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FORTBILDUNG
Elternschaft bei Patientinnen mit BorderlinePersönlichkeitsstörung
Borderline-Persönlichkeitsstörungen sind schwerwiegende Störungen im Selbsterleben und in interpersonellen Beziehungen. Die typischen Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen führen im Übergang zur Mutterschaft zu besonderen Problemen und können sich auf die Entwicklung des Kindes schädlich auswirken. Eine Sensibilisierung des Gesundheitspersonals und frühzeitige Unterstützung der Mütter sind für die weitere Entwicklung von Mutter und Kind wesentlich.
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Anna Hertweck
von Anna Hertweck
B orderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS) gehören zu den häufigsten Persönlichkeitsstörungen und haben eine Prävalenz von 2,7% in der Allgemeinbevölkerung (1). Von den stationär behandelten Patientinnen und Patienten haben etwa 22,5% die Diagnose einer BPS. In klinischen Settings betreffen etwa zwei Drittel aller Diagnosen Frauen, während sich in der Allgemeinbevölkerung keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Häufigkeit von BPS zwischen Männern und Frauen feststellen lassen (2). Die Ursachen dafür lassen sich bisher am besten durch die unterschiedliche Symptomausprägung erklären, die zu verstärkter Inanspruchnahme von psychiatrischen Gesundheitsleistungen bei Frauen führt. Während Frauen eher zu selbstverletzendem Verhalten, Dissoziationen und Suizidgedanken tendieren, zeigen Männer mehr externalisierte Aggression und suchen seltener therapeutische Hilfe auf (3). Bei beiden Geschlechtern sind Komorbiditäten häufig. Bei Frauen sind affektive Störungen, Angst- und Essstörungen häufiger, während Männer eher komorbide Abhängigkeitserkrankungen entwickeln (4). Das Krankheitsbild ist durch Störungen in den Bereichen der Affektivität, Steuerungsfähigkeit, Kognition und zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet (5). Typische Symptome sind intensive, überflutende Affekte, insbesondere von Ärger und Wut, sowie starke und schnelle Stimmungsschwankungen. Heftige, schwer regulierbare Emotionen wechseln mit anhaltenden Gefühlen innerer Leere. Die Impulsivität kann sich in unterschiedlichen Bereichen zeigen, beispielsweise in Essanfällen, Selbstverletzungen, Substanzmissbrauch, Promiskuität und erhöhter Risikobereitschaft. Beziehun-
gen werden oft überstürzt und mit hoher emotionaler Intensität eingegangen, erweisen sich aber als instabil. In engen Beziehungen bestehen ausgeprägte Ängste vor Zurückweisung und Verlassenwerden. Ebenso unbeständig ist die Selbstwahrnehmung, wobei kein dauerhaftes Gefühl für die eigene Identität entwickelt werden kann. Die in der psychodynamischen Objektbeziehungstheorie entwickelten Konzeptualisierungen der Persönlichkeitspathologie werden in dem neuen dimensionalen Ansatz für die Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen im ICD-11 verstärkt berücksichtigt. Diese ermöglicht eine dimensionale Einschätzung der Persönlichkeit anhand des Funktionsniveaus in den Bereichen der Identität, Selbststeuerung, Nähe, Empathie, Wechselseitigkeit (6). Ein Vorteil dieser Klassifikation im Gegensatz zur bisherigen kategorialen Diagnostik ist die Möglichkeit, Persönlichkeitsstörungen in einem Kontinuum zwischen Normalität über leichte bis zu schwerer Pathologie einteilen zu können. Das bietet Vorteile sowohl für die Therapieplanung als auch für die Einschätzung der Prognose, die wesentlich durch die Schwere der Persönlichkeitsstörung bestimmt ist. Die für das Störungsbild typische Instabilität lässt sich durch den übermässigen Gebrauch von unreifen Abwehrmechanismen erklären. Insbesondere Spaltung, Verleugnung, Projektion, projektive Identifizierung sowie Idealisierung und Entwertung spielen dabei eine wichtige Rolle. Spaltungsmechanismen zeigen sich beispielsweise in Schwarz-Weiss-Denken, bei dem positive von negativen Selbst- und Objektrepräsentanzen getrennt gehalten werden. Dadurch können Bilder des eigenen Selbst sowie von anderen Personen entweder als «nur gut» oder «nur schlecht» erlebt werden. Eine Integration von negativen Aspekten in positive Repräsenta-
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tionen ist deshalb erschwert, weil dadurch intensive Ängste ausgelöst werden, das verinnerlichte «gute Objekt» zu beschädigen oder zu verlieren. Projektive Abwehrmechanismen dienen dazu, nicht bewältigbare eigene Affekte in die Aussenwelt bzw. in das Gegenüber zu verlagern, um das Selbst zu entlasten. Jedoch wird dann das Gegenüber wiederum rasch als feindselig erlebt (7). Beim Behandler entstehen so ebenfalls schnell intensive Affekte, beispielsweise von Hilflosigkeit und ohnmächtiger Wut, wenn Patienten sich immer wieder selbst verletzen oder Suiziddrohungen aussprechen. Je weniger es den Behandlern gelingt, solche Emotionen in sich wahrzunehmen, aber auch wieder Abstand dazu zu gewinnen, und dies als die einzige Möglichkeit zur Kommunikation der Patientin zu verstehen, desto eher besteht die Gefahr, die Patienten aufgrund ihres als manipulativ eingeordneten Verhaltens zurückzuweisen. Die Patienten schwanken zwischen idealisierenden Bildern von anderen hin zu Entwertungen, die besonders dann entstehen, wenn ihre Wünsche nach möglichst grenzenloser Anerkennung und Liebe enttäuscht werden. Zusammen mit der Impulsivität der Patienten bergen diese Faktoren ein hohes Risiko für vorzeitige Therapieabbrüche. Aber auch in anderen interpersonellen Beziehungen der Patienten werden solche Probleme offenbar, beispielsweise am Arbeitsplatz, in Partnerschaften sowie in den Beziehungen zu den eigenen Kindern. Wir werden uns in diesem Artikel damit beschäftigen, wie Mütter mit BPS ihre Elternschaft erleben und wie sich das Störungsbild auf die Entwicklung ihrer Kinder auswirken kann. Abschliessend beschäftigen wir uns mit der Frage, inwieweit die bisherigen Kenntnisse auf Väter mit BPS übertragen werden können. Bisher gibt es kaum Studien, die das Erleben von Frauen mit BPS in der Perinatalzeit untersucht haben. Es gibt jedoch Hinweise, dass akzentuierte Persönlichkeitszüge und Persönlichkeitsstörungen bei Müttern in der Perinatalzeit das Risiko für die Entwicklung einer postpartalen Depression verdoppeln (8). Insgesamt ist die Peripartalzeit, definiert als die Zeit während der Schwangerschaft bis zu einem Jahr post partum, eine besonders vulnerable Zeit für die psychische Gesundheit von Frauen, mit verstärktem Auftreten von depressiven und ängstlichen Symptomen. Mütter mit BPS erleben in ihrer frühen Mutterschaft mehr Stress und fühlen sich in ihrer Elternrolle inkompetenter als Mütter ohne BPS. Sie haben verstärkt Schwierigkeiten in der Emotionsregulation und zeigen gegenüber ihren Kindern mehr feindseliges und überbehütendes Verhalten (9, 10). Im Kontakt mit ihren Kindern erleben sie mehr negative Affekte als gesunde Mütter, vor allem Angst und Frustration (11). Die Gründe für diese Einschränkungen sind zu einem Teil in den psychosozialen Bedingungen der betroffenen Frauen zu finden. Frauen mit BPS haben mit grösserer Wahrscheinlichkeit ungeplante Schwangerschaften und Teenagerschwangerschaften (12) und verfügen über geringere Unterstützung durch das nähere Umfeld und die Familie. Sie erleben häufiger partnerschaftliche Konflikte und beklagen öfter als gesunde Frauen die fehlende Unterstützung durch ihre Partner (9). Sie sind häufiger alleinerziehend als gesunde Mütter (13).
Vor dem Hintergrund der heutigen, in unserer westlichen Gesellschaft üblichen Kultur von Kleinfamilien sind diese Frauen daher weitgehend auf sich allein gestellt. Die Bindung zwischen Mutter und Kind entsteht bereits während der Schwangerschaft. Wenn Frauen erfahren, dass sie schwanger sind, beginnen sich Fantasien in Bezug auf das Baby zu bilden. Diese stehen im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte der Mütter, ihren kindlichen Erfahrungen in der Mutter-Kind-Dyade und ihren Wünschen und Hoffnungen. Frauen mit BPS haben häufig in ihrer Entwicklung multiple, bindungsbezogene Traumata erlebt (14), wie emotionalen, physischen und sexuellen Missbrauch sowieVernachlässigung in der Beziehung zu ihren engen Bezugspersonen. Ihre Abhängigkeitserfahrungen in den frühen Bindungsbeziehungen waren oft beängstigend und mit Frustration von wesentlichen Bedürfnissen verbunden. Entsprechend gross kann das Bedürfnis sein, mit dem eigenen Kind eine bessere Erfahrung zu machen. Die Fantasien, das Baby als ideale Mutter vollkommen zu versorgen, sollen für die eigenen Erfahrungen von Mangel entschädigen oder diese gleichsam ungeschehen machen. Daraus entsteht das Risiko, dem werdenden Kind Verantwortung für das eigene Wohlergehen und Selbstwertgefühl zu übertragen, indem es die Mutter in ihrer guten Versorgung bestätigen muss. Es entsteht eine Konfusion darüber, wer sich um wen kümmert. Mütter mit BPS können ihre Schwangerschaften zunächst als stabilisierend erleben: Ängste vor Trennung und Verlassenheit werden durch die Symbiose mit dem Baby abgemildert. Die Mutterrolle gibt vor dem Hintergrund des unsicheren Gefühls für das eigene Selbst Halt und Orientierung. Zusammen mit dem Wunsch, es als Mutter besser zu machen als die eigene Mutter früher, kann zu einer vordergründigen Stabilisierung und einem Rückgang von Impulsivität und selbstverletzendem Verhalten führen. Bei anderen Frauen kann die Schwangerschaft dagegen ausgesprochen aversiv erlebt werden. Neben äusseren Gründen – zum Beispiel, dass die Schwangerschaft ungewollt oder innerhalb einer instabilen, vielleicht missbräuchlichen Partnerschaft entstanden ist – werden frühe Erfahrungen wieder wach und können heftige negative, vor allem aggressive Affekte gegen das Kind auslösen. Zugleich leben Mutter und Kind während der Schwangerschaft in einem gemeinsamen Körper, mit dem Baby als vollständig von der Mutter abhängigem Wesen. Ängste, das Kind durch die eigene Aggression zu beschädigen, können überwältigend werden und sich manchmal in einer langwierigen Verleugnung der Schwangerschaft äussern. Joan Raphaell Leff (15) beschreibt die Schwangerschaft als eine Phase, in der die psychischen Entwicklungsaufgaben, die für die spätere Mutterschaft bewältigt werden müssen, bereits einmal durchlaufen werden. Dazu gehören in zeitlicher Aufeinanderfolge zunächst die Fusion mit dem Fötus, die allmähliche Differenzierung zu zwei verschiedenen Persönlichkeiten, und schliesslich die zunehmende Trennung zwischen beiden, die in der Geburt kulminiert. Die allmähliche Entwicklung des Fötus hin zu einer eigenen Persönlichkeit, die mit der Geburt längst nicht abgeschlossen ist, konfrontiert jede Mutter mit der Aufgabe, sich nach und nach von dem imaginierten
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Kind zu lösen und sich dem Kind so, wie es tatsächlich ist, zuwenden zu können. Die Geburt stellt dafür ein wesentliches und einschneidendes Ereignis dar (16). In manchen Fällen werden solche Schwierigkeiten konkret sichtbar, zum Beispiel, wenn das Kind ein anderes Geschlecht hat, als von den Eltern erwartet und gewünscht wurde. Die Versorgung des Säuglings erfordert von der Mutter, dass sie sich mit dem zutiefst hilflosen und bedürftigen Wesen identifiziert. Die Abwehr gegen ihre eigenen frühen, rohen und unverdauten Erfahrungen wird dadurch gelockert und macht sie besonders vulnerabel. Frühe Erlebnisse von namenloser Angst, Panik und wilder Rage werden im Kontakt mit ihrem Kind wieder fühlbar und drohen die Grenzen des Containments zu sprengen. Gerade Mütter mit schwerwiegenden strukturellen Störungen (BPS) haben kaum die Erfahrung gemacht, dass solche überwältigenden Emotionen in der frühen Kindheit mithilfe einer Bezugsperson verarbeitet werden konnten. Sie sehen sich jetzt nicht nur den eigenen, wieder wachgerufenen Emotionen ausgesetzt, sondern haben ausserdem die Aufgabe, den vollständig auf sie angewiesenen Säugling zu beruhigen. Während der Schwangerschaft übt die Mutter diese Funktion auf der körperlichen Ebene aus, wenn sie über die Plazenta die vom Fötus ausgeschiedenen, giftigen Substanzen in ihren eigenen Blutkreislauf aufnimmt und über ihre Organe, vor allem Leber und Nieren, verstoffwechselt und ausscheidet. Über die Plazentaarterien werden dem Fötus wiederum frische Nährstoffe und Sauerstoff zugeführt. Postnatal laufen ähnliche Prozesse auf der emotionalen Ebene ab: Die Mutter muss die unverdauten Affekte des Babys in sich aufnehmen, in ihrer Psyche verarbeiten und dem Säugling in einer veränderten, bekömmlichen Form wieder zuführen (17). Wilfred R. Bion bezeichnet diese unverarbeiteten Elemente emotionaler Erfahrung als «Beta-Elemente». Sie können noch nicht gedanklich repräsentiert werden und werden als «Ding an sich» empfunden. Sie manifestieren sich beispielsweise in körperlichen Erscheinungen oder Symptomen. Sie können vom Säugling noch nicht prozessiert, sondern nur ausgestossen werden, um von der Mutter aufgenommen zu werden, so wie pränatal die Ausscheidungen des Säuglings zur Entgiftung in den Körper der Mutter aufgenommen werden mussten. Die Mutter dient in den Worten Bions als «Container», um Unverdautes in sich hineinzunehmen und zu verstoffwechseln. Das geschieht durch das träumerische Ahnungsvermögen (reverie), mithilfe dessen die Mutter die Bedürfnisse des Säuglings auf einer vorsprachlichen Ebene erahnen und mit Fantasien, Vorstellungen und Worten verbinden kann. Die ursprünglich undenkbaren seelischen Zustände können so zunehmend zum Denken verwendet werden und helfen, emotionale Erfahrungen zu denken und daraus zu lernen (18). Kann diese Erfahrung vom kleinen Kind immer wieder gemacht werden, entwickelt es selbst die Fähigkeit, seine rohen Affekte zu verändern und zu denken. Analog zum Verdauungssystem könnte man sagen: Es entwickelt die Verdauungsfunktion selbst und ist immer weniger stark darauf angewiesen, dass die Mutter diese Funktion übernimmt.
Da Patientinnen mit schweren strukturellen Störungen diese Erfahrungen mit ihren primären Bezugspersonen nur unzureichend machen konnten, konnten sie diese wenig entwickeln und auch für ihre eigenen Kinder schwer ausüben. Die Mutterschaft weckt durch die Konfrontation mit den Bedürfnissen des Babys die eigenen Erfahrungen mit dem «Bemuttertwerden». Sie erfordert und ermöglicht eine neue psychische Organisation, die Stern DN als «Motherhood Constellation» beschreibt (19). Sie bringt die werdende Mutter in eine engere Verbindung mit ihren unbewussten internalisierten Beziehungen, Wünschen und Erfahrungen. Diese frühen Bindungserfahrungen beeinflussen die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind (20). Während Mütterlichkeit im Allgemeinen mit warmen, fürsorglichen Gefühlen assoziiert ist, wecken die beschriebenen Anforderungen an die Mutter und die Konfrontation mit ihren ungelösten Konflikten und unerfüllten Bedürfnissen jedoch auch starke negative Affekte wie Wut, Hass, Ängste und Trauer. Frauen, die wenig Ambivalenz tolerieren können, werden von diesen Affekten schnell überflutet. Potenziert wird die Affektflut durch nachfolgende Gefühle von Scham und Schuld, als Mutter nicht gut genug zu sein. Überfürsorgliches Verhalten, wie es für Mütter mit BPS beschrieben wird, kann in diesem Sinn als Versuch verstanden werden, negative Affekte innerhalb der Beziehung zu ihren Kindern zu verleugnen. Schwierigkeiten in den Aufgaben der Differenzierung und Trennung werden mit zunehmendem Alter der Kinder offenbar. Mütter mit BPS erleben die sich entwickelnde Eigenständigkeit ihrer Kinder schnell als Zurückweisung. Notwendige Ablösungsprozesse, die natürlicherweise mit mehr oder weniger starker Aggression verbunden sind, sind beängstigend und bestätigen die Patientinnen, nicht liebenswert zu sein und als Mütter versagt zu haben. Besondere Herausforderungen können durch kindliche Bindungstraumatisierungen entstehen, die aufgrund ihrer Häufigkeit bei Patientinnen mit BPS besonders relevant sind. Traumata werden durch die Identifizierungen der Patientinnen mit ihren eigenen primären Bezugspersonen und mit ihrem Kind in seiner Bedürftigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht wieder wach. Obwohl Patientinnen bewusst ihre Traumata keinesfalls an ihre Kinder weitergeben möchten und es oft auch nicht tun, passiert es dennoch in manchen Fällen, dass die eigenen traumatischen Erlebnisse mit den Kindern wiederholt werden. Selma Fraiberg hat sich mit diesem Phänomen in ihrem 1975 erschienenen Beitrag «Ghosts in the Nursery» beschäftigt (21). Zentral ist bei beiden von ihr geschilderten Fallbeispielen das Ausweichen der Mütter davor, den im Kontakt mit ihrem Kind ausgelösten und unerträglich erscheinenden Schmerz zu erleben. In einem der Beispiele ist die Mutter, selbst ein von ihrer Mutter verlassenes Kind mit wechselnden Bezugspersonen, nicht in der Lage, sich um ihre neugeborene Tochter zu kümmern. Auf Schreie ihrer Tochter reagiert sie nicht, sondern wirkt abwesend, gleichgültig, mit sich selbst beschäftigt. Erst als es ihr im Lauf der MutterKind-Behandlung allmählich gelingt, sich ihrer eigenen Geschichte nicht nur faktisch, sondern auch emotional zu erinnern, kann sie sich Stück für Stück ihrer Tochter
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und deren verzweifeltem Schreien zuwenden und sie trösten. Die Taubheit gegenüber den Schreien der Tochter beruht auf dem Mechanismus der «Identifikation mit dem Aggressor»: Indem sie sich mit dem gleichgültigen Verhalten ihrer Mutter identifiziert, kann sie die eigene frühere Hilflosigkeit und Verzweiflung verleugnen. Es wird angesichts der geschilderten Probleme offensichtlich, dass nicht nur die Patientinnen leiden, sondern auch die Entwicklung ihrer Kinder in vielen Bereichen gefährdet ist. Tatsächlich haben Kinder von Müttern mit BPS ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst eine Persönlichkeitsstörung zu entwickeln (22–24). Über die verschiedenen Altersspannen hinweg zeigen sich bei betroffenen Kindern Schwierigkeiten in der Emotionsregulation (25, 11). Bereits im frühen Säuglingsalter reagieren sie auf interpersonellen Stress öfter atypisch, zum Beispiel mit einem von der Mutter abgewendeten oder abwesenden Blick (26), was als Vorläufer eines unsicheren Bindungsstils gewertet werden kann. Im Alter von 12 Monaten weisen 50% der Kinder von Müttern mit BPS einen desorganisierten Bindungsstil auf, im Vergleich zu 27% der Kinder in der Vergleichsgruppe (27). Sie haben mehr Probleme in Freundschaften, geringere Fähigkeiten, Emotionen zu erkennen und zu verstehen, oft Mühe, zwischen Fantasie und Realität zu unterscheiden, und sind sich selbst gegenüber selbstkritischer (24). Sie entwickeln häufiger selbst psychiatrische Symptome wie Ängste, Suizidalität und ADHS (28). Aus den bisherigen Überlegungen tritt deutlich zutage, dass Schwangerschaft und Mutterschaft bei Patientinnen mit BPS eine kritische Lebensphase darstellen, die mit besonderen Belastungen und Risiken verbunden ist, aber aufgrund der besonderen psychischen Empfänglichkeit auch eine Chance auf Entwicklung und Veränderung birgt. In den Leitlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) sind Empfehlungen zur Unterstützung von Eltern mit BPS enthalten, die vor allem dann angeboten werden sollten, wenn dysfunktionale Elternkonstellationen vorliegen oder wenn ein erkranktes Elternteil alleinerziehend ist (29). Sie umfassen Frühinterventionen mit gemeinsamer Behandlung von Eltern und Kind und bei Bedarf die Unterbringung in einer Mutter-Kind-Institution, eine ambulante Betreuung durch MST-CAN (multisystemische Behandlung bei child abuse and neglect) oder die vorübergehende Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie. Leider gibt es bisher zu wenige spezifische therapeutische Angebote für Betroffene. In der Recherche konnte nur ein Projekt im deutschsprachigen Raum ausfindig gemacht werden (30). Neben spezifischen Angeboten hat auch die Sensibilisierung von Fachleuten, die mit Patientinnen mit BPS arbeiten, eine grosse Bedeutung. Aufgrund von Schamgefühlen und Ängsten vor Anschuldigungen sowie davor, das Sorgerecht für ihr Kind zu verlieren, verbalisieren viele Betroffene ihre Nöte nicht. Einige von ihnen haben möglicherweise als Kinder selbst schlechte und verunsichernde Erfahrungen mit Ämtern gemacht. Eine vertrauensvolle Beziehung zu Ärzten und Therapeuten, die ihre Schwierigkeiten nicht verurteilend und taktvoll ansprechen können, kann hilfreich sein.
Merkpunkte:
● Mütter mit BPS erleben in ihrer Mutterschaft mehr Stress, Gefühle von Inkompetenz und negative Emotionen. Obwohl sie sich meist sehr wünschen, ihren Kindern ein besseres Aufwachsen zu ermöglichen, laufen sie Gefahr, die Tragödien ihrer Kindheit mit dem eigenen Nachwuchs zu wiederholen.
● Besonders kritisch ist die Aufgabe, die Emotionen ihrer Kinder zu erkennen und zu regulieren. Im Kontakt mit ihnen werden oft eigene kindliche Traumatisierungen berührt.
● Kinder von Müttern mit BPS haben ein hohes Risiko, selbst eine BPS und andere psychiatrische Symptome zu entwickeln. Wichtig ist der Einbezug der Väter und eine frühe Unterstützung von betroffenen Frauen.
Wenig thematisiert wurden bisher die Väter. Sie spielen
eine wichtige Rolle als potenziell gesunder Elternteil, der
unterstützend und regulierend auf die Beziehung zwi-
schen Mutter und Kind einwirken kann. Wenn der Vater
eine eigene Beziehung zu seinem Kind aufbauen kann,
wirkt sich das protektiv auf die Entwicklung des Kindes
aus. Jedoch erleben Frauen mit BPS die Entstehung
einer triadischen Beziehung mit ihrem Kind oft als
schwierig, weil sie Gefühle von Ausgeschlossensein
schwer tolerieren können.
Und wie erleben Männer mit BPS ihre Vaterschaft? Diese
Frage wurde bisher kaum untersucht. Da Väter vermehrt
in die frühe Betreuung ihrer Kinder einbezogen werden
und sie für die emotionale Entwicklung der Kinder we-
sentlich sind, ist diese Frage wichtig. Sicher gilt vieles,
das junge Mütter mit ihren Kindern erleben, für Väter
analog. Gleichzeitig sind Unterschiede zu vermuten,
weil Männer keine ursprüngliche körperliche Symbiose
mit ihren Kindern erleben und in ihrer männlichen Ge-
schlechtsidentität in der Rolle als fürsorgliche, küm-
mernde Väter anders herausgefordert werden. Um zu
verhindern, dass Männer angesichts der für sie entste-
henden Herausforderungen als werdende Väter die Be-
ziehung zu ihren Kindern vermeiden oder gar davor
flüchten, sollten diese Fragen dringend weiter unter-
sucht und thematisiert werden.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Anna Hertweck Oberärztin Psychotherapeutische Tagesklinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm-Klein-Str. 27 4002 Basel
E-Mail: anna.hertweck@upk.ch
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