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FORTBILDUNG
Sicht einer Assistenzärztin an einem universitären Neurozentrum
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Foto: zVg
Elke Meier
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für junge Ärzte auch im Jahr 2023 weiterhin eine Herausforderung. Mentoringprogramme und Leitlinien bieten dabei sowohl Ärzten als auch den Arbeitgebern Unterstützung bei dieser Aufgabe, die mit den richtigen Rahmenbedingungen durchaus umsetzbar ist.
von Elke Meier
Ausgangslage 2021 betrug der Frauenanteil bei den eidgenössischen Diplomen in Humanmedizin insgesamt 59%. Das Durchschnittsalter bei Diplomerwerb betrug 27 Jahre (1). Das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden in der Schweiz liegt bei 30,6 Jahren (2). Die Facharztausbildung Neurologie nimmt bei einem 100%-Pensum jedoch mindestens sechs Jahre in Anspruch. Egal, ob die Familienplanung während oder nach Abschluss der Facharztausbildung angestrebt wird: die Vereinbarkeit von Schwangerschaft/Familie beziehungsweise Familiengründung und Beruf ist unabdingbar, wenn man ein vorzeitiges Ausscheiden der Ärztinnen aus dem Beruf verhindern möchte. Insbesondere wenn man bedenkt, dass Medizinstudierende der Generationen Y (Geburtsjahrgänge 1981–1995) und Z (Millennials, Geburtsjahrgänge 1996–2010) dem Privatleben eine höhere Priorität als dem Beruf beimessen (3) und gleichzeitig ein zunehmender Fachkräftemangel besteht (4).
Überzeitkultur Die gemäss Arbeitsgesetz zulässige Höchstarbeitszeit von 50 Stunden pro Woche wird immer noch systematisch überschritten. So betrug die durchschnittliche Arbeitszeit 2019 bei einem 100%-Pensum 55,7 Stunden. Diese konsequente Überlastung wirkt sich auf die Gesundheit der Betroffenen aus, sie äussert sich mit Übermüdung sowie körperlicher und emotionaler Erschöpfung (5). Darüber hinaus konnte die WHO in systematischen Reviews eine erhöhte Morbidität und Mortalität durch koronare Herzerkrankungen und Hirnschläge (ischämisch oder hämorrhagisch) bei einer Arbeitszeit ≥ 55 Wochenstunden nachweisen (6, 7). Wie kann es sein, dass Ärzte, die täglich zur Gesundheit und Lebensqualität ihrer Patienten beitragen, durch ihre eigene Arbeit gesundheitlich systematisch gefährdet werden und ihnen gleichzeitig häufig kaum Zeit für ein Privat- bzw. Familienleben bleibt?
Der Weg zur Familie Schon bei der Familienplanung stellt das in der Regel gängige Weiterbildungsprogramm mit häufigem Stellenwechsel und befristeten Arbeitsverträgen eine Hürde dar. Der VSAO rät in seinem Leitfaden zur Förderung von Teilzeitarbeit, dass befristete Arbeitsverträge im Fall einer Schwangerschaft mindestens bis nach dem Mut-
terschaftsurlaub verlängert werden (8), wie dies bereits in vielen Kliniken gehandhabt wird. Darüber hinaus ist ein Kulturwandel in der Medizin notwendig, denn auch heute wird ein Kind häufig noch als Karriereende einer Mutter angesehen. Es erstaunt daher nicht, dass mehr als die Hälfte aller Ärztinnen bereits Diskriminierung am Arbeitsplatz wegen ihres Geschlechts, einer Schwangerschaft oder Elternschaft erlebt haben (5), oder dass viele Frauen den Zeitpunkt der ersten Schwangerschaft hinauszögern. Das führt so weit, dass in einer amerikanischen Studie eine erhöhte Infertilitätsrate bei Ärztinnen festgestellt wurde (24,1% aller Befragten), unter anderem aufgrund einer zu geringen ovariellen Reserve (9).
Mit Teilzeitstellen ist es nicht getan 2020 besassen 37,4% der berufstätigen Ärzte ein ausländisches Diplom (10). Um künftig soweit möglich nicht auf ausländische Fachkräfte angewiesen zu sein, ist ein Teilzeitangebot notwendig, damit die Arbeitgeber, insbesondere die Spitäler, für gut ausgebildete Schweizer Ärzte mit Wunsch nach Teilzeitarbeit (ob mit oder ohne Familie) attraktiv und konkurrenzfähig bleiben. Allerdings ist es damit nicht getan. Die langen Arbeitstage von Ärzten überschreiten einerseits die Öffnungszeiten der meisten Kindertagesstätten, andererseits sind solch lange Tage insbesondere Kleinkindern kaum zumutbar. Ein strukturierter Tagesablauf mit Planung der Präsenzzeiten zwischen frühestens 8 und spätestens 17 Uhr sowie der Möglichkeit von Homeoffice zur Erledigung von Bürotätigkeiten (beispielsweise durch einen Remote-Zugriff ) können hier Entlastung bringen. Zusätzlich braucht es eine verlässliche Dienstplanung, damit eine gegebenenfalls notwendige, zusätzliche Kinderbetreuung (z. B. bei Wochenend- und/ oder Feiertagsdienst) frühzeitig organisiert werden kann. Praktische Unterstützung bietet hier ein vom VSAO (Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte) veröffentlichter Leitfaden zur Förderung von Teilzeitarbeit (8) sowie die Wegleitung zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben von Spitalärzten der Hochschule für angewandte Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz (11). Natürlich sind solche Massnahmen in einem grossen Team wie man es an einem Universitätsspital findet leichter umsetzbar. Allerdings sollte unabhängig von der Grösse der Klinik stets versucht werden, den Dienstplan mindestens drei Monate im Voraus bereitzustellen. Auch allfällige Personalfluktuationen (Krankheit, Kündi-
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Merksätze:
● Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist auch für Ärzte machbar, erfordert aber gewisse Rahmenbedingungen vonseiten der Arbeitgeber.
● Diese Rahmenbedingungen beinhalten unter anderem eine vorausschauende, verlässliche Dienstplanung, gut strukturierte Arbeitstage, die Möglichkeit der Teilzeitarbeit sowie einen Remote-Zugriff.
● Die Arbeitgeber, insbesondere Spitäler, müssen künftig familienfreundliche Arbeitsbedingungen schaffen, um konkurrenzfähig zu bleiben.
● Durch geeignete Massnahmen profitiert das Gesundheitswesen von motivierten, engagierten und effizienten Mitarbeitern und verhindert deren Ausscheiden aus dem Arztberuf.
gung) können durch eine geeignete Dienstplanung abgefedert werden.
Lohnunterschiede Frauen verdienen in der Gesamtwirtschaft gemäss Bundesamt für Statistik durchschnittlich 18% weniger als Männer (12). Geht man in der Medizin von einem gleichen Bildungsniveau sowie einer gleichen Bezahlung beider Geschlechter bei gleicher Funktion aus, so bleiben die Faktoren der Anzahl Dienstjahre (Verlängerung der Weiterbildungszeit infolge Mutterschaft und Teilzeitarbeit) sowie die geringere Besetzung von (Kader-) Positionen durch Frauen aufgrund eingeschränkter Karriereoptionen im Fall einer Mutterschaft. Darüber hinaus streben Frauen im Vergleich zu männlichen Kollegen niedrigere berufliche Karriereziele an und planen Familie bzw. Kinder früher in ihre Karriere ein (13). Dies wiederum schlägt sich auch bei der Wahl des Facharzttitels nieder. So werden beispielsweise chirurgische Fächer seltener von Frauen gewählt beziehungsweise häufig als nicht familienkompatibel angesehen (14, 15). Aus den genannten Gründen ergibt sich langfristig ein geringerer Verdienst inklusive geringeren Pensionskassenbeiträgen. Und dies, obwohl ein 80%-Pensum in der Medizin zumindest während der Weiterbildungszeit erfahrungsgemäss 40 Wochenstunden entspricht, entgegen den in anderen Branchen üblichen 42 Wochenstunden für ein 100%-Pensum. Dazu ist die ungleiche Behandlung für Teilzeitarbeit in Bezug auf den Koordinationsabzug zu berücksichtigen. Um Teilzeitangestellte nicht zu benachteiligen, schlägt der VSAO daher eine Anpassung des Koordinationsabzugs proportional zum Beschäftigungsgrad vor (8).
Meine persönliche Erfahrung Trotz aller Hindernisse weiss ich aus persönlicher Erfahrung, dass Familie und Beruf durchaus vereinbar sein können. Folgende Punkte waren hierfür unterstützend: l Möglichkeit zur Verlängerung des gesetzlich vorge-
schriebenen Mutterschaftsurlaubs in Form von unbezahltem Urlaub. l Flexible Wahl des Arbeitspensums mit fixen freien Tagen pro Woche l Unterstützung von Teilzeitarbeit durch den Arbeitgeber meines Mannes (ebenfalls Arzt). l Remote-Zugriff, um die Klinik pünktlich verlassen und administrative Aufgaben nötigenfalls zu einem späteren Zeitpunkt abschliessen zu können.
l Eine verlässliche und langfristige Dienstplanung, damit eine Kinderbetreuung falls nötig frühzeitig organisiert werden kann.
l Vorleben dieser Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch durch Vorgesetze im Sinne eines Kulturwandels hin zu einem familienfreundlichen Arztberuf.
Ich bin persönlich davon überzeugt, dass eine Förderung dieser Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu zufriedeneren, empathischeren, effizienteren und motivierteren Mitarbeitern führt und somit auch für die Arbeitgeber einen Benefit darstellen.
Hilfe zur Selbsthilfe Was aber tun, wenn der Arbeitgeber (noch) keine familienfreundlichen Modelle anbietet, oder wenn man sich fragt, wie man Familie, Karriere und weitere Prioritäten gemäss den eigenen (Wert-)Vorstellungen (beispielsweise in Teil- oder auch Vollzeitstelle) unter einen Hut bekommt? Neben Beratung durch den VSAO (z. B. als Vermittlerrolle) sowohl für Ärzte als auch für die Kliniken gibt es auch zahlreiche Mentoringprogramme.
Mentoringprogramme und Anlaufstellen
l WIN: Women in Neurology, Unterstützung und Ver-
besserung der Chancengleichheit und der Karriere-
möglichkeiten für Frauen im Fachgebiet Neurologie.
l medical women switzerland: Sie vertreten die Inter-
essen von Medizinstudentinnen, Ärztinnen in Wei-
terbildungen sowie Ärztinnen aller Fachrichtungen,
Positionen und Regionen.
l Telefoncoaching des VSAO zur Vereinbarkeit von
Beruf und Familie
l Coach my Career Mentoring Programm der FMH:
Das Programm richtet sich an Medizinstudierende
vor Studienabschluss, Ärztinnen und Ärzte in Weiter-
bildung und junge Oberärztinnen und -ärzte. Dieses
soll ihnen helfen, für sie einen langfristig passenden
Platz im Gesundheitssystem zu finden.
l Mentoring for Women: Mentoring-Programm der
Medizinischen Fakultät der Universität Bern und der
NFS TransCure für Frauen, die eine akademische Kar-
riere anstreben.
l Filling the Gap: Laufbahnförderungsprogramm der
Universität Zürich für Ärztinnen und Ärzte sowie
Zahnärztinnen und Zahnärzte, die eine akademische
Karriere anstreben.
l Aiming higher: Karriereentwicklung für Assistenzärz-
tinnen. Programm der Universität St. Gallen mit On-
linetrainings und Live Events. Achtung: Kostenpunkt
5000 Franken.
l
Interessenkonflikte: keine
Korrespondenzadresse: Dr. med. Elke Meier
Universitätsklinik für Neurologie Inselspital
Freiburgstrasse 3010 Bern
E-Mail: elke.schegk@insel.ch
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Referenzliste: 1. Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS: Ärztinnen und
Ärzte 2021. Bundesamt für Gesundheit BAG; 2022. https://www.bag. admin.ch/dam/bag/de/dokumente/berufe-gesundheitswesen/ medizinalberufe/statistiken/med/aerztinnen-aerzte-2021.pdf. download.pdf/Aerztinnen_und_Aerzte_2021_DE.pdf. Letzter Zugriff: April 2023. 2. Eurostat Press Office: Births and fertility; 2017. https://ec.europa.eu/ eurostat/documents/2995521/7898237/3-08032017-AP-EN.pdf/ b17c1516-faad-4e65-b291-187826a7ac88. Letzter Zugriff: April 2023. 3. Sorg H et al.: Wie wichtig ist heute noch eine akademische Karriere in der Medizin? Eine Befragung von Medizinstudierenden in Deutschland: Ergebnisse des Studienarms XIII der KARiMED-Studie. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 2023. doi:10.1016/j.zefq.2022.10.004. 4. Angerer A et al.: Das Schweizer Spitalwesen: Eine Managementperspektive. Branchenreport des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie. ZHAW School of Management and Law; 2016/2017. doi:10.21256/zhaw-1186. 5. Rütter J: Arbeitssituation der Assistenz und Oberärztinnen und -ärzte Management Summary 2020. Demo SCOPE AG, Erstellt für: Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (vsao); 2020. https://vsao.ch/wp-content/uploads/2020/05/AU_ Auswertung_Management-Summary_DE_20200511_V01.00.pdf. Letzter Zugriff: April 2023. 6. Descatha A et al.: The effect of exposure to long working hours on stroke: A systematic review and meta-analysis from the WHO/ILO Joint Estimates of the Work-related Burden of Disease and Injury. Environment International. 2020;142:105746. doi:10.1016/j. envint.2020.105746. 7. Li J et al.: The effect of exposure to long working hours on ischaemic heart disease: a systematic review and meta-analysis from the WHO/ ILO Joint Estimates of the Work-related Burden of Disease and Injury. Environment International. 2020;142:105739. doi:10.1016/j. envint.2020.105739. 8. Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte: Leitfaden zur Förderung von Teilzeitarbeit für Ärztinnen und Ärzte. Published online June 2012. Accessed 04/2023 https://vsao.ch/ wp-content/uploads/2021/06/AU_Hauptrubrik-Arztberuf-undFamilie_Unterrubrik-Foerderung-Teilzeit_Leitfaden_DE_20210624_ V01.00.pdf. Letzter Zugriff: April 2023. 9. Stentz NC et al.: Fertility and childbearing among american female physicians. J Womens Health (Larchmt). 2016;25(10):1059-1065. doi:10.1089/jwh.2015.5638. 10. Hostettler S. et al.: FMH-Ärztestatistik 2020 – die Schweiz im Ländervergleich. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(12):417-422. doi:https://doi.org/10.4414/saez.2021.19698. 11. Frey J et al.: Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben von Spitalärztinnen und -ärzten: Eine Wegleitung; 2023. www.fhnw.ch/ vereinbarkeit-im-spital-wegleitung-de. Letzter Zugriff: April 2023. 12. Bundesamt für Statistik: Analyse der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern. Der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern hat sich im Jahr 2020 insgesamt verringert; 2022. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neueveroeffentlichungen.assetdetail.23546993.html. www.fhnw.ch/ vereinbarkeit-im-spital-wegleitung-de. 13. Sorg H et al.: Academic careers in medicine: a sex-related analysis of career goals. Gesundheitswesen. 2023. doi:10.1055/a-1974-8423. 14. Ahmed A et al.: Gender trends in applicants to general surgery residency programs in Canada. J Pediatr Surg. 2023;58(5):917-924. doi:10.1016/j.jpedsurg.2023.01.042. 15. Knell J et al.: The challenges of parenthood for female surgeons: the current landscape and future directions. J Surg Res. 2023;288:A1-A8. doi:10.1016/j.jss.2023.02.042.
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