Transkript
FORTBILDUNG
Diversity
Augenblick im Regenbogen
Foto: zVg
Eric Morel
Es werde Sexualität. Und es wurde Sexualität. Und Sexualität wurde bunt. Ist es nicht wunderbar, dass Sexualität auf der Erde existiert, dieses im unendlichen und kalten Raum verlorenes winziges Steinchen? Ist es auch nicht wunderbar, dass wir Menschen das zelluläre Netzwerk haben, um die Sexualität zu geniessen? Jenseits vom Geschlechtsverkehr beinhaltet Sexualität eine riesige Palette von Wahrnehmungen, Emotionen und Erfahrungen. Schon seit der Antike wurde diese Vielfalt konzeptualisiert, kategorisiert und organisiert. Seit dem 19. Jahrhundert involviert sich die Ärzteschaft und dies nicht immer mit den besten Ideen. In den letzten Dekaden erlebt unsere europäische Gesellschaft eine regenbogenfarbige Entwicklung von neuen Konzepten, die das Verständnis über Sexualität erweitern. Mit diesem Artikel dürfen Sie einige von diesen Kernkonzepten entdecken und hoffentlich die Sexualität noch mehr geniessen.
von Eric Morel
F reud bezeichnet Homosexualität in seinem Werk «Drei Abhandlungen für Sexualtheorie» als «Inversion». Eine solche Aussage anfangs des 20. Jahrhunderts erscheint uns altmodisch und konservativ. Damals befand sich diese Definition im Rahmen einer Bewegung medizinischer Behandlung der Homosexualität, die im 19. Jahrhundert begann (1, 2). Seitdem hat Homosexualität im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine unerwartete Entwicklung erlebt, deren medizinischer Höhepunkt am 17. Mai 1990 mit der Entfernung der Homosexualität aus der Liste der psychiatrischen Erkrankungen seitens der Weltgesundheitsorganisation stattfand. Parallel und unterstützend zur Änderung der medizinischen Behandlung wurden in Europa auch Rechte gewährt, z. B. eingetragene Partnerschaft ab 1989 in Dänemark, Ehe für alle ab 2001 in den Niederlanden. Heutzutage ist die Situation von homosexuellen Menschen in Europa deutlich besser, 15 Länder erkennen die Ehe für alle an (3). Trotzdem sind diskriminierende Massnahmen und Angriffe gegenüber Homosexuellen leider nicht verschwunden (4, 5). Im Kampf um die Rechte von sexuellen Minderheiten steht Homosexualität historisch im Vordergrund, jedoch repräsentiert sie eigentlich einen kleinen Teil einer breiten Bewegung. Zahlreiche Konzepte und Bezeichnungen sind seit Langem oder Kurzem unter dem Dachkonzept von sexuellen Minderheiten zu verstehen und werden mit dem Akronym LGBTQIA+ bezeichnet. Das Akronym steht für lesbian, gay, bisexual, transsexual, queer, intersexual, asexual und das Pluszeichen steht für jene, die sich nicht innerhalb der binären Geschlechtereinteilung oder Heteronormativität identifizieren (6). Natürlich kann diese Vielfalt, die sogenannte Diversity,
schwierig zu verstehen sein, insbesondere wenn Konzepte wie Sexualorientierung und Genderidentität eine komplett neue Weltanschauung darstellen. Dieser Artikel strebt nach mehr Klarheit für Neurologen und Psychiater, die diese Bezeichnungen nicht kennen, und versucht einige wichtige Konzepte sowie praktische Empfehlungen im Umgang mit der LGBTQIA+-Thematik näherzubringen.
Genderbread-Person Zur Veranschaulichung der LGBTQIA+-Konzepte kann das Gender-Gingerbread behilflich sein (Abbildung) (6). Bei der Geburt werden Geschlechtsorgane (Abbildung, Ziffer 1) in der Regel phänotypisch bestimmt, traditionellerweise männlich vs. weiblich und deren Entwicklung von sekundären sexuellen Charakteristika im Lauf des Lebens. Die Natur ist nicht dichotom: Ein Teil der Neugeborenen – anteilsmässig gering (7), aber existierend – präsentieren Variationen der sexuellen Entwicklung. Unter diesen Variationen zählen beispielsweise Intersexuelle und Hermaphroditen. Zwecks einer nicht belästigenden Bezeichnung der betroffenen Personen wird hier das Wort «Variationen» und nicht der gewöhnlich verwendete Ausdruck «Störungen der sexuellen Entwicklung» (disorders of sexual development) benutzt. Schon in der Kindheit entwickelt sich die Genderidentität (Abbildung, Ziffer 2), das heisst, das persönliche Identifikationsgefühl mit einem Gender und dessen psychologischen sowie kulturellen Aspekten. Üblicherweise ist eine Person mit männlichen Geschlechtsorganen (Penis und Hoden) als Mann bezeichnet, respektive als Frau bei weiblichen Geschlechtsorganen (Vulva). Inwiefern die Genderidentität natur- und/oder kulturbedingt ist, ist weiterhin Gegenstand laufender gesellschaftlicher Debatten, die den Rahmen dieses Textes
4/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
23
FORTBILDUNG
2
4
5 1
3
Abbildung: Schematische Darstellung von den Kernkonzepten der sexuellen Vielfalt (Grafik: E. Morel)
sprengen würden. Wichtig zu wissen ist, dass verschiedene Variationen zu den traditionellen binären Genderidentitäten Mann-Frau existieren: z. B. agender (sich in keinem Gender erkennen), bigender (sich in beiden Gender Mann/Frau wiedererkennen), genderfluid (sich in Elementen von beiden Gender erkennen und zwischen beiden fluktuieren), nicht-binär (sich in der binären Verteilung Mann/Frau nicht identifizieren) oder queer (sich weder als heterosexuell noch cisgender erkennen). Cisgender bedeutet, dass eine Person sich mit dem bei ihrer Geburt zugeordneten Gender identifiziert; transgender hingegen, dass eine Person sich mit einem anderen Gender identifiziert. In Beziehung mit der Genderidentität steht der Genderausdruck (Abbildung, Ziffer 3). Mit Genderausdruck ist das biologische, kulturelle und soziale Verhalten gemeint, das einem gewissen Gender entspricht (üblicherweise Mann vs. Frau). Ein traditionelles Beispiel ist die Zuschreibung von Farben bei Kindern: rosa für Mädchen und blau für Buben. Der Genderausdruck umfasst praktisch alles: Kleidung, Schmuck, Werkzeuge, Verhalten auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft, Ausdruck von Emotionen usw. Die Ziffer 4 in der Abbildung steht für die sexuelle und emotionale Orientierung. Damit wird die Anziehung auf die geschlechtliche respektive emotionale Ebene in Abhängigkeit vom Gender der anziehenden Person bezeichnet. Traditionell sind Hetero- und Homosexualität bekannt, aber Menschen identifizieren sich mit unterschiedlichen Sexualitäten: z. B. Bisexualität (sich von Männern und Frauen angezogen fühlen), Pansexualität (sich nicht von einem Gender, sondern von Personen – genderunabhängig – angezogen fühlen), Asexualität
(grundsätzlich kein Interesse an Sex) oder Aromantismus (kein Interesse an romantischen Beziehungen). Schliesslich wird das Geschlechtsverhalten definiert (Abbildung, Ziffer 5). Hier handelt es sich um unterschiedliche geschlechtliche Beziehungen (Position, Frequenz, Partner usw.). Mit diesen fünf Kernkonzepten, die sich in mehrere Subkategorien unterteilen lassen, wird die Vielfalt der menschlichen Sexualität etwas klarer, obwohl (aus praktischen Gründen) längst nicht alle Definitionen und Konzepte aufgelistet wurden. Zu betonen ist, dass sich diese Subkategorien in zahlreichen Kombinationen organisieren lassen. Beispielsweise kann eine Person mit einer Vulva geboren werden, sich mit der Genderidentität als Frau identifizieren, von Männern sexuell angezogen fühlen und sexuell aktiv sein, sich aber ausschliesslich von Frauen romantisch angezogen fühlen. Eine andere Person wiederum, die mit Penis und Hoden auf die Welt kommt, kann sich als genderfluid identifizieren, ein nicht-genderspezifisches Verhalten haben (z. B. Kleidung tragen, die traditionell als weiblich angesehen wird), sich als pansexuell definieren und Sex vor allem mit Frauen und weniger mit Männern haben. Es gibt also eine quasi unendliche Vielfalt an Kombinationen.
Überlegungen für die klinische Praxis Zwar sind die LGBTQIA+-Aspekte für viele Krankheitsbilder hinsichtlich rein diagnostischer und therapeutischer Massnahmen nicht besonders relevant. Dennoch ist es sehr wichtig, sich dieser Thematik bewusst zu werden, da der Zugang zum Gesundheitssystem für LGBTQIA+-Personen davon abhängt. In einem ersten Schritt ist es wichtig, dass praktizierende Ärzte sich dieser Vielfalt bewusst werden und sich damit auseinandersetzen. Die Existenz der sexuellen Minderheiten stellt das traditionelle heterosexuelle CisgenderSystem infrage, insofern als dass sie eine Alternative anbieten. Aber die sexuellen Minderheiten sind nicht hier, um die Heterosexualität und das Cisgender zu ersetzen, sondern neben der Heterosexualität auf gleicher Augenhöhe leben zu können. Die Entdeckung dieser Vielfalt kann überraschend sein, was die medizinische Behandlung durch z. B. eine inadäquate Neugier erschweren kann. Während der Kampagne gegen die LGBTQIA+-Phobie im Jahr 2020 in Genf wurde beispielsweise über den Fall einer Transperson berichtet, die eine Verstauchung vom Obersprungsgelenk erlitten und sich auf der Notfallstation vorgestellt hatte. Dort hatte das Gesundheitspersonal aus Neugier verlangt, ihre Genitalien zu sehen, obwohl die Person keine Beschwerden diesbezüglich hatte. Auf höherer Ebene sind pseudowissenschaftliche Interventionen (z. B. Konversionstherapien) zu verurteilen und zu verhindern, die darauf abzielen, die Genderidentität und/oder die Sexualorientierung zu ändern, um ein Entsprechen mit einem vermeintlichen heterosexuellen Cisgender-Idealmodell zu erreichen. Ein Beispiel in der Schweiz hat vor einigen Jahren gezeigt, dass solche Interventionen noch immer stattfinden (8). In der klinischen Praxis ist es besonders wichtig, diskriminierendes Verhalten zu vermeiden und jeden Patienten respektvoll zu behandeln. Das gilt selbstverständlich für verbale sowie auch nicht-verbale Kommunikation.
24
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
4/2023
FORTBILDUNG
Als homosexueller Cisgender-Mann, der auch zum Arzt muss, kann ich persönlich aus eigener Erfahrung sagen, dass sogar eine empfundene diskrete Ablehnungshaltung von ärztlicher Seite die Beziehung erschweren und negative Konsequenzen für die medizinische Behandlung haben kann. Zur Erinnerung muss betont werden, dass sich die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten negativ auf deren Gesundheit auswirkt, zum Beispiel auf die psychische Gesundheit (9). Hier sind noch ein paar konkrete Aspekte, die ich in meiner Praxis angewendet habe. Während der Sozialanamnese frage ich nicht, ob der Patient eine Ehefrau hat oder ob die Patientin einen Ehemann hat, sondern ob sie mit jemanden leben, was auch andere, nichtLGBTQIA+ Lebensmodelle respektiert (z. B. mit den Kindern oder Eltern wohnen). Wenn eine Person mit ihrem gleichgeschlechtlichen Partner kommt, interagiere ich mit dem Partner/der Partnerin so wie ich mit einem heterosexuellen Paar interagieren würde. Bei einer Transperson frage ich, welches Pronomen gewünscht wird und benutze es, unabhängig davon ob das Pronomen dem offiziellen oder aktuell phänotypischen Gender entspricht oder nicht. Fehler sind dabei ein Teil des Lernprozesses. Ich habe beispielsweise einmal einen zirka 30-jährigen Patienten gesehen, der mit einem etwa 25 bis 30 Jahre älteren Mann in die Sprechstunde kam. Am Anfang der Sprechstunde habe ich den älteren Mann gefragt, ob er der Vater sei, worauf der Patient mitgeteilt hat, dass dieser sein Partner sei. Ich habe mich anschliessend entschuldigt und die Sprechstunde weitergeführt.
Fazit LGBTQIA+-Patienten sind eine besondere Menschengruppe mit einer riesigen Vielfalt an Lebensläufen. Leider sind diese Menschen häufig von Diskriminierungen betroffen, die sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit verschlechtern können. Selbstverständlich kann diese Vielfalt neu und unbekannt sein, was zu Gefühlen der Überforderung oder Hilflosigkeit führen kann. Deshalb ist es wichtig, sich mit der LGBTQIA+-Thematik auseinanderzusetzen und diese besser kennenzulernen. LGBTQIA+-Leben sollte unpro-
blematisch sein und keinen negativen Einfluss auf die
medizinische Versorgung haben. Ziel ist einerseits,
dass sich LGBTQIA+-Patienten vertrauensvoller an das
Gesundheitssystem wenden können, und anderer-
seits, dass Ärzte ihre Patienten adäquat gemäss dem
antiken Ideal «zum Nutzen des Kranken» behandeln
(10).
l
Korrespondenzadresse: Dr. med. Eric Morel
Rehaklinik Tschugg AG Oberdorf
3233 Tschugg E-Mail: eric.morel@rehaklinik-tschugg.ch
Danksagung: Ich bedanke mich bei José Kress, Freund und Journalist, für seine wertvollen Ratschläge.
Referenzen: 1. Leroy-Forgeot F: Histoire juridique de l’homosexualité en Europe.
1997. Paris, Presses Universitaires de France. 2. Delessert T et al.: Homosexualités masculines en Suisse, Presses
polytechniques et universitaires romandes. De l'invisibilité aux mobilisations, Lausanne, Presses polytechniques et universitaires romandes, 2012. 3. Rainbow Europe. https://rainbow-europe.org/#1/8682/0. Letzter Abruf: 23.5.23. 4. Un nombre record d’attaques contre la communauté LGBTQI en Suisse. 2023. In: rts.ch. https://www.rts.ch/info/suisse/14030008-unnombre-record-dattaques-contre-la-communaute-lgbtqi-en-suisse. html. Letzter Abruf: 23.5.23. 5. En Italie, le gouvernement Meloni s’en prend aux familles arc-enciel. 2023. In: rts.ch. https://www.rts.ch/info/monde/14027568-enitalie-le-gouvernement-meloni-sen-prend-aux-familles-arcenciel. html. Letzter Abruf: 23.5.23. 6. The Gender-Gingerbread Person version 3. It’s pronounced metrosexual. In: It’s Pronounced Metrosexual. https://www. itspronouncedmetrosexual.com/2015/03/the-genderbreadperson-v3/. Letzter Abruf: 23.5.23. 7. García-Acero M et al.: Disorders of Sexual Development: Current Status and Progress in the Diagnostic Approach. Curr Urol 2020;13:16-178. https://doi.org/10.1159/000499274. 8. Enquête à Genève contre le médecin qui dit «soigner» l’homosexualité. 2018. In: rts.ch. https://www.rts.ch/info/regions/ geneve/9776937-enquete-a-geneve-contre-le-medecin-qui-ditsoigner-lhomosexualite.html. Letzter Abruf: 24.5.23. 9. de Lange J et al.: Minority stress and suicidal ideation and suicide attempts among LGBT adolescents and young adults: a metaanalysis. LGBT Health. 2020;9:222-237. https://doi.org/10.1089/ lgbt.2021.0106. 10. ÄrtzeZeitung, Hippokratischer Eid. https://www.aerztezeitung.de/ Politik/Der-Eid-des-Hippokrates-269137.html. Letzter Abruf: 24.07.2023.
4/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
25