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Microstates als Marker im EEG bei Psychoserisiko und Erstpsychose
Microstates sind sehr kurze Zustände (60–120 ms), in denen die topografische Landkarte der Elektroenzephalografie (EEG) stabil bleibt. Es wurde beobachtet, dass Microstates bei erwachsenen Patienten mit Psychose und Schizophrenie verändert sind. Die vorgestellte Studie zeigt, dass sich bei Kindern und Jugendlichen mit Psychoserisiko und Erstpsychose ähnliche Veränderungen zeigen wie bei Erwachsenen, die Effekte also altersunabhängig sind.
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Matthias Liebrand
von Matthias Liebrand
S chizophrenie ist eine Erkrankung, die interessant und faszinierend erscheint, wie beispielsweise die Filme «A beautiful mind» oder «Black Swan» zeigen. Etwa 0,4% der Weltbevölkerung leidet an der Erkrankung und benötigt umfangreiche Hilfe. Die Schizophrenie ist ein Überbegriff für eine ganz unterschiedliche Anzahl von Krankheitsbildern. Diese reichen von der paranoiden Schizophrenie, die sich mit Wahn, Angst, verfolgt zu werden und mit imperativen Stimmen zeigen kann, über die hebeprene Schizophrenie, in der Anhedonie, ausgeprägter Willens- und Interessensverlust im Vordergrund stehen, bis zu katatonen Formen, in denen vor allem die Psychomotorik betroffen ist. Gemeinsam sind diesen sehr verschiedenen Unterformen tiefgreifende Veränderungen der Realitätswahrnehmung. Dies kann die Überzeugung sein, von einer fremden Macht gesteuert zu werden, Stimmen zu hören, sich für alle Ereignisse in der eigenen Umgebung schuldig zu fühlen, zu verarmen oder sein Leben bedroht zu sehen. Patienten in einem psychotischen Schub sind oft verzweifelt, in grosser innerer Not und erleben die Umwelt häufig als feindselig. Gleichzeitig fällt es ihnen meist schwer, Hilfe anzunehmen und sich in Behandlung zu begeben. Erstaunlich ist, wie wenig wir heute, trotz jahrzehntelanger intensiver und sehr komplexer Forschung von der Schizophrenie verstehen. Die ersten Antipsychotika wurden in den 1950er Jahren zugelassen. Auch wenn seither in Bezug auf Nebenwirkungen deutliche Fortschritte erzielt werden konnten, wirken diese weiterhin unspezifisch und können die Betroffenen unterstützen, aber nicht heilen. Zudem bleibt es eine Frage von Versuch und Irrtum, ob ein bestimmter Wirkstoff nützt oder
nicht. Das populärste Erklärungsmodell der Schizophrenie basiert auf einer Dysbalance in der neuronalen Ausschüttung von Dopamin. Es wird angenommen, dass Negativsymptome durch eine Unterversorgung von Dopamin im frontalen Cortex verursacht werden, Positivsymptome durch einen Überschuss von Dopamin in mesolimbischen Arealen. Allerdings vermag diese Theorie nicht zu erklären, warum bestimmte Patienten mit chronischer Schizophrenie, bei denen mehr als 90% der Dopaminrezeptoren (D2) blockiert sind, dennoch kaum von der Medikation profitieren. Auch die Tatsache, dass Ketamin als NMDA-Rezeptorantagonist Psychosen auszulösen vermag, liegt ausserhalb des Erklärungsmodells. So zahlreich, wie die Evidenz für diese Theorie, sind auch Hinweise, die gegen sie sprechen. Es bleibt demnach viel Bedarf zu weiterer Forschung. Unter den Methoden, mit denen das Gehirn experimentell untersucht wird, sind die Elektroenzephalografie (EEG) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) die zwei, die am häufigsten eingesetzt werden. Bei beiden Methoden wird die Hirnaktivität auf unterschiedliche Weise analysiert. Bei der fMRT wird die Sauerstoffsättigung des Bluts im Gehirn untersucht, von der auf die Durchblutung und damit auf Aktivität von Hirnarealen geschlossen werden kann. Hierbei ist die räumliche Auflösung sehr gut (im Millimeterbereich), und es können auch tiefere Hirnregionen untersucht werden. Allerdings ist die zeitliche Auflösung sehr begrenzt, sie liegt im Bereich von mehreren Sekunden. Ganz anders ist es beim EEG. Hier wird die elektrische Aktivität von Nervenzellen gemessen, insbesondere jene des Cortex. Da das Signal durch die Schädelkalotte gestreut wird, ist die räumliche Auflösung begrenzt und jener des fMRT deutlich unterlegen. Die zeitliche Auflösung ist jedoch exzellent, die Gehirnaktivität kann in Echtzeit beobach-
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tet werden. Ausserdem ist das EEG vom Equipment her einfacher durchzuführen als ein MRT und kostengünstiger. In die Psychoseabklärung kann es einfach integriert werden und stellt daher eine sehr interessante Möglichkeit dar, Hirnaktivität bei Psychose und Schizophrenie zu untersuchen. Im EEG kann die unterschiedlichste Art von Aktivität untersucht werden, von ereignisbezogener Aktivität (z. B. auf einen abweichenden Reiz), über Oszillationen in bestimmten Frequenzbändern (Alpha, Beta, Gamma …) bis hin zu sogenannten Microstates. Im EEG wurden Microstates erstmals in den 1980er Jahren beschrieben (1, 2). Microstates werden typischerweise im Ruhe-EEG untersucht, wenn die Probanden keiner Aufgabe nachgehen. Es handelt sich um sehr kurze Zustände von 60 bis 120 ms (Abbildung). In diesen bleibt die Topografie des EEG für kurze Zeit stabil, bevor sie in den nächsten Zustand wechselt. Die Topografie ist hierbei wie eine Landkarte der Spannungsverteilung zu verstehen, welche aus zugrundeliegenden positiven und negativen elektrischen Generatoren resultiert. Interessanterweise scheint es eine begrenzte Anzahl von diesen Topografien oder Landkarten zu geben. Klassischerweise geht man von 4 verschiedenen Topografien aus, zwischen denen sich das Gehirn bewegt (Microstates A, B, C, D) (Abbildung). Bisher existiert keine abschliessende Theorie der präzisen Funktion oder Entsprechung der verschiedenen Microstates. Es wurde postuliert, dass es sich bei den Microstates insgesamt um «fundamentale Bausteine von mentalen Prozessen» (1) oder um die «Atome der Gedanken» (3) handeln könnte. Ein sehr entscheidender Befund ist, dass die 4 Microstates eine passende Entsprechung in bekannten Netzwerken finden, die sich in fMRT-Ruhemessungen zeigen (A: auditives, B: visuelles, C: Salienz- und D: Aufmerksamkeitsnetzwerk [4]). Bei Patienten mit Schizophrenie ist die Informationsverarbeitung auf sehr grundlegende Weise verändert. Daher lässt sich annehmen, dass sich bei Betroffenen auch in den Microstates Veränderungen zeigen. In der Tat konnte Ende der 1990er Jahre festgestellt werden, dass sich Microstates bei Patienten mit Schizophrenie von denen von gesunden Kontrollen unterscheiden (5, 6). Veränderte Microstates konnten ebenfalls bei anderen psychotischen Erkrankungen (7) und bei Risiko für Psychose (8) gefunden werden. Zwei Metaanalysen konnten zeigen, dass sich über einige Studien hinweg eine Verstärkung des Microstate C und eine Verringerung des Microstate D in Zusammenhang mit Schizophrenie finden lässt (9, 10). Eine sehr spannende Studie konnte nachweisen, dass der Microstate D gerade dann vermindert ist, wenn Patienten akustische Halluzinatio-
Abbildung: Beispiele der topografischen Verteilung der Microstates in den Klassen A–D. (Bild: ©M. Liebrand)
nen wahrnehmen (11). In dieser Studie drückten die Patienten einen Knopf, wenn sie die Halluzinationen wahrnahmen, und genau in diesen Perioden war Microstate D kürzer im Vergleich zu Perioden ohne Halluzinationen. Während zahlreiche Studien zur Veränderung von Microstates bei Schizophrenie und Psychose bei erwachsenen Probanden existieren, gibt es kaum bis keine Daten bei Kindern und Jugendlichen. Das ist erstaunlich, da der Erkrankungsgipfel der Schizophrenie bei 20,5 Jahren liegt (12) und damit ein beträchtlicher Teil der Betroffenen bereits vor dem Erwachsenenalter erkrankt. Zudem ist nicht bekannt, inwieweit die Veränderungen der Microstates C und D bei Psychose und Schizophrenie einem Alterseffekt unterliegen. Diese beiden offenen Forschungslücken wollten wir mit unserer Studie schliessen. Wir untersuchten in einer sehr grossen Stichprobe Patienten und klinische Kontrollprobanden aus dem Früherkennungs- und Therapiezentrum für psychische Krisen (FETZ) in Bern. Im FETZ werden Patienten mit psychotischen Symptomen und Auffälligkeiten aus dem Kanton Bern systematisch untersucht. Im Zeitraum von 2010 bis 2021 wurden 514 Patienten untersucht. Nachdem einige Patienten aufgrund von Ausschlusskriterien (wie etwa Drogenkonsum) von der Studie ausgeschlossen worden waren, blieben 100 Patienten mit einem signifikant erhöhten Risiko für Psychose und 32 mit einer manifesten Psychose, die eingeschlossen werden konnten. Eine Gruppe von 68 gesunden Kontrollen wurde im Rahmen eines anderweitigen Projekts in Genf gemessen und vom Altersspektrum an die Patienten aus Bern angepasst. Die untersuchte Gruppe deckt eine Altersspanne von 9 bis 35 Jahre ab, ein Querschnitt, der bisher nicht untersucht wurde.
Tabelle:
Übersicht über die Hauptergebnisse der Studie (leicht vereinfacht).
Microstate C ● Psychoserisiko und Erstpsychose zeigen eine
Verstärkung von Microstate D gegenüber gesunden Kontrollprobanden. ● Zwischen Psychoserisiko und Erstpsychose bestehen keine Unterschiede.
Microstate D ● Psychoserisiko und Erstpsychose zeigen eine
Verringerung von Microstate D gegenüber gesunden Kontrollprobanden. ● Es bestehen keine Unterschiede zwischen Psychoserisiko und Erstpsychose.
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Merkpunkte:
● Microstates sind sehr kurze Zustände (60-120 ms), in denen die topografische Landkarte des EEG stabil bleibt. Typischerweise werden 4 unterschiedliche Topografien beschrieben (Abbildung).
● Die vorgestellte Studie untersuchte Microstates erstmals bei Kindern- und Jugendlichen mit Psychoserisiko und Erstpsychose über ein grosses Altersspektrum (9–35 Jahre).
● Die vorliegenden Daten zeigen, dass psychoseassoziierte Veränderungen der Microstates keinen Alterseffekten unterliegen. Somit finden sich bereits bei Minderjährigen vergleichbare Effekte wie bei Erwachsenen und dies auch schon im Risikostadium. Die Ergebnisse stärken die Rolle der Microstates als Marker für Psychose und Schizophrenie.
Wie auch in den Vorstudien und Metaanalysen, zeigte
sich in der vorgestellten Studie bei den Patienten mit
Erstpsychose und Psychoserisiko eine Verstärkung von
Microstate C und eine Verminderung von Microstate D
gegenüber gesunden Kontrollen (Tabelle). In Bezug auf
diese psychoseassoziierten Veränderungen konnten wir
keine Alterseffekte finden. Das bedeutet, dass Microsta-
tes bei Jugendlichen genauso valide Marker für Psy-
chose darstellen wie bei Erwachsenen. Das ist ein
wichtiger Befund, denn er zeigt, dass sich frühere Ergeb-
nisse der Forschung zu Microstates auf Patienten in der
Kinder- und Jugendpsychiatrie übertragen lassen und
Microstates auch dort als Biomarker eingesetzt werden
könnten.
Interessant ist, dass sich keine Unterschiede in den Mi-
crostates zwischen Patienten mit einem erhöhten Psy-
choserisiko und einer Erstpsychose zeigten. Die
Veränderungen in den Microstates scheinen daher Auf-
fälligkeiten in der neuronalen Verarbeitung widerzuspie-
geln, die bei Psychose/-risiko auftreten, jedoch nicht in
Zusammenhang mit dem Schweregrad der Erkrankung
oder dem Krankheitsstadium stehen. Hierauf deuten
auch andere Studien hin, die ebenfalls keine Verände-
rungen von Microstates mit zunehmendem Krankheits-
verlauf finden konnten (9, 13).
Zusammenfassend konnten wir mit dieser Studie zei-
gen, das psychoseassoziierte Veränderungen in den
Microstates C und D bei Jugendlichen in dem gleichen
Masse auftreten, wie bei Erwachsenen und daher alters-
unabhängig sind. Diese Studie liefert erstmals Daten
über eine grosse Altersspanne, spezifisch zu minderjäh-
rigen Patienten mit Psychoserisiko und Erstpsychose
und unterstreicht die Bedeutung der Microstates C und
D als Biomarker für Psychose. Ein Preprint der Studie fin-
det sich unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.
cfm?abstract_id=4268996.
l
Korrespondenzadresse: Matthias Liebrand
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern Bolligenstrasse 111 3000 Bern
E-Mail: matthias.liebrand@upd.ch
Matthias Liebrand (36) ist seit kurzem stellvertretender Oberarzt auf einer Jugendstation in der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) in Bern. Neben seiner klinischen Tätigkeit liegt sein Forschungsschwerpunkt bei Schizophrenie und Psychosen. Hierbei interessiert er sich insbesondere für psychosespezifische Marker in der Elektroenzephalografie (EEG). Er arbeitet seit 4 Jahren in der KJP Bern, zuvor beschäftigte er sich im Rahmen eines PhD mit dem motorischen System bei gesunden Kontrollen und Patienten mit spezifischen Läsionen in zentralen Knotenpunkten des Netzwerkes für Motorinhibition.
Referenzen: 1. Koukkou M et al.: Dreaming: The functional state-shift hypothesis.
The British Journal of Psychiatry. 1983;142(3)221-231. doi:10.1192/ bjp.142.3.221. 2. Lehmann D: Brain electrical mapping of cognitive functions for psychiatry: functional micro-states. Psychiatry Research. 1989;29(3):385-386. doi:10.1016/0165-1781(89)90097-8 3. Lehmann D: Principles of spatial analysis. In: Handbook of Electroencephalography and Clinical Neurophysiology: Methods of Analysis of Brain Electrical and Magnetic Signals. Vol 1. 1st ed. Amsterdam: Elsevier; 1987:309-354. 4. Britz J et al.: BOLD correlates of EEG topography reveal rapid restingstate network dynamics. NeuroImage. 2010;52(4):1162-1170. doi:10.1016/j.neuroimage.2010.02.052. 5. Koenig T et al.: A deviant EEG brain microstate in acute, neurolepticnaive schizophrenics at rest. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience. 1999;249(4):205-211. doi:10.1007/ s004060050088. 6. Stevens A et al.: Increased duration and altered topography of EEG microstates during cognitive tasks in chronic schizophrenia. Psychiatry Research. 1997;66(1):45-57. doi:10.1016/S01651781(96)02938-1. 7. Murphy M et al.: Electroencephalogram microstate abnormalities in early-course psychosis. Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging. 2020;5(1):35-44. doi:https://doi. org/10.1016/j.bpsc.2019.07.006. 8. Andreou C et al.: Resting-state connectivity in the prodromal phase of schizophrenia: Insights from EEG microstates. Schizophrenia Research. 2014;152(2):513-520. doi:https://doi.org/10.1016/j. schres.2013.12.008. 9. da Cruz JR et al.: EEG microstates are a candidate endophenotype for schizophrenia. Nature Communications. 2020;11(1):3089. doi:10.1038/s41467-020-16914-1. 10. Rieger K et al.: 15 Years of microstate research in schizophrenia – where are we? A meta-analysis. Frontiers in Psychiatry. 2016;7:22. https://www.frontiersin.org/article/10.3389/fpsyt.2016.00022. 11. Kindler J et al.: Resting-state EEG in schizophrenia: Auditory verbal hallucinations are related to shortening of specific microstates. Clinical Neurophysiology. 2011;122(6):1179-1182. doi:10.1016/j. clinph.2010.10.042. 12. Solmi M et al.: Age at onset of mental disorders worldwide: largescale meta-analysis of 192 epidemiological studies. Molecular Psychiatry. June 2021. doi:10.1038/s41380-021-01161-7. 13. Luo Y et al.: Biomarkers for Prediction of Schizophrenia: Insights From Resting-State EEG Microstates. IEEE Access. 2020;8:213078213093. doi:10.1109/ACCESS.2020.3037658.
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