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FORTBILDUNG
Transkulturelle Aspekte von Essstörungen: ein Beispiel für den Beitrag der Sozialwissenschaften zu Forschung und klinischer Praxis
Essstörungen werden traditionell als ein westliches Phänomen betrachtet, wobei sich die meisten Forschungen und Behandlungsrichtlinien auf weisse Frauen der Mittelschicht beziehen. Jüngste Studien haben jedoch gezeigt, dass Essstörungen nicht auf eine bestimmte Kultur oder ethnische Gruppe beschränkt sind. Vielmehr werden sie zunehmend als ein globales Problem erkannt, das Menschen aus allen Gesellschaftsschichten betrifft. Am Beispiel einer eingehenden Fallstudie in Kambodscha werden in diesem Artikel die transkulturellen Aspekte von Essstörungen untersucht, wobei analysiert wird, wie sich kulturelle Werte, Überzeugungen und Praktiken auf die Entwicklung und Manifestation von Anorexia nervosa (AN) auswirken.
Foto: zVg
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Steve Vilhem Sovady Bora
von Steve Vilhem1,2,3 und Sovady Bora4
W as sind die grundlegendsten Bedingungen der Anorexia nervosa (AN)? Handelt es sich um einen universellen Abwehrmechanismus, den es schon immer gegeben hat und der eine symbolische Ablehnung eines bestimmten Schicksals zum Ausdruck bringt, zu dem Frauen eher neigen? Und wenn ja, warum? Das sind komplizierte Fragen, deren Antworten mit quantitativen Methoden teilweise oder ganz unzugänglich bleiben. In diesem Artikel wird veranschaulicht, wie die Sozialwissenschaften den Zugang zu den Besonderheiten in der Psychiatrie ermöglichen, und zwar am Beispiel der AN mit einer eingehenden Fallstudie über eine kambodschanische Patientin, die zum Zeitpunkt der Befragung 38 Jahre alt und seit ihrem sechzehnten Lebensjahr untergewichtig ist.
AN, eine Diagnose, deren Verständnis noch in der Entwicklung begriffen ist AN ist eine Krankheit, die voller Widersprüche steckt. Paradox und provozierend (1), fasziniert sie ebenso wie sie irritiert, ja sie verblüfft (2) diejenigen, die sich um Patienten mit dieser Krankheit kümmern. Seit dem 19. Jahrhundert wird sie mit einer Prävalenz bei jungen Frauen aus der Mittel- oder Oberschicht in der westlichen Welt in Verbindung gebracht (3). In den letzten Jahrzehnten haben epidemiologische und sozialwissenschaftliche Studien die klassische Sichtweise der AN als
1 Stv. Oberarzt, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2 Institut des humanités en médecine (IHM), Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Université de Lausanne (UNIL), Suisse 3 Psychiatrie du développement et trajectoires, INSERM U1018, CESP, Hôpital Cochin, Maison de Solenn, Paris, France 4 University of Health Sciences, Phnom Penh, Cambodia
ein zeitgenössisches, kulturgebundenes Syndrom in Frage gestellt (4–6). So wurden Essstörungen auch bei Nichtkaukasiern in nicht westlichen Ländern festgestellt (7–12), und die AN wurde mit raschen soziokulturellen Veränderungen und dem Prozess der Akkulturation in Verbindung gebracht (13–16). Derzeit beschreiben die DSM-V- (17) und die ICD-10-Kriterien (18) die AN unterschiedlich (Kasten). Kategorien sind immer wieder Gegenstand von Überarbeitungen (19), und die Kriterien für AN wurden bei jeder Überarbeitung des DSM geändert (20). Weitere Beobachtungen, die die Allgemeingültigkeit der DSM-V-Kriterien in Frage stellen, sind Studien, in denen berichtet wird, dass Patienten mit AN je nach Kultur, in der sie leben, unterschiedliche Symptome aufweisen (8, 15, 21).
Kambodscha, ein Land, das nach jahrzehntelangem Aufruhr wieder aufgebaut wird In Kambodscha hat die Gesellschaft nach vielen Jahrzehnten des Kriegs und der Hungersnot (von den 1960er bis zu den 1990er Jahren) den doppelten Prozess der Säkularisierung und Medikalisierung nicht durchlaufen (5). Der Buddhismus ist die Staatsreligion, die durch den Hinduismus geprägt ist (31). Das heutige Kambodscha hat 16 Millionen Einwohner, von denen die meisten (80%) immer noch in ländlichen Gebieten leben. Während die Armut in Kambodscha weiter zurückgeht, lebten 2015 noch etwa 4,5 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, 90% von ihnen in ländlichen Gebieten (32). In Kambodscha lassen sich drei Arten von Medizinsystemen unterscheiden: der westliche biomedizinische Sektor, die traditionelle Medizin und die Volksmethoden (33). Das Regime der Roten Khmer (1975–79) hatte verheerende Auswirkungen auf die Demografie der biomedizinischen Berufe, da die Zahl der Ärzte, die das Regime überlebten, auf 30 geschätzt wurde (34). Auch
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Kasten:
Diagnosekriterien der Anorexia nervosa nach DSM-V und ICD-10 (17, 18)
DSM-V (APA 2013) A. Eine in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energieaufnahme, welche unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Entwicklungsverlauf und körperlicher Gesundheit zu einem signifikant niedrigen Körpergewicht führt. Signifikant niedriges Gewicht ist definiert als Gewicht, das unterhalb des Minimums des normalen Gewichts, oder bei Kindern und Jugendlichen, unterhalb des minimal zu erwartenden Gewichts liegt. B. Ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, oder dauerhaftes Verhalten, das einer Gewichtszunahme entgegenwirkt, trotz des signifikant niedrigen Gewichts. C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur oder des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder anhaltende fehlende Einsicht in Bezug auf den Schweregrad des gegenwärtig geringen Körpergewichts.
ICD-10 (WHO 1993) F50.0 Anorexia nervosa: Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein. Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika.
heute noch ist die Zahl der Psychiater unzureichend: 56 im ganzen Land, 44 psychiatrische Krankenpfleger (35) und nur 6 psychiatrische Spitalbetten in der einzigen spezialisierten öffentlichen Einrichtung für psychische Gesundheit im Land. Derzeit gibt es in der Literatur keine Beschreibung von AN-Fällen in Kambodscha. Es gibt generell nur sehr wenig Literatur, die AN in Südostasien beschreibt (22, 23), abgesehen von seltenen Fallbeschreibungen in Vietnam (24) und Thailand (25, 26).
Methodik Ein Fallstudienansatz erlaubt es, eine bestimmte Situation in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen und eröffnet die Möglichkeit, das Unzusammenhängende neu zu verknüpfen (27), das heisst, das Besondere mit dem Allgemeinen zu verbinden (19), aber auch das Lokale mit dem Globalen (28). Auch wenn Fallstudien in Vergessenheit geraten sind (29), war dies die Methode der Wahl in diesem Kontext, der «geklärt» werden musste. Dre Bora (die Dolmetscherin) und ich trafen die Patientin insgesamt 13 Mal. In 10 Sitzungen von jeweils 1 Stunde wurden Interviews geführt, die aufgezeichnet und transkribiert wurden. An den letzten 4 Sitzungen nahm auch die Mutter der Patientin teil. Die Interviews waren offen gestaltet. Für die Analyse verwendete ich einen komplementären Ansatz (30), um das so ge-
nannte «Innere» eines Individuums (die Psyche) und das sogenannte «Äussere» (die Kultur) zu vereinen (34), wobei ich sowohl die Psychoanalyse als auch die Anthropologie nutzte.
Ethik Die mündliche und schriftliche Zustimmung der Befragten wurde eingeholt. Personenbezogene Daten, die Rückschlüsse auf die Identität der Patientin erlauben, wurden anonymisiert. Diese Studie wurde aus eigenen Mitteln finanziert. Sie wurde von Dr. Chhim Sotheara, Exekutivdirektor von TPO (Kambodscha), dem Institut für Geisteswissenschaften in der Medizin des CHUV (Schweiz) und dem Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (INSERM) (Frankreich) befürwortet und erhielt die Zustimmung der Nationalen Ethikkommission für Gesundheitsforschung (NECHR) von Kambodscha.
Ergebnisse Die Patientin, die wir Apsor nennen werden, ist in Phnom Penh geboren und aufgewachsen. Sie stammt aus einer Familie der Mittelschicht. Als sie ein Kind war, beschrieb ihre Mutter sie als kapriziös und eigensinnig. Als sie 16 Jahre alt wurde, machten sich ihre Eltern zum ersten Mal Sorgen über ihren Gewichtsverlust. Zwischen 2008 und 2011 nahm sie leicht zu, als sie allein in einer anderen Stadt lebte. Sie kam zurück nach Phnom Penh, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern, die seit 2009 verwitwet ist. Die Patientin war 38 Jahre alt, als wir sie zum ersten Mal trafen. Ihre Familie besteht aus ihrer Mutter (68 Jahre), einer pensionierten Französischlehrerin und einem älteren Bruder (43 Jahre), der aufgrund seiner militärischen Laufbahn häufig in Vietnam stationiert ist. Ihr Vater war Arzt und verstarb 2009. Apsor lebt seit sieben Jahren bei ihrer verwitweten Mutter. Ihr Leben kann als eintönig beschrieben werden: Sie arbeitet als Beamtin, was ihr nicht besonders gefällt und kümmert sich um ihre Mutter. Mutter und Tochter schlafen im gleichen Raum, da sich die Mutter durch die Anwesenheit ihrer Tochter beruhigt fühlt. Die Mutter beklagt sich vor allem über Apsors «Unfähigkeit», einen Ehemann zu finden. In der Vergangenheit hatte die Patientin viele Arztbesuche in der Hepato-Gastroenterologie. Sie schilderte, dass sie sehr häufig Unterleibsbeschwerden hatte. Die klinische Untersuchung durch einen französischen Allgemeinmediziner ergab keine Auffälligkeiten ausser Untergewicht. Ihr BMI betrug bei der ersten Konsultation 14,2 kg/m2 (32,2 kg bei 150 cm Grösse); dieser BMI stufte sie als Unterernährte des Grades III ein, die keine notfallmässige Krankenhauseinweisung erfordert.
Eine merkwürdige Ähnlichkeit: eine erkennbare, aber andere Psychopathologie als die im Westen üblicherweise beschriebene Was die klinische Psychopathologie anbelangt, so zeigt Apsor keine Gewichtsphobie und keine körperliche Hyperaktivität. Apsor erkennt von Anfang an, dass sie zu dünn ist, dass das ein Problem ist, und in diesem Sinn gibt es keine objektivierte Dysmorphophobie. Sie möchte nicht weiter abnehmen, sie wiegt sich nicht täglich, sie kennt die Kalorienwerte verschiedener Le-
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bensmittel nicht. Sie zeigt keine Hyperaktivität. Ihre Libido ist unterdrückt. Bei der Beantwortung der Fragen wirkt sie distanziert. Während der Interviews äussert sie nur minimale primäre Emotionen (36) (automatisch, reflexartig und eng mit Körperzuständen verbunden) und keine sekundären Emotionen (37). Dieser emotionale Stillstand ist die Folge einer inneren Spaltung in der Psyche von Apsor, die zur Entstehung eines falschen Selbst als Fassade führt. Diese Dualität spiegelt eine Trennung zwischen ihren Gedanken und ihrem Verhalten wider; diese Nichtanerkennung der Beziehung zwischen zwei widersprüchlichen Haltungen nennen wir Spaltung (1). Apsor hat eine ausgeprägte Besessenheit vom Essen: zum Beispiel in ihrem Facebook-Profil, das voll ist von Posts über Rezepte und Gerichte. Apsor ernährt Menschen und ernährt sich selbst stellvertretend, sie bietet anderen an und sieht zu, wie diese das zu sich nehmen, was sie sich selbst auf libidinöser Ebene verweigert (38).
Anthropologische Aspekte: die unmögliche Verweigerung der Aufforderung, eine «tugendhafte Frau» zu sein Unterleibsschmerzen, ein Idiom der Not, das zur Vermeidung psychiatrischer Behandlung führt Apsor und ihre Familie werden seit vielen Jahren in zahlreichen medizinischen Einrichtungen in Kambodscha und Thailand behandelt. Der therapeutische Weg und die psychosomatische Ausprägung von Apsors psychischen Störungen stimmen mit Beschreibungen von Patienten mit Essstörungen in China überein, die zuerst wegen gastrointestinaler Komplikationen (39, 40) konsultiert werden, was eine «viszerale Beerdigung» der Affekte widerspiegelt. Angesichts der fehlenden Diagnosemöglichkeiten äusserte die Mutter der Patientin schon bei der ersten Begegnung ihre Hypothese, dass das Problem ihrer Tochter «in ihrem Kopf» sei, was auf ein psychologisches Problem hindeutete. Dennoch wandte sich die Mutter nie an eine psychiatrische Fachkraft, da sie im Hinblick auf die Heiratsaussichten ihrer Tochter eine Stigmatisierung befürchtete.
Die Frage der Ehe: die Besessenheit der Mutter und die Angst der Tochter Die Mutter der Patientin leidet unter heftigen Ängsten, die sie auf ihre Tochter projiziert, insbesondere in Bezug auf ihre Ehelosigkeit. Mehrere kulturelle Faktoren spielen bei der Erklärung der Sorge der Mutter eine Rolle. In Khmer-Familien leben die Söhne, die heiraten, in der Familiengruppe ihrer Frau, und man kann sagen: «Wir verlieren einen Sohn, aber wir gewinnen einen Schwiegersohn» (41). Für diese Mutter ist Apsor die «verbliebene Tochter», da ihr Sohn weggegangen ist, um bei der Familie seiner Frau zu leben. Die Heirat bleibt ein zentrales Ritual in der Khmer-Gesellschaft (42). Die Mutter erwartet von Apsor, dass sie heiratet, um die Familie zu erhalten. Ehen werden immer noch arrangiert, wobei die Eltern den zukünftigen Ehemann/die zukünftige Ehefrau für ihre Tochter/ihren Sohn auswählen (43). Apsor konnte ausdrücklich ihre Angst vor der Ehe zum Ausdruck bringen, die darin begründet ist, dass häusliche Gewalt in Kambodscha weit verbreitet ist (43–45).
Abbildung: links: Tanzende Apsaras an einem Pfeiler des Bayon (Angkor, Kambodscha), Apsara-Tänzerin - traditioneller kambodschanischer Tanz. (Fotos: Wikipedia)
Vergleich mit einer Apsara Obwohl Schlankheit in Kambodscha nicht geschätzt wird, ist der Zustand von Apsor von Zeit zu Zeit eine Quelle von Komplimenten und führt zum Vergleich mit einer Apsara. Dabei handelt es sich um einen Vergleich mit starker symbolischer Bedeutung, da eine Apsara (Abbildung 1), eine himmlische Tänzerin in der Hindu-Mythologie, trotz einer Gesellschaft, die sich in Bezug auf die Darstellung der Geschlechter uneinheitlich entwickelt hat (46), ein kambodschanisches Frauenideal bleibt (47). Obwohl Schlankheit in Kambodscha nicht so geschätzt wird wie in westlichen Gesellschaften, vergleichen sich viele Menschen mit einer Apsara, welche eine sehr schlanke Taille besitzt.
Apsors Weigerung, die ihr zugewiesene Frauenrolle zu übernehmen Die kambodschanische Gesellschaft verfügt über ein eigenes Prestigesystem (48), in dem Frauen einen sehr strengen Verhaltenskodex (Chbab Srey oder Regeln für Frauen) befolgen müssen, wonach sie als tugendhaft eingestuft werden können (48). Eine tugendhafte Frau «nährt einen Mann». Auch wenn sich die Darstellungen tendenziell weiterentwickeln (46), ist das Frauendasein im heutigen Kambodscha immer noch mit einem Trend verbunden, nämlich dem, den Männern unterlegen zu sein. Frauen müssen ihre «unerschütterliche Treue zu ihrem einzigen Ehepartner» beweisen und «sich der Entscheidung der Eltern unterordnen, deren Hauptaufgabe es ist, Bündnisse zwischen Familien zu schliessen» (42, 49). Wenn eine Frau heiratet, zeigt sie damit ihre Dankbarkeit gegenüber ihren Eltern (50). Diejenigen, die sich ihrer traditionell zugewiesenen Rolle verweigern, laufen Gefahr, «als zweitklassige Bürger» (50) angesehen zu werden. Neben dieser Verpflichtung zur Heirat gibt es auch das Stigma, das mit dem Volksglauben über ledige Jungfrauen verbunden ist, die Gefahr laufen, als kramoum chas (Kramoum [Jungfrau], Chas [alt]) zu sterben. Aus diesen toten Jungfrauen können gefährliche weibliche
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Merkpunkte:
● Indem sie sich auf die umfassenderen sozialen, kulturellen und umweltbezogenen Aspekte konzentrieren, die die psychische Gesundheit und Krankheit beeinflussen, bieten die Sozialwissenschaften eine unverwechselbare und wertvolle Perspektive für die Psychiatrie. Dieser interdisziplinäre Ansatz führt zu einem vertieften Verständnis der komplexen Natur psychiatrischer Störungen und ihrer Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft.
● Sozialwissenschaftler sind in der Lage, Singularitäten oder besondere Merkmale bei psychischen Störungen zu erkennen, die früher möglicherweise unbemerkt geblieben wären. Die Methode der Fallstudie ermöglicht es, eine spezifische Situation in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen, und bietet die Chance, das Unzusammenhängende wieder zu verbinden.
● Durch die Kombination von anthropologischen und psychopathologischen Daten konnten wir der von der Patientin geschilderten Störung eine Bedeutung und Kohärenz verleihen, die sonst unerreichbar gewesen wäre. Die Methodik dieses Artikels zeigt die interpretative Tiefe, die erforderlich ist, um AN in einem anderen kulturellen Umfeld als dem Westen zu verstehen.
Geister hervorgehen, die durch unverbrauchte sexuelle Energie im Laufe ihres Lebens entstanden sind (48).
Verstärkung der Störung angesichts paradoxer mütterlicher Anordnungen Wenn man sich mit Kambodschanern unterhält, die die Pol-Pot-Ära erlebt haben – die Generation von Apsors Mutter –, geht es immer um Knappheit, um Rationierung der spärlichen Reislieferungen. Wenn Lebensmittel normalerweise einen Austausch zwischen den Generationen ermöglichen (51), ist Apsors Weigerung zu essen, für ihre Mutter, die den Hunger erlebt hat, noch unverständlicher. Wenn Apsor unabhängiger von ihrer Mutter sein wollte, müsste sie heiraten. Andererseits ist ihre abhängige Mutter furchtbar ängstlich bei dem Gedanken, nicht mehr das Zentrum der Sorgen ihrer Tochter zu sein. Angesichts dieser paradoxen Situation ist AN eine der einzigen Möglichkeiten für Apsor, die Widersprüche zwischen ihren inneren Wünschen und den widersprüchlichen Anweisungen des sozialen und familiären Umfelds zu überwinden.
Diskussion Was den Fall von Apsor im Vergleich zu einem westlichen Patienten kennzeichnet, ist das Fehlen von Aspekten, die bei Patienten mit AN in der Regel vorhanden sind: Gewichtsphobie, Dysmorphophobie, Angst vor Gewichtszunahme und Verleugnung ihres Dünnheitsgefühls (1). Deren Fehlen hängt mit Apsors kulturellem Umfeld zusammen (30): Dysmorphophobie und die Angst, dick zu werden, hätten in der Khmer-Gesellschaft, in der Dünnsein nicht geschätzt wird, keine Bedeutung. Obwohl die AN in China eine «neue» Krankheit ist (52), wurden in den letzten Jahren immer mehr chinesische klinische Beschreibungen veröffentlicht. Ähnliche Patienten wurden in Hongkong und Shanghai beschrieben, die keine Verleugnung der Krankheit, keine Befriedigung durch Gewichtsabnahme, keine Anerkennung des Schlankseins, keine Fettphobie und eine Dominanz der Unterleibssymptome unter den somatischen Beschwerden aufweisen (8, 15, 53). Der Ausdruck, der psy-
chosomatischen Beschwerden Vorrang einräumt, ist in der «asiatischen Kultur» üblich, wo Bauchschmerzen als «Idiom der Not» fungieren (15, 39).
Schlussfolgerung
Apsors Geschichte ist die einer Frau, die einem doppel-
ten, unerträglichen Zwang unterworfen ist. Ihre AN
dient dazu, um gegen ihre eigene Vernichtung zu
kämpfen (54, 55), während die Mutter, gefangen in die-
ser «folie à deux» (56), zur Verschlimmerung der AN ihrer
Tochter beiträgt.
Die kulturübergreifenden Vergleiche haben den trans-
gressiven Wert des anorektischen Symptoms gezeigt.
Der «Kern» der AN liegt in gemeinsamen, «generischen»
Symptomen, während die Unterschiede kulturell ko-
diert sind. Das ist ein Phänomen, das auch als Patho-
plastik (57) bezeichnet wird. Diese eingehende Fallstudie
ist ein weiteres Beispiel dafür, wie AN sowohl universell
als auch kulturell kodiert ist.
Durch die Verknüpfung von psychopathologischen und
anthropologischen Daten haben wir der von der Patien-
tin ausgedrückten Störung eine Bedeutung und Kohä-
renz verliehen, die sonst unzugänglich ist. Der Ansatz
dieses Artikels veranschaulicht den interpretativen
Reichtum, der sich aus der Interaktion zwischen unzu-
sammenhängenden Disziplinen ergibt, und damit die
Verknüpfung des Unzusammenhängenden (27).
Fallstudien stehen keineswegs im Widerspruch zu
einem quantifizierenden Ansatz für Naturphänomene,
sondern sind komplementär, weil sie kontextabhängig
sind. «Einen Fall herauszugreifen, bedeutet, eine Situa-
tion zu berücksichtigen, indem man die Umstände bzw.
die Kontexte rekonstruiert und sie so wieder in eine Er-
zählung einfügt, eine Erzählung, die aufgerufen ist, das
besondere Arrangement zu erklären, das aus einer Sin-
gularität einen Fall macht» (29).
l
Korrespondenzadresse: Dr. Steve Vilhem
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD) Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie Regionales Kompetenzzentrum Region Biel
Kloosweg 24 2502 Biel
E-Mail: steve.vilhem@upd.ch
Dr. Sovady Bora Airplus Clinic
#55B, Street 113 Phnom Penh 120104
Cambodge E-Mail: sbora@uclan.ac.uk
Interessenkonflikte: Es sind keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung bekannt.
Die Rolle der verschiedenen Autoren: Dr. Steve Vilhem, MD, MPH, Doktorand und Stv. Oberarzt in der Kinderund Jugendpsychiatrie, initiierte die Studie, führte die klinische Untersuchung durch, transkribierte die Interviews, führte die Analyse der berichteten Fälle durch, führte die bibliografische Suche durch und schrieb den vorliegenden Artikel. Dre Sovady Bora, Psychiaterin, nahm als Dolmetscherin an der Studie teil, transkribierte einen Teil der Interviews, beteiligte sich an der klinischen Reflexion über den berichteten Fall und las den Artikel Korrektur.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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