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FORTBILDUNG
Global Mental Health
Psychiatrie im grossen Blickwinkel
Foto: zVg
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Justina Rackauskaite Monika Müller
von Justina Rackauskaite1, Monika Müller2
A ls Psychiaterin habe ich mich immer gefragt, ob man auch ausserhalb des gewöhnlichen Arbeitsumfelds etwas bewirken kann. Während der Facharztausbildung wird der Fokus auf die Versorgungsstrukturen im eigenen Land gelegt. Ressourcenarme Länder haben nach wie vor mit grossen Hürden im psychiatrischen Betreuungs- und Behandlungsangebot zu kämpfen, die für uns schon lange eine Reminiszenz aus der Vergangenheit geworden sind. Sogar innerhalb Europas haben wir immense Unterschiede in den psychiatrischen Versorgungssystemen zwischen den Ländern. Als Litauerin habe ich wesentliche Abweichungen vor allem im ambulanten Bereich zwischen meinem Heimatland und der Schweiz feststellen können. Dabei habe ich mir immer die Frage gestellt, wie die psychiatrische Versorgung in Ländern mit noch weniger Ressourcen aussieht, wenn es doch bereits auf unserem Kontinent diese wesentlichen Unterschiede gibt. Deswegen engagiere ich mich im Vorstand von delta – develop life through action (www.delta-ngo.ch). Delta ermöglicht fachgerechte psychiatrische Behandlung und Betreuung von Betroffenen und ihren Angehörigen in ressourcenarmen Ländern. Gemäss World Bank leben zirka 682 Millionen Menschen auf der Welt in extremer Armut. Obwohl in den letzten Jahren eine leichte Verbesserung zu erkennen war, ist es durch die COVID-19-Pandemie zu einem Rückstand gekommen. Im Jahr 2019 lag der Armutsindex bei 8,4% und im Jahr 2022 stieg er auf bis zu 9,3%, was etwa 70 Millionen Menschen entspricht, die neu in Armut leben (1). Ungefähr eine Milliarde Menschen leidet weltweit an einer psychiatrischen Erkrankung (2). Die Dunkelziffer ist vermutlich vielfach höher, da in den letzten 2 Jahren zirka 15% der Länder weltweit keine Statistik mit Auswertung über psychiatrische Erkrankungen geführt haben. Das Phänomen ist vor allem in ressourcenarmen Ländern zu beobachten (3). Noch problematischer wird es, wenn man den Aufbau von Versorgungsstrukturen untersucht. Viele ressourcenarme Länder befürworten nach wie vor geschlossene stationäre Institutionen und haben fast keine ambulanten Strukturen (4–5). In ländlichen Gebieten ist diese Situation noch akzentuierter. Intuitiv denkt man, dass diese Mangelversorgung nur eine politische Entscheidung ist. Leider ist die Deinstitutionalisierung ein komplexes Geschehen. Zum Beispiel implementierte die Regierung von Südafrika im Jahr
1 Oberärztin, Universitätsspital Zürich 2 Oberärztin Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern, Visiting Lecturer Center for Global Mental Health, King’s College London
2015 das Gauteng Mental Health Marathon Project, das in einer Tragödie mit 144 Toten und 44 verschwundenen Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen resultierte. Dabei wurden 1711 Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen von stationären Kliniken in die nicht staatlichen Versorgungsstrukturen, sogenannte betreute Wohnheime, entlassen. Der Staat unterstützte zwar die Deinstitutionalisierungsinitiative, doch waren zum damaligen Zeitpunkt die notwendigen ambulanten Versorgungsstrukturen zu wenig ausgebaut. Zudem erfolgte die finanzielle Unterstützung nur mit grosser Verzögerung und wurde zudem gekürzt (280 $/Monat für eine Person) im Vergleich zu den Geldmitteln, die für die stationären Strukturen (800 $/Monat für eine Person) normalerweise ausgegeben werden. Der gesamte Prozess wurde in grosser Eile innerhalb von wenigen Monaten durchgeführt, obwohl die Regierung mit dem «National Mental Health Policy Framework» zuvor deklarierte, dass nur bei sichergestelltem ambulantem Angebot eine sukzessive Entlassung aus den stationären Kliniken möglich sei. Erfahrene Institutionen und Personen aus dem Feld wurden zudem zu wenig miteinbezogen (6–8). Das zeigt, dass eine wertvolle Initiative zur Deinstitutionalisierung bei unzureichendem gleichzeitigem Aufbau einer professionellen ambulanten Versorgung und betreuten Wohnmöglichkeiten auch schwere Folgen haben kann. Durch meine Arbeit bei delta, habe ich mich vertieft mit dem Thema Deinstitutionalisierung in ressourcenarmen Ländern auseinandergesetzt. Dabei interessiert mich insbesondere der Aufbau von betreuten und begleiteten Wohnformen für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Als Teil einer internationalen Forschungsgruppe mit Kollegen aus England, Südafrika, Zimbabwe, Pakistan und Rumänien untersuche ich im Rahmen meiner Dissertation, welche Faktoren die Errichtung solcher Wohnmöglichkeiten fördern oder eben auch hemmen. Gleichzeitig leite ich bei delta das Projekt «Carlo Bhavan» in Südindien. Hier wohnen rund 30 obdachlose Frauen mit schwerer psychischer Erkrankung oder intellektuellen Defiziten. Da der indische Staat lediglich 1% seiner Gesundheitsausgaben für die Behandlung von psychisch kranken Menschen ausgibt und insbesondere psychiatrische Kliniken finanziert, fehlen sozialpsychiatrische Einrichtungen zur Langzeitbetreuung solcher Betroffenen. Dabei ist es genau diese Patientengruppe, die Schwierigkeiten hat, den Alltag alleine zu bewältigen, und auf längerfristige Unterstützung angewiesen ist. Häufig sind die Symptome schwerwiegend und die Patienten unbehandelt, sodass die Familien an die Grenzen ihrer Be-
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Merkpunkte:
● Ungefähr eine Milliarde Menschen leiden weltweit an einer psychiatrischen Erkrankung, wobei die Dunkelziffer vielfach höher liegt.
● Der indische Staat gibt nur 1% seiner Gesundheitsausgaben für die Behandlung von psychisch kranken Menschen. Damit können fast keine menschengerechten betreuten Wohnformen errichtet werden.
● Delta develop life through action ermöglicht fachgerechte psychiatrische Behandlung und Betreuung von Betroffenen und ihren Angehörigen in ressourcenarmen Ländern.
● Das Projekt «Carlo Bhavan» in Südindien unterstützt rund 30 obdachlose Frauen mit schwerer psychischer Erkrankung oder intellektuellen Defiziten darin, eine gerechte Wohnform zu erhalten.
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treuungsmöglichkeiten stossen. Gleichzeitig werden die Familien zunehmend kleiner, sodass die Pflege auf weniger Beteiligte verteilt und mit der Erwerbstätigkeit koordiniert werden muss. Weil die Familien mit der langfristigen Betreuung überfordert sind und gleichzeitig professionelle Strukturen fehlen, werden schwer psychisch kranke Mitmenschen teilweise obdachlos. Der Grossteil der Bewohnerinnen von «Carlo Bhavan» hat keine familiären Bezugspersonen. Der Betreuungsschlüssel ist trotz Einhaltung der staatlichen Mindestanforderungen ungenügend, sodass Angebote zur Tagesstrukturierung, Rehabilitation oder Reintegration in Familie und Gesellschaft nur begrenzt realisierbar sind, da die geringen personellen Ressourcen zur Deckung der Grundbedürfnisse eingesetzt werden. Wir finanzieren deswegen unter anderem die Anstellung einer Sozialarbeiterin, damit professionelle psychosoziale Rehabilitationsmassnahmen durchgeführt werden und die Integration in die Gesellschaft gefördert wird. Nach der Pandemie reiste ich als Teil des Evaluationsteams für mehrere Wochen nach Südindien, um die laufenden Projekte zu besuchen und Fachinput für deren Weiterentwicklung zu geben.
Die Arbeit bei delta ermöglicht mir somit nicht nur, meine Kenntnisse in «Global Mental Health» zu vertiefen und zu verstehen, wie effektive Entwicklungszusammenarbeit im NGO-Bereich umgesetzt wird, sondern ich erwerbe auch Skills im Bereich Projektmanagement inklusive Fundraising und Budgetierung. Ich denke deshalb, dass die Assistenzarztausbildung für Psychiatrie und Psychotherapie die jungen Kollegen auch auffordern sollte, ausserhalb von gewöhnlichen Konzepten zu denken. Jeder berufliche Werdegang in der Psychiatrie gestaltet sich unterschiedlich und ich bin sehr froh, dass es noch genügend Raum für Improvisation und unkonventionelle Aktivitäten sowie Gedanken gibt. l
Korrespondenzadresse: Justina Rackauskaite Oberärztin
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik Universitätsspital Zürich Culmanstrasse 8 8091 Zürich
E-Mail: justina.rackauskaite@usz.ch
Referenzen: 1. The World Bank: Poverty. https://www.worldbank.org/en/topic/
poverty/overview. Letzter Abrurf: 20.3.23. 2. World Health Organization (WHO): Mental Health Atlas 2020.
Geneva: 2020. 3. Institute of Health Metrics and Evaluation. Global Health Data
Exchange (GHDx). https://ghdx.healthdata.org. Letzter Zugriff: 26.5.23. 4. Saraceno B et al.: Reorganization of mental health services: from institutional to community-based models of care. East Mediterr Health J 2015; 21: 477-485. 5. Saraceno B et al.: Barriers to improvement of mental health services in low-income and middle-income countries. Lancet. 2007;370(9593):1164-1174. doi: 10.1016/S0140-6736(07)61263-X. 6. Makgoba WM: The report into the circumstances surrounding the deaths of mentally ill patients: Gauteng province. Office for Health Standards and Compliance, Republic of South Africa. https://ohsc. org.za/final-report-into-the-circumstances-surrounding-the-deathsof-mentally-ill-patients-gauteng-province/. Letzter Zugriff: 26.5.23 7. Moseneke D: In the arbitration between: families of mental health care users affected by the Gauteng Mental Marathon Project. March 19, 2018. http://www.saflii.org/images/LifeEsidimeniArbitrationAward. pdf. Letzter Zugriff: 26.5.23. 8. Freeman MC: Global lessons for deinstitutionalisation from the illfated transfer of mental health-care users in Gauteng, South Africa. Lancet Psychiatry. 2018 Sep;5(9):765-768. doi: 10.1016/S22150366(18)30211-6.
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