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FORTBILDUNG
Essstörungen: Frauen in Krisen helfen
Essen ist etwas Wunderbares, aber nicht immer
Foto: zVg
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Gabriella Milos Anja Weiss
Im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Schlankheitsidealen und überwältigenden, allseits verfügbaren Essensangeboten haben sich Essstörungen zu einem häufigen psychischen Krankheitsfeld entwickelt. Die zu geringe oder zu hohe Nahrungsaufnahme ist für Betroffene wie für ihr soziales Umfeld meist mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden. Zeitnahes Erkennen und eine spezifische Behandlung sind für Verlauf und Prognose entscheidend.
von Gabriella Milos1 und Anja Weiss2
V on Geburt an verflechten sich bei der Nahrungsaufnahme physiologische und psychologische Bedürfnisse auf komplexe Weise. Grundbedürfnisse wie Schutz, Versorgung und soziale Bindungserfahrungen sind damit verbunden. Mit Essen kann man sich beruhigen und trösten, durch Regulierung und Hungern ein Gefühl von Stärke, Kontrolle und Identität entwickeln, mit Erbrechen können überflutende Gefühlszustände entlastet werden. Die höchste Inzidenz von Essstörungen (ES) liegt zwischen 12 und 25 Jahren, einem Alter, in dem zentrale körperliche wie seelische Entwicklungsschritte anstehen. Immense neurobiologische und endokrinologische Prozesse verändern Körperlichkeit, Interessen und Bedürfnisse sowie emotionales Erleben. Identitätsbildung, Autonomieentwicklung mit Loslösung von der Familie, Aufbau von Beziehungen und Partnerschaften sowie die Lebensplanung mit Ausbildungswahl und Eintritt in die Arbeitswelt stehen an. Klassische Essstörungen (ES) treten überwiegend bei Frauen auf. Die Prävalenz aller ES in der Allgemeinbevölkerung liegt in der Schweiz wie in anderen industrialisierten Ländern bei etwa 4% (1, 2). Leitsymptome der Hauptessstörungsdiagnosen sind in der Tabelle 1 zusammengefasst.
Theoretischer Hintergrund In der Menschheitsgeschichte mussten überwiegend Hunger und Mangelsituationen bewältigt werden. So haben sich im Lauf der Evolution gewichtserhaltende Überlebensmechanismen entwickelt. Als erste Generationen in unermesslicher Fülle von Nahrungsmitteln besteht für uns die selbstregulatorische Herausforderung, angemessen zu essen – nicht zu viel und auch nicht zu wenig. Verbunden mit vielfältigen und oft widersprüchlichen Informationen über gesunde Ernährung und Lebensstil sowie den zunehmenden (elektronischen) Online-Vergleich- und Kontrollmöglichkeiten ist dies
1 Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik, Universitätsspital Zürich
2 Ambulatorium Römerhof Zürich, Universität Zürich
das Substrat der zunehmenden Essstörungen. Eine noch nicht krankheitswertige Vorform von ES ist die Orthorexie (keine offizielle ES-Diagnose) mit intensiver Fokussierung auf «richtige und gesunde» Ernährung und meist hoher kognitiver Kontrolle bezüglich Zusammensetzung und Nährstoffgehalt der aufgenommenen Nahrung. Ein orthorektisches Essverhalten kann vor dem Ausbruch eines pathologischen Essverhaltens beobachtet werden. Bei Erwachsenen mit Essstörungen besteht meist schon eine lange Vorgeschichte konflikthaften Essverhaltens mit Gewichtsinstabilitäten und übermässiger gedanklicher Beschäftigung mit Nahrung und Körpergewicht. Das ist ein relevanter Unterschied zu Essstörungen bei Adoleszenten. In diesem Alter gibt es auch kurze und weniger kompliziertere Verläufe, die mit der Funktion des Austestens von Grenzen bei zeitnaher und entschiedener Behandlung bessere Remissionsraten zeigen (3). Psychische Komorbiditäten sind häufig. Ängste, interaktionelle Probleme, depressive Syndrome, Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen kommen bei fast allen Ausprägungen vor. Oft besteht eine strukturelle Problematik. Die Handlungssteuerung zeigt bei restriktiven Subtypen eine Tendenz zu rigidem Kontrollverhalten; bei Binge/Binge-Purge-Subtypen (wie Bulimia nervosa oder Binge-Eating-Störung) zu Impulsivität, auch bezüglich Selbstverletzungen oder Kleptomanien (4). ES können eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder eine Traumafolgestörung maskieren. Kleptomanien und Essanfälle können auch im Rahmen einer dissoziativen Symptomatik auftreten (5). Assoziierte Substanzprobleme können je nach Subtyp differieren: Nikotin und Koffein oft bei restriktiven Störungen, Alkohol und Stimulanzien wie Amphetamine oder Kokain bei Binge-Purge-Ausprägungen, Alkohol und Medien bei Bulimia Nervosa (BN) und Binge Eating Disease (BED) (6). Leitsymptome der Anorexia Nervosa (AN) sind intensive Ängste vor Gewichtszunahme und Körperbildstörungen. Diese haben eine aktive Vermeidung von Aufnahme energiereicher Nahrung zur Folge, oft im Rahmen eines strengen, selbstauferlegten, inneren Regelwerkes und stark limitierten Nahrungsmittelreper-
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Fallbeispiele
Vignette 1: Die 22-jährige Studentin mit depressivem Zusammenbruch wird von ihrer Mutter in die Hausarztpraxis gebracht. Sie hatte gerade die Nachricht erhalten, dass sie eine wichtige Abschlussprüfung nicht bestanden hatte. Üblicherweise sehr ehrgeizig, leistungsstark und mit hohen Selbstansprüchen war dies eine völlig neue Erfahrung in ihrem Leben. Sie hatte nun das Gefühl, als Person wertlos und eine Versagerin zu sein. Als erster klinischer Eindruck fiel ein ausgesprochen tiefes Körpergewicht auf, das mit einem BMI von 15 kg/m2 objektiviert werden konnte. Die Haut war trocken, auf dem Gesicht der Ansatz einer flaumigen Behaarung zu erkennen, die Haare dünn. Körperlich unruhig und gedanklich abschweifend fiel es ihr schwer, im Dialog zu bleiben. Sie habe grosse Angst vor der Prüfung gehabt, ein ganzes Jahr sehr viel dafür gelernt. Ihre Tage seien nach einem strengen System strukturiert gewesen, sie habe dabei wohl immer weniger gegessen. Im Hunger habe sie sich stärker gefühlt, weniger Ängste verspürt. Das Körpergefühl eines flachen leeren Bauches wirke beruhigend auf sie. Schon seit den körperlichen Veränderungen der Adoleszenz habe sie sehr auf gesunde Ernährung geachtet. Inzwischen esse sie gar keine Fette und Kohlenhydrate mehr; am einfachsten sei es für sie, jeden Tag in etwa das Gleiche zu sich zu nehmen. Als Ausgleich zum Lernen sei sie täglich zirka eine Stunde joggen gegangen. Ihre Eltern hätten ihren Gewichtsverlust bemerkt, ihre diesbezüglichen Sorgen und Bemerkungen seien ihr unangenehm gewesen. Sie habe sich deswegen immer mehr in ihr Zimmer zurückgezogen und gemeinsame Mahlzeiten gemieden. Insgesamt habe sie im letzten Jahr etwa 13 kg abgenommen. In den letzten Wochen sei ihr schon aufgefallen, dass sie sich immer weniger konzentrieren konnte, ihr Bewegungsdrang heftiger und die chronisch vorhandenen Essgedanken immer intrusiver wurden. Es sei ihr gelegentlich schwarz vor Augen gewesen. Krank fühle sie sich aber nicht. Sie könne sich nicht erklären, was in der Prüfung passiert sei. Sie habe völlig neben sich gestanden. Die Aufklärung zu Befund, Diagnose und Behandlungsempfehlung löste zunächst Irritation und Abwehr bei der Patientin aus. Sie kam aber doch zu Folgegesprächen, in denen schrittweise eine Basis für Problembewusstsein und Veränderungsbereitschaft geschaffen werden konnte. Sie fasste Mut und Vertrauen, sich auf eine spezialisierte stationäre Behandlung einzulassen. Psychotherapeutisch kamen in dieser Zeit auch tiefere Themen auf, die ihr schwieriges Verhältnis zu Körper und Gefühlen sowie ihre Ängste vor Autonomie und Expansivität verständlich werden liessen. Sie begann ihr dysfunktionales Coping mit restriktivem Essen, Kontrollneigungen und Vermeidung anstehender Entwicklungsaufgaben zu verändern. Die Prüfung konnte sie ein Jahr später erfolgreich absolvieren. Danach begann sie eine Berufstätigkeit in einer anderen Stadt und zog in eine WG. Die Neigung zu Perfektionismus und kontrolliertem Essverhalten blieb, allerdings in deutlich gemildertem Ausmass. Sie achtete nach dieser einschneidenden Erfahrung sehr darauf, dass sie ihr Körpergewicht im Normalbereich hielt.
Vignette 2: Auf dem Notfall stellt sich eine 32-jährige, leicht übergewichtige Patientin mit drängenden Suizidgedanken vor. Sie habe die Kontrolle über ihr Leben verloren, hasse ihren Körper. Tiefe Sinnlosigkeits- und Versagensgefühle hätten sich dann zu konkreten Suizidplanungen verdichtet. Die Patientin berichtet, bis vor einem Jahr sportlich und schlank gewesen zu sein. Nach einer abrupten und sehr kränkenden Trennung habe sie sich hilflos, traurig und leer gefühlt. Sie habe dann begonnen, sich abends mit reichlichem Essen zu trösten. Die folgende Gewichtszunahme habe sie mit Schrecken realisiert, nicht akzeptieren wollen und mit einer Diät reagiert. Unter dem kalorienreduzierten Essen tagsüber seien die abendlichen Essenwünsche allerdings immer heftiger geworden und hätten sich zu regelrechten Attacken ausgewachsen. Kurzfristig erreichte Gewichtsabnahmen hätten Jojo-Effekte zur Folge gehabt. In ihrer Verzweiflung habe sie begonnen zu erbrechen. Es habe ein Verstärkungseffekt eingesetzt, sodass die Essattacken mit folgendem Erbrechen jetzt schon nachmittags beginnen und sich bis in den späten Abend fortsetzen. Sie habe jegliche Steuerung verloren, schäme sich und ekle sich vor sich selbst. Sozial habe sie sich völlig zurückgezogen. Sie fühle sich seit Wochen immer elender, schlafe schlecht, sei ständig gereizt. Unter Anstrengung sei es ihr noch gelungen, zur Arbeit zu gehen. Als sich jedoch zusätzliche berufliche Probleme mit drohendem Arbeitsplatzverlust aufgrund ihrer Leistungsminderung entwickelten, habe sie jegliche Perspektive in ihrem Leben verloren. Nach einer akuten Krisenintervention und affektiven Stabilisierung wurde eine essstörungsspezifische Behandlung in die Wege geleitet. Im stationären Rahmen konnte das Erbrechen gestoppt und eine stabile Essstruktur wieder aufgebaut werden. Es kostete allerdings anfangs viel Überzeugungsarbeit, die Patientin von sofortigen neuen Gewichtsreduktionswünschen abzuhalten. Sie sah zuerst nicht ein, dass dies die wiedererreichte Ruhe und Kontrolle im Essverhalten gefährden würde – spürte dann aber selbst, wie schnell die Essattacken wieder andrängten, sobald sie begann, tagsüber Kalorien sparen. Der drohende erneute Kontrollverlust liess sie achtsamer werden und ihre Grenzen besser spüren. Sie entwickelte den Mut, ihren Emotionen Raum zu geben, sie zu akzeptieren und zu differenzieren. Sie begann, ihren Selbstwert weniger von Gewicht und Figur abhängig zu machen, stattdessen ehemalige Interessensbereiche und kreative Ressourcen wieder zu pflegen. Das unterstützte sie bei der Erarbeitung einer funktionalen Regulation ihrer Emotionen, sodass sie diese nicht mehr «in sich hineinfressen» musste.
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Tabelle 1:
Zusammenfassung der diagnostischen Kriterien der Hauptessstörungen
Anorexia nervosa
Bulimia nervosa
Binge-Eating-Störung
Essen
Essrestriktion
oft keine geordnete
oft keine geordnete
Mahlzeitenstruktur Mahlzeitenstruktur
Gewicht
Untergewicht Normalgewicht
Normal- oder Übergewicht
Körperwahrnehmungs-
oft Überschätzung der Körperform und
in der Regel nicht
störung
eigenen Körperform Körpergewicht sehr
vorhanden
und Körpergewicht wichtig für eigenen
Selbstwert
Essanfälle
können vorkommen regelmässig vorhanden regelmässig vorhanden
Kompensatorisches Verhalten können vorkommen regelmässig vorhanden selten vorhanden
wie Erbrechen, Abführen,
Fastenphasen
Bewegung, Hyperkinese
oft vorhanden
kann vorkommen
selten vorhanden
Quelle: modifiziert nach (24)
toires. Beim Binge-Purge-Typ treten zwischenzeitlich Heisshungerattacken (binge) auf, gefolgt von Purging-Massnahmen wie selbstinduziertem Erbrechen, Gebrauch von Laxanzien, Appetitzüglern oder Diuretika. Exzessives Bewegungsverhalten, Body-Checking wie tägliches Wiegen oder Messen des Umfangs verschiedener Körperpartien, auffälliges Trinkverhalten und Vergleichszwänge treten bei beiden Unterformen auf. Prototypische Persönlichkeitszüge werden als perfektionistisch mit Kontrollneigung und überhöhten Selbstansprüchen beschrieben. Oft fühlen sich die Patientinnen trotz ihres sehr geringen Körpergewichts subjektiv nicht krank und sehen daher keinen Behandlungsbedarf. Dies führt zu Konflikten mit dem Umfeld und verzögert die dringend notwendigen Therapien. Die AN ist eine Erste-Welt-Erkrankung. In der Schweiz beträgt die Lebenszeitprävalenz 1,2% bei Frauen und 0,2% bei Männern; diese Daten decken sich mit den internationalen Resultaten (1, 2). Etwa 1,4% der Frauen und 0,2% der Männer leiden im Verlauf ihres Lebens unter AN (7); die somatischen Risiken und die Sterblichkeitsrate sind hoch, 5 bis 10% pro Dekade (8, 9), auch wegen der erhöhten Suizidalität (10, 11). Es besteht eine Tendenz zu chronischen Verläufen, eine Vollremission wird bei weniger als 50% der Patientinnen erreicht (12). Die Ätiologie ist multifaktoriell, mit Einfluss biologischer, soziokultureller und psychologischer Faktoren. Der grösste Risikofaktor ist das weibliche Geschlecht. Entwicklungspsychologisch begünstigen mangelnde innerfamiliäre Abgrenzung, autonomiebehindernder Erziehungsstil und emotionale Disharmonie aufgrund fundamentaler Verunsicherung die Tendenz zu überangepasstem Verhalten. Im Rahmen der Entwicklungsanforderungen der Pubertät mit Entstehen der sekundären Geschlechtsmerkmale und den komplexer werdenden Rollenanforderungen kann eine ES ein dysfunktionaler Lösungsweg werden. Das erstrebte Schlankheitsideal wird dann mit Gesundheit und Schönheit, aber auch mit Souveränität, Erfolg und Anerkennung gleichgesetzt. Neue Forschungsergebnisse beschreiben die AN als psychometabolische Erkrankung (13). Das reduzierte
Fettgewebe der Patientinnen hat endokrine Störungen wie Amenorrhoe, Libidoverlust und Osteoporose zur Folge (14,15). In der Adoleszenz können Wachstum und pubertäre Reifung verzögert sein. Kognitiv bleibt auf den ersten Blick das intellektuelle Funktionsniveau mit guter Detailerkennung lange erhalten. Es besteht jedoch eine eingeschränkte Fähigkeit der exekutiven Funktionen wie das Erkennen von Gesamtzusammenhängen sowie eine verringerte Flexibilität und verminderte Transferfähigkeit im Denken (16, 17). Das emotionale Erleben ist auf verschiedenen Ebenen beeinträchtigt (18). Diese Phänomene spielen auch bei der Aufrechterhaltung der Erkrankung eine Rolle (19). Weiterhin wird neurobiologisch von einer veränderten Funktionsweise des Belohnungssystems ausgegangen, sodass auf Nahrungsaufnahme ein angstauslösendes, auf Nahrungsverzicht ein hedonisches Signal entsteht (20, 21). Für die Bulimia Nervosa (BN) wie für die Binge Eating Disease (BED) sind Essanfälle charakteristisch, bei denen grosse Mengen an Nahrung in einem umrissenen Zeitrahmen gegessen werden. Bei der BN sind diese mit aktiven gewichtsreduzierenden Massnahmen assoziiert. So entstehen Zyklen von Essattacken und Entleerungen, die sich bei schweren Ausprägungen über den gesamten Tag erstrecken können. Typisch für BN wie BED ist das unangenehme Kontrollverlustgefühl während des Essens, was auch als Loss of Control Eating (LOC) beschrieben wird (22). Die Lebenszeitprävalenz von BN und BED betragen jeweils 2,4% bei Frauen; bei Männern liegt sie bei 0,9% für die BN und 0,7% für BED (1, 2). Neue Untersuchungen zeigen, dass aktuell die Inzidenzen besonders der atypischen und subsyndromalen ES zunehmen (2). Somatische Folgeprobleme sind bei der BN hauptsächlich lokale Schädigungen durch das Erbrechen sowie Elektrolytverschiebungen, insbesondere Ösophagitis, Zahnschmelzverlust und Kaliummangel mit der möglichen Folge von Herzrhythmusproblemen. Bei der BED besteht das ganze Spektrum der übergewichtsassoziierten Erkrankungen wie kardiovaskuläre Probleme, metabolisches Syndrom, Gelenkbeschwerden und erhöhte Neoplasierate (3).
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Alle ES können bei milderer Ausprägung leicht übersehen werden. Bei klinischen Hinweisen sollte daher sensibel, aber präzise bezüglich Ernährungsgewohnheiten und Essstruktur exploriert werden. Ein weiteres schwieriges Thema dabei kann die finanzielle Belastung durch die, oft impulsiv eingekauften, enormen Essensmengen sein.
Therapie Die Behandlung von Essstörungen ist eine fachübergreifende Herausforderung. Die Dynamik psychischer und physischer Prozesse ist komplex und erfordert oft eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die psychischen Auswirkungen rein aufgrund der Physiologie des Körpergewichts werden oft unterschätzt und können den Behandlungsprozess sehr erschweren. Beispielsweise führt der Starvationszustand zu Bewegungsdrang, Rigidität, Kontrollverhalten sowie emotionaler Verflachung (14). Bei allen Essstörungen ist die Wahrnehmung und Regulation von Hunger und Sättigung eingeschränkt; ein genuss- und massvolles Essen in Verbundenheit mit Familie und Freunden ist kaum mehr möglich. Psychosoziale Folgen können quälende Vereinsamung und Verringerung des Funktionsniveaus in beruflichen wie privaten Bereichen sein. Aufgrund der zahlreichen Komplikationen der ES empfiehlt sich zu Beginn der Behandlung eine somatische Grunduntersuchung und die Etablierung einer regelmässigen interdisziplinären Zusammenarbeit. Psychotherapeutisch hat sich ein integrativer und methodenübergreifender, aber spezifisch auf ES ausgerichteter Ansatz bewährt (23): a) Der Aufbau einer tragenden therapeutischen Beziehung mit wertfreier Haltung ist von zentraler Bedeutung. Erst bei ausreichendem Vertrauen sind die Betroffenen bereit, ihre schambesetzten Essgedanken und -gewohnheiten offenzulegen. Psychoedukation mit Wissensvermittlung über ES und ihre Risiken gibt Orientierung und unterstützt die Entwicklung von Einsicht in die ES-Pathologie sowie eines eigenen Krankheitskonzeptes. Dies ist die Grundlage für den Aufbau einer Veränderungsmotivation. b) Mit verhaltensorientierten Schritten wird das dysfunktionale Essverhalten schrittweise verändert. Bei jeder Essstörung steht, unabhängig vom aktuellen Körpergewicht, der Aufbau einer stabilen Ess- und Tagesstruktur, das Stoppen von Purging-Verhalten sowie die Abstimmung von Energiegehalt der Nahrung und Bewegungsverhalten im Vordergrund. Dieser normative Ansatz bezüglich Essensmengen und -zeiten kollidiert dann meist mit den emotionalen Bedürfnissen. Durch die Symptombegrenzung wird die individuelle Funktion der Symptomatik erfahrbar, die oft emotionsregulierende wie auch beziehungsstabilisierende Anteile enthält. Eine empathisch unterstützende, bezüglich der Handlungsebene aber sehr konsequente therapeutische Haltung ist dabei entscheidend. Der Schutz eines stationären Rahmens kann notwendig sein, dies sollte gemeinsam mit der Patientin abgewogen werden. c) Ein Blick auf das umgebende Beziehungssystem zeigt krankheitsunterhaltende wie gesundungsförderliche interpersonelle Dynamiken. Ablösungsprozesse und Rollenveränderungen sind häufige Themen. Psychody-
Tabelle 2:
Alarmzeichen bei Anorexia nervosa (bei Erwachsenen)
vitales Risiko BMI kg/m2 Gewichtsverlust Puls/min Körpertemperatur (°C) systolischer Blutdruck Fähigkeit, aus der Hockstellung ohne Hilfe der Arme aufzustehen
Quelle: modifiziert nach (25)
mittel < 15 > 0,5 kg/Woche < 50 < 35 < 90 möglich hoch < 13 > 1 kg/Woche < 40 < 34,5 < 80 unmöglich namische Perspektiven lassen biografische Zusammenhänge, die in der Auslösesituation zum Ausbruch und später zur Aufrechterhaltung der Erkrankung beigetragen haben, besser verständlich werden. Frühe Erfahrungen bezüglich der Erfüllung von Grundbedürfnissen, der Verlässlichkeit von Bindungspersonen sowie der erlebten Qualität emotionaler Spiegelung werden reflektiert. Die von diesen frühen Resonanzen geprägte Entwicklung von Selbstwert und Grundvertrauen kann als Basis der aktuellen Steuerungsfähigkeiten in Selbstorganisation, Lebens- und Beziehungsgestaltung nachvollzogen werden. Die nachreifende Akzeptanz und Differenzierung der eigenen emotionalen Innenwahrnehmung bei gleichzeitigem Respektieren der Bedürfnisse anderer ermöglicht den Aufbau authentischer Beziehungsgestaltungen mit ausgewogener Balance von Geben und Nehmen. So können die übermässige Orientierung an Wünschen und Erwartungen anderer reduziert, der Selbstwert stabilisiert und die Lösung relevanter Autonomie-, Abhängigkeits- wie auch Versorgungs-AutarkieKonflikte verbessert werden. Gegen Ende der Therapie sind Antizipation möglicher Rückfallsituationen, die Entwicklung präventiver Strategien und individueller Notfallplanungen wichtige abschliessende Themen. Fazit: Wie kann in Krisen geholfen werden? Bei der ES sind Früherkennung und eine schnelle An- bindung an eine Behandlung für die Prognose ent- scheidend. Klassische Herausforderungen bei der Behandlung der ES sind dabei der Aufbau von Krank- heitseinsicht und Therapiemotivation. Eine Krisensitua- tion kann sich dabei zu einer entscheidenden Chance für die Patientin entwickeln, die notwendige Erkenntnis in die Dringlichkeit einer Behandlung zu gewinnen. Die- ses «Momentum» ist psychotherapeutisch ein hervor- ragender Ausgangspunkt, von dem aus auch im weiteren Verlauf die Behandlungsrelevanz immer wie- der aktualisiert und die Therapiemotivation gefördert werden kann. l Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Gabriella Milos Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik Universitätsspital Zürich Rämistrasse 100 8091 Zürich 4/2023 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 7 FORTBILDUNG Referenzen: 1. Mohler-Kuo M et al.: The prevalence, correlates, and help-seeking of eating disorders in Switzerland. Psychol Med. Oct 2016;46(13):274958. doi:10.1017/S0033291716001136. 2. Galmiche M et al.: Prevalence of eating disorders over the 2000-2018 period: a systematic literature review. Am J Clin Nutr. May 1 2019;109(5):1402-1413. doi:10.1093/ajcn/nqy342. 3. Treasure J et al.: Eating disorders. Lancet. 2020;395(10227):899-911. doi:10.1016/S0140-6736(20)30059-3. 4. 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