kPTBS. So konnte gezeigt werden, dass sich die Symptome der kPTBS spezifisch in Folge chronischer Traumata entwickeln (15) und mit jüngerem Alter beim Erleben der Traumatisierung assoziiert sind (16). Zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung von der BPS erwiesen sich vier Symptome mittels latenter Klassenanalyse als besonders diskriminativ: a) die Furcht vor dem Verlassenwerden, b) eine wechselnde persönliche Identität, c) unstete und intensive zwischenmenschliche Beziehungen sowie d) Impulsivität sind eher der BPS zuzuordnen (17). Das ist klinisch insofern bedeutsam, als dass für die kPTBS andere Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen und empfohlen werden. Dennoch bleibt die Abgrenzung aufgrund der hohen Komorbidität zwischen BPS und PTBS (79%) und BPS und kPTBS (55%) schwierig (18).
PTBS-Symptomatik Depersonalisations- oder Derealisationssymptome vorhanden sein müssen. Die Übereinstimmungsraten der verschiedenen Diagnosesysteme liegen für die PTBS und die kPTBS im Bereich von zwei Drittel bis 90%, wobei in der Mehrzahl der vorliegenden Studien unter Nutzung des ICD-11 geringere Diagnosen ermittelt wurden als mit dem ICD10 (10). Das liegt beispielsweise daran, dass die Kriterien für ein Wiedererleben des Traumas aktuell enger definiert werden. In einer bevölkerungsrepräsentativen Untersuchung in Deutschland ermittelten Maercker et al. (11) eine EinMonats-Prävalenz von 1,5% für die PTBS und 0,5% für die kPTBS. Frauen waren dabei numerisch häufiger betroffen (PTBS: 1,7% vs. 1,1%, kPTBS: 0,7% vs. 0,3%, statistisch nicht signifikant) und gaben signifikant häufiger als Männer an, Opfer von Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch in der Kindheit geworden zu sein (11). Die Prävalenzraten der PTBS sind damit geringer als im weltweiten Vergleich (Lebenszeitprävalenz: 3,9% [12]), einerseits da sich die Wahrscheinlichkeit, mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert zu werden, je nach untersuchter Region deutlich unterscheidet und andererseits, da die Prävalenzraten für PTBS in Abhängigkeit des Einkommens in den jeweiligen Ländern stark variieren. So ist das Risiko für eine PTBS in Ländern mit hohem Einkommen (5,0%) verglichen mit einkommensschwachen Ländern (2,1%) mehr als doppelt so hoch (12). Interpersonelle Traumata (Man-made), z. B. Opfer einer körperlichen oder sexuellen Gewalterfahrung oder eines Bankraubs zu werden, sind mit einem signifikant höheren Risiko für die Entstehung von Traumafolgestörungen assoziiert als akzidentelle Traumata, wie beispielsweise ein Verkehrsunfall, eine Naturkatastrophe oder ein berufsbedingtes Trauma (13). Entsprechend sind die vier
am stärksten pathogenen Traumata Gefangenschaft, Vergewaltigung, Kindesmisshandlungen einschliesslich sexueller Missbrauch und körperlicher Gewalt (11).
Behandlung von Traumafolgestörungen Die traumafokussierte Psychotherapie ist laut aktuell gültigen nationalen (S3-Leitlinie [19]) und internationalen Leitlinien (z. B. American Psychological Association, APA; National Institute for Clinical Excellence, NICE) die Behandlung der ersten Wahl der PTBS. Im Unterschied zu nicht traumafokussierten Verfahren liegt der Schwerpunkt der traumafokussierten Psychotherapie in der Verarbeitung der Erinnerung an das oder die traumatischen Ereignisse und der mit ihnen assoziierten Bedeutung. Zu den bislang hinsichtlich ihrer Wirksamkeit am besten untersuchten traumafokussierten Interventionen zählen die l traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie
(TF-KVT) mit den spezifischen Ansätzen der prolongierten Exposition (20), der kognitiven Verarbeitungstherapie (21), der kognitiven Therapie nach Ehlers & Clark (22), der narrativen Expositionstherapie (23) sowie der Kombination aus expositionsbasierten und kognitiven Ansätzen l und das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR [24]). Traumafokussierte Ansätze sind den nicht traumafokussierten Ansätzen in Metaanalysen deutlich überlegen (z. B. Akutbehandlung: g = 0,3, Follow-up: g = 0,4; [25]). Dieser klaren wissenschaftlichen Evidenz steht jedoch eine defizitäre Umsetzung der Leitlinienempfehlungen in der klinischen Praxis gegenüber (26). So lag der Anteil an Patientinnen und Patienten, die 2017 in Deutschland eine Richtlinienpsychotherapie erhielten, nur bei knapp 40% (27) und nur jede und jeder zweite Vehaltenstherapeutin bzw. Verhaltenstherapeut schreibt sich selbst Kompetenzen zur traumafokussierten Behandlung bei Traumafolgestörungen zu (28). Psychotherapeuten geben unter anderem an, dass sie eine ReTraumatisierung ihrer Patienten befürchten und weniger wahrscheinlich traumafokussiert arbeiten, wenn diese multiple Traumata aufweisen. Sie führen stattdessen vermehrt Stabilisierungsmethoden durch, die fälschlicherweise oftmals als Voraussetzung für eine traumafokussierte Psychotherapie erachtet werden (29). Die empirische Datenlage zur Frage einer notwendigen Stabilisierung im Vorfeld einer Traumakonfrontation ist mittlerweile allerdings eindeutig. So zeigt eine der Konfrontation vorgeschaltete Stabilisierung weder einen zusätzlichen Nutzen hinsichtlich der kurz- und langfristigen Reduktion der PTBS-Symptome noch bezüglich Dropoutraten oder Nebenwirkungen (z. B. [30, 31). Im Gegenteil: Bis eine nachweislich wirksame Behandlung erfolgt, vergehen auf diese Weise in der Regel Monate (26).
Wichtig: Eine Psychopharmakotherapie soll weder als alleinige noch als primäre Therapie von Traumafolgestörungen eingesetzt werden (19).
In der Behandlung der kPTBS liegen für traumafokussierte Methoden (TF-KVT, EMDR, alleinige Exposition) im Vergleich zur Standardbehandlung ebenfalls moderate
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bis hohe Effektstärken vor (32). Diese für die PTBS etablierten Methoden reduzieren auch bei Patientinnen und Patienten mit kPTBS effektiv die PTBS-Kernsymptomatik. Für die Traumakonfrontation wird dabei meist das Trauma ausgewählt, das gegenwärtig mit den unangenehmsten und am stärksten belastenden Symptomen assoziiert ist, da die Erinnerung an dieses sogenannte Indextrauma in der Regel während der Exposition mit weniger belastenden Erinnerungen automatisch aktiviert wird (33). Spezifische Ansätze, die zusätzlich zu traumafokussierten Techniken auch Techniken integrieren, die an der Affektregulation und der Verbesserung der Beziehungsstörungen ansetzen, sind l das phasenbasierte Skills-Training zur affektiven und
interpersonellen Regulation (STAIR [34]), l die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT-PTBS [35])
und l KVT-Ansätze mit Cognitive Processing Therapy (CPT). Sie werden in der aktuell gültigen S3-Leitlinie benannt, wenngleich die bisherige Datenlage als noch nicht ausreichend eingeschätzt wird, um spezifischere Empfehlungen zu treffen (19). Zusammenfassend handelt es sich bei diesen Interventionen um phasenbasierte bzw. modulare Ansätze, die zusätzlich zur Traumakonfrontation Interventionen integrieren, um die Symptomgruppen Affektdysregulation, negatives Selbstkonzept und Beziehungsstörungen zu adressieren. Beispielsweise beinhaltet STAIR Techniken zu Emotionsregulation (Wahrnehmung und Identifikation von Gefühlen, Stresstoleranz, Akzeptanz) und zu interpersonellen Problemen (Identifikation und Revision maladaptiver Schemata, Flexibilität von Erwartungen, Flexibilität im Verhalten), die aus der DBT adaptiert sind. Diese Sitzungen sind den Expositionssitzungen vorgeschaltet (STAIR/Exposure). In einer randomisiert kontrollierten Studie bei 104 erwachsenen Frauen, die in ihrer Kindheit sexuellen und/oder körperlichen Missbrauch erlebt hatten, erwies sich STAIR/Exposure gegenüber einer Expositionskombination mit supportiven Gesprächen (Support/Exposure) sowie einem Skills-Training ohne Traumaexposition (STAIR/Support) als die effektivste Behandlungsmethode hinsichtlich der Reduktion von PTBS-Symptomen, der Reduktion von Affektregulationsproblemen wie Ärger und Angst sowie der Verbesserung von interpersonellen Problemen (36). Für traumatisierte Patientinnen mit PTBS und komorbider BPS stehen ebenfalls effektive Interventionen zur Verfügung. So konnten in einer Gruppe von 193 Frauen mit der Diagnose einer PTBS nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit, die komorbid mindestens drei Borderline-Kriterien aufwiesen, mit DBT-PTBS und CPT signifikante Symptomreduktionen erzielt werden (37). Die DBT-PTBS war gegenüber der CPT hinsichtlich der Remissionsraten und der Dropoutraten (25,5 vs. 39%) leicht überlegen. Bei der DBT-PTBS werden Standard-DBT-Strategien um traumaspezifische kognitive und expositionsbasierte Interventionen ergänzt. Die Auswahl der Behandlungsmodule erfolgt auf Basis von Algorithmen, bei denen vorgegeben ist, welche Intervention bei welcher Symptomatik zu welchem Zeitpunkt eingesetzt wird. Die Traumakonfrontation folgt dabei dem Prinzip der «skills-assisted exposure», wobei Skills dazu dienen, eine Balance zwischen traumaassoziierten Erinnerungen und Gegenwartsbezug herzustellen (35).
Merkpunkte:
● Mädchen und Frauen weisen höhere Prävalenzen für Traumata und Traumafolgestörungen auf.
● Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung wird neu in den Diagnosekatalog der ICD-11 aufgenommen.
● Traumafokussierte Psychotherapie ist der Goldstandard in der Behandlung von Traumafolgestörungen.
● Die Bedeutung von Stabilisierung in Vorbereitung auf eine Traumakonfrontation wird häufig überschätzt.
Hinsichtlich einer besseren Umsetzung der im Bereich der Traumafolgestörungen eindeutigen Leitlinienempfehlungen in der klinischen Praxis plädieren Herzog und Kollegen (26) dafür, 1. die Leitlinie bei der künftigen Überarbeitung hinsichtlich der (überschätzten) Bedeutung von Stabilisierung zu aktualisieren und die negativen Überzeugungen gegenüber traumakonfrontativen Methoden bereits in der Aus- und Weiterbildung gezielt(er) zu thematisieren, 2. die Traumabehandlung zu flexibilisieren (z. B. internetbasierte Psychotherapie als leichteren Zugang zur Versorgung zu schaffen) und zu spezifizieren (z. B. intensivpsychotherapeutische Angebote im teilstationären Setting zu schaffen wie PSYTREC in den Niederlanden [38]) und 3. die Umsetzung einer datengestützten, personalisierten Zuweisung zu evidenzbasierten traumafokussierten Psychotherapien (z. B. TF-KVT vs. EMDR) in der Routineversorgung zu forcieren. l
Korrespondenzadresse: Dr. rer. nat. Anne Guhn, Dipl.-Psych. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Zentrum für Affektive, Stress- und Schlafstörungen
Wilhelm Klein-Strasse 7 4002 Basel
E-Mail: anne.guhn@upk.ch
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