Transkript
KONGRESS AKTUELL
EAN-Kongress 2023
Aktuelle Studiendaten zur Multiplen Sklerose
Angesichts des sehr variablen Verlaufs der Multiplen Sklerose werden prognostische Biomarker dringend benötigt. Mehrere im Rahmen des Jahreskongresses der European Academy of Neurology (EAN) in Budapest vorgestellte Studien beschäftigten sich mit der Validität neuer prognostischer Marker. Ebenfalls präsentiert wurden Langzeitdaten zum Vergleich der autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation mit Natalizumab.
E ine Studie der Universität Innsbruck legt nun nahe, dass der Zustand der Netzhaut bei klinischer Erstpräsentation einer schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose (MS) als Prädiktor für die Behinderungsprogression herangezogen werden kann. Konkret untersucht wurden die Dicke der peripapillären retinalen Nervenfaserschicht (peripapillary retinal nerve fiber layer, pRNFL) sowie der makulären Ganglienzellschicht und der inneren plexiformen Schicht. Beide Parameter können mittels optischer Kohärenztomografie (OCT) relativ einfach und nicht invasiv gemessen werden. In einer Kohorte von 231 Patientinnen und Patienten erwiesen sich diese Parameter als signifikant assoziiert mit der Behinderungsprogression, konkret dem Erreichen eines bestätigten EDSS-Scores ≥ 3,0 (Expanded Disability Status Scale) innerhalb einer medianen Beobachtungszeit von 60 (12– 93) Monaten (1). Damit biete sich die OCT als geeignete Untersuchung zur Bestimmung der Prognose bei neudiagnostizierter MS an, so Studienautor PD Dr. Gabriel Bsteh von der Medizin-Universität Innsbruck (A), der auch auf die Limitationen der Studie hinweist. So sind die untersuchten Veränderungen der Netzhaut nicht spezifisch für die MS und können beispielsweise auch bei Augenerkrankungen auftreten. Auch ist der Einsatz von OCT in mehrfacher Hinsicht limitiert. Diese kann beispielsweise bei ausgeprägter Myopie nicht durchgeführt werden und ist auf neurologischen Abteilungen meist nicht verfügbar, was eine enge Kooperation mit der Ophthalmologie erforderlich mache. Zwei weitere etablierte Biomarker für die Bestätigung einer MS-Diagnose, die möglicherweise auch als Prädiktoren für den weite-
ren Verlauf genützt werden können, sind Kappa freie Leichtketten (κ-FLC) und Neurofilament Leichtketten (sNfL). Da diese beiden Marker unterschiedliche pathologische Prozesse widerspiegeln, bietet sich eine kombinierte Nutzung an. Während die κ-FLC Bruchstücke von Antikörpern sind, die in den Liquor gelangen, handelt es sich bei den sNfL um Reste zerstörter Axone. Für beide Biomarker konnte gezeigt werden, dass sie mit Krankheitsaktivität bei früher MS assoziiert sind (2). Nun wurde in einer Studie mit 86 Patientinnen und Patienten mit früher MS die Frage gestellt, ob die gemeinsame Bestimmung dieser Biomarker die Aussagekraft erhöht. Tatsächlich erwiesen sich über 4 Jahre sowohl der κ-FLC-Index als auch der sNfL-Z-Score als unabhängige Prädiktoren für Schübe. Darüber hinaus war jedoch die Kombination der beiden Parameter besonders aussagekräftig. Waren beide Marker deutlich erhöht, so kam es in praktisch allen Fällen zu Schüben. Die Chance, über 12 Monate schubfrei zu bleiben, betrug lediglich 2%. Lagen beide Marker im unteren Bereich, betrug das Schubrisiko lediglich rund 10% (3). Zwar betonen die Autoren, dass bei früher MS der Einsatz von DMT grundsätzlich indiziert ist, weisen jedoch darauf hin, dass etliche Betroffene die Therapie verweigern. In solchen Fällen könne eine bessere Abschätzung der Prognose hilfreich und unter Umständen motivierend sein.
Langfristige Vorteile für die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation Im Rahmen des EAN-Kongresses wurden auch aktuelle Daten zum Einsatz der autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation
(aHSCT) in der Behandlung der aggressiven/ hochaktiven schubförmigen MS vorgestellt. Dabei zeigte sich, dass die aHSCT im Vergleich zu Natalizumab im Hinblick auf PIRA (progression independent of relapse activity) über vier Jahre keinen Vorteil bringt, wobei die PIRA-Raten in beiden Armen niedrig waren. Ein längeres Beobachtungsintervall veränderte das Bild, denn im Natalizumab-Arm mussten fast alle Patienten die Therapie im Verlauf der Studie abbrechen, wofür mehrheitlich der John-Cunningham-Virus-(JCV-)Titer ausschlaggebend war. Nach Umstellung auf weniger wirksame DMT kam es auch zu mehr Behinderung. So wurde nach 8 Jahren in der Natalizumab-(plus folgende DMT-)Gruppe bei 64% der Patienten eine Behinderungsprogression festgestellt, was in der aHSCT-Gruppe lediglich bei 11 Prozent der Kohorte der Fall war. Hinsichtlich der PIRA zeigte sich bei längerer Beobachtungszeit und damit vielen Natalizumab-Abbrüchen ebenfalls ein deutlicher Vorteil für die Stammzelltransplantation (11 vs. 42% nach 8 Jahren), wobei die Signifikanz allerdings knapp verfehlt wurde (p = 0,068). Ein sehr deutlicher Vorteil zeigte sich hingegen für die aHSCT-Gruppe im Hinblick auf die Schubaktivität: aHSCT-Patienten waren über 8 Jahre schubfrei, während es in der Natalizumab-Gruppe innerhalb von 5 Jahren bei 79 Prozent zu Schüben kam (4). l
Reno Barth
Quelle: Jahreskongress der European Academy of Neurology, 1. bis 4. Juli in Budapest.
Referenzen: 1. Bsteh G et al.: Retinal layer thickness predicts disability
accumulation in early relapsing multiple sclerosis. OPR008, presented at EAN 2023, Budapest. 2. Hegen H et al.: Kappa free light chain and neurofilament light independently predict early multiple sclerosis disease activity-a cohort study. EBioMedicine. 2023;91:104573. 3. Hegen H et al.: Kappa free light chain and neurofilament light independently predict early multiple sclerosis disease activity. OPR-009, presented at EAN 2023, Budapest. 4. Mariottini A et al.: Autologous hematopoietic stem cell transplantation may halt PIRA in early relapsing-remitting multiple sclerosis. OPR-017, presented at EAN 2023, Budapest.
4/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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