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KONGRESS AKTUELL
MS-Symposium
Kognitive Störungen bei MS relevant
Bis zu 95% der Patienten mit Multiple Sklerose (MS) entwickeln neuropsychiatrische Symptome, wie Fatigue, Depression/Ängstlichkeit. Bei bis zu 50% der MS-Patienten treten auch kognitive Störungen auf, was zu Berufsunfähigkeit und zu einer schwindenden Fahreignung führen kann. Wie kognitive Störungen bei diesen Patienten getestet werden können und was gegen die Progression helfen kann, erläuterte Prof. Iris-Katharina Penner, Leiterin der universitären Neuropsychologie am Inselspital Bern.
l VLMT (Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest zur Überprüfung des verbalen Kurzzeitgedächtnisses und Lernens,
l BVMT-R (Brief Visual Memory Test-Revised) zur Erfassung des visuell-räumlichen Kurzzeitgedächtnisses und des Lernens.
Die ganze Testbatterie erfordert einen Zeitaufwand von etwa 20 Minuten, so Penner. Steht nicht so viel Zeit zur Verfügung, reicht zur groben Einschätzung auch nur die Kurzbatterie mit SDMT und BVMT-R (12).
N europsychiatrische Störungen werden bei Patienten mit MS nicht hinreichend mit dem EDSS (Expanded Disability Status Scale) erfasst. Denn Kognitionsstörungen beispielsweise können schon bei tiefem Behinderungsgrad (EDSS 0–3) vorhanden sein und die Arbeitsproduktivität stark negativ beeinflussen (1, 2), so die Referentin. Das zeigt sich auch in der Berufstätigkeit: MS-Patienten mit einer schnellen Denkfähigkeit stehen meist noch voll im Beruf, während jene mit einer kognitiven Verlangsamung zunehmend weniger arbeiten können, beziehungsweise angestellt sind (3, 4). Kognitive Störungen beeinflussen auch die Fahreignung. Das wurde in einer kleinen amerikanischen Studie ersichtlich, in der die Autounfallhäufigkeit von gesunden Personen (n = 17) mit MS-Patienten mit (n = 13) und ohne kognitive Einbussen (n = 14) im Zeitraum von 5 Jahren verglichen wurde. Während aus den Gruppen der Kontrollen und der MSPatienten ohne Denkstörung in dieser Zeit je 1 Person einen Unfall verursachte, war das bei den MS-Patienten mit Denkstörung bei über der Hälfte der Fall (7 von 13) und damit 7-fach erhöht (5). Die Gefahr, die im Autoverkehr von einer kognitiven Verlangsamung und einer deshalb nicht rechtzeitigen Erfassung der möglicherweise komplexen Situation ausgehe, solle deshalb mit den Patienten intensiv diskutiert werden, so Penner.
Prädiktiv für Krankheitsprogression Nicht nur aus diesen Gründen sollte der kognitive Status von MS-Patienten regelmässig erhoben werden; er kann auch Hilfestellung für medizinische Entscheidungen leisten. Beispielsweise liefert er Hinweise in der Prädiktion
von Hochrisikopatienten hinsichtlich der Behinderungsprogression sowie in der Detektion von Patienten in der Transitphase vom schubförmigen (relapsing-remitting MS; RRMS) in den sekundär progredienten Verlauf (secondary progressive MS; SPMS). Eine über 8 Jahre laufende Studie zeigte bei MS-Patienten, die bereits zur Diagnosestellung kognitive Beeinträchtigungen präsentierten, eine signifikant schnellere Behinderungsprogression, eine signifikant schnellere Konversion zu SPMS und mehr kortikale Ausdünnung als MS-Patienten mit normaler Kognition (6). Weitere Studien zeigten ausserdem, dass kognitive Störungen bei Patienten mit RRMS bei etwa 40–45% auftreten, bei Patienten mit SPMS bei 79–83% (7, 8).
Wie werden kognitive Störungen bei MS-Patienten getestet? Typische kognitive Veränderungen bei MSPatienten umfassen die kognitive Verlangsamung, Beeinträchtigung von Kurzzeitgedächtnis/Lernen, Verminderung der mentalen Flexibilität und der Aufmerksamkeit. Zur Erfassung kognitiver Veränderungen sind Selbstberichte und Einschätzungen von Neurologen, selbst bei langjähriger Betreuung, unzuverlässig; auch klinische Interviews oder ein Neurostatus sind dafür nicht ausreichend sensitiv (9, 10), wie Penner berichtete. Ein zuverlässiges Kognitionsscreening bei MS kann dagegen mit dem BICAMS (Brief International Cognitive Assessment für Multiple Sclerosis) erzielt werden (11). Dieser setzt sich aus 3 Testverfahren zusammen: l SDMT (Symbol Digit Modalities Test) zur
Testung der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und des Arbeitsgedächtnisses,
Pharmakologische Therapiemöglichkeiten Zur Verbesserung von kognitiven Störungen schnitten laut Penner medikamentöse Therapien im Gegensatz zu nicht medikamentösen Verfahren wenig überzeugend ab. Für Immuntherapien bestünde keine Klasse-I-Evidenz für eine Wirkung gegen kognitive Störungen, doch schienen sie durch die Erhaltung der Hirnstruktur indirekt einen Schutz zu bieten. Symptomatische Therapien wie beispielsweise Methylphenidat, Modafinil, Donepezil, Rivastigmin oder Memantin zeigen ebenfalls keine Wirkung in dieser Indikation (13). Dagegen konnte mit Fampridin, das zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei MS eingesetzt wird, in einer Studie nach 12-wöchiger Behandlung im Vergleich zur Kontrollgruppe eine Verbesserung in der SDMT-Domäne erzielt werden. Die erreichte Verbesserung war jedoch nicht anhaltend; nach Absetzen der Medikation fiel sie innerhalb von 4 Wochen auf Plazeboniveau zurück (14).
Gute Unterstützung durch nicht pharmakologische Therapien Nicht medikamentöse Therapien wie sportliche Betätigung zeigen dagegen eine gute Wirkung, wie eine 12-wöchige Studie mit Ausdauertraining zeigte. Dabei wurde der Effekt auf den SDMT mit Laufbandtraining versus kognitives Training am Computer und der Kombination von beidem verglichen. Es zeigte sich entgegen der Erwartung, dass die Effektstärke in der Gruppe mit dem Laufbandtraining allein signifikant und am grössten war (15). Als die Kognition unterstützend gilt auch die lebenslange aktive Teilnahme an Freizeitaktivitäten, die für das neuronale Netzwerk förderlich sind. Das erhöht die kognitive Reserve.
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Dazu gehören neben dem Ausdauertraining zum Beispiel Tanzen, das Spielen von Musikinstrumenten, Bücher lesen, Fremdsprachen lernen sowie Strategiespiele. Dies kann den kognitiven Leistungsverlust bei MS-Patienten um bis 4,5 Jahre hinauszögern (16). Dabei spielt es scheinbar keine Rolle, ob Patienten während ihrer Kindheit kognitionsfördernde Aktivitäten betrieben haben, oder ob sie es erst seit Krankheitsbeginn tun. Eine Studie zeigte nämlich, dass Kognitionsförderung in der Kindheit zwar eine kognitive Reserve bildet und diese zusammen mit anhaltender Aktivierung die grösste Reserve darstellt. Doch ergab die Studie auch, dass eine Aktivierung zum aktuellen Zeitpunkt mehr bringt versus keine Aktivierung, egal, ob diese in der Kindheit ausgeprägt war oder nicht (17). «Man kann den Patienten demnach sagen, dass sie gegen den kognitiven Leistungsverlust etwas unternehmen können», so Penner.
Achtsamkeitstraining Zu den nicht pharmakologischen Therapien, die die Lebensqualität verbessern können, gehört auch das Achtsamkeitstraining, wie eine Studie zeigte. Damit verbessern sich auch die Symptome häufiger neuropsychiatrischer Begleitstörungen wie Angst, Depression und Fatigue (18). Ein Achtsamkeitstraining kann aber auch einen positiven Effekt auf die Kognition haben. Das konnte beispielsweise mit einem Programm zur Neuroedukation bei pro-
gredienter MS erreicht werden. Dabei wurde
den Patienten erklärt, warum sie bestimmte
Symptome wie zum Beispiel Fatigue, Gedächt-
nisstörungen oder Depression haben, wie die
Prozesse im Gehirn funktionieren und wie die
Patienten selbst darauf Einfluss nehmen kön-
nen. Die Resultate der kürzlich unter Beteili-
gung der Referentin publizierten Studie zeigen,
dass mit dieser Methode die selber wahrge-
nommenen kognitiven Defizite, die Selbstwirk-
samkeit, das Stresserleben, die kognitive
Fatigue und das visuell-räumliche Kurzzeitge-
dächtnisses verbessert werden konnten (19).
Nicht pharmakologische Therapieansätze
haben im Gegensatz zu medikamentösen
Optionen ein grosses Potenzial bei kognitiven
Problemen bei Patienten mit MS und sollten
daher Mittel der Wahl sein, wie Penner
abschliessend hervorhob.
l
Valérie Herzog
Quelle: «Kognitive Störungen bei Multipler Sklerose: Bedeutsamkeit, Erfassungsinstrumente und therapeutische Ansätze», Multiple Sklerose Symposium 2023, 23. Februar in Bern.
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multiple sclerosis in Europe. Mult Scler. 2017;23(8):11231136. 2. Calabrese P et al.: European Multiple Sclerosis Platform. New insights into the burden and costs of multiple sclerosis in Europe: Results for Switzerland. Mult Scler. 2017;23(2_suppl):192-203. 3. Kobelt G et al.: The effect of self-assessed fatigue and subjective cognitive impairment on work capacity: The case of multiple sclerosis. Mult Scler. 2019;25(5):740-749. 4. Campbell J et al.: Cognitive impairment among patients with multiple sclerosis: associations with employment and quality of life. Postgrad Med J. 2017;93(1097):143-147.
5. Schultheis MT et al.: Motor vehicle crashes and violations among drivers with multiple sclerosis. Arch Phys Med Rehabil. 2002;83(8):1175-1178.
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