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FORTBILDUNG
Diagnostik der Epilepsie
Die diagnostischen Möglichkeiten zur Abklärung eines erstmaligen anfallsartigen Ereignisses oder einer unklaren Episode mit Bewusstseinsveränderung oder neurologischen Defiziten sowie bei einer Veränderung der Anfallsart bei einer bekannten Epilepsie werden immer vielfältiger. Entsprechend bedeutend sind – wie in den meisten medizinischen Feldern – eine sorgfältige Anamnese und eine genaue klinische Untersuchung zur Eingrenzung der möglichen Differenzialdiagnosen und Evaluation weiterer Diagnostik.
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Marcellina Haeberlin
von Marcellina Haeberlin
Differenzialdiagnose epileptische Genese versus andere Ursachen eines anfallsartigen Ereignisses oder einer Bewusstseinsstörung Als Ursache eines anfallsartigen Ereignisses oder einer plötzlichen Bewusstseinsstörung kommen neben einer epileptischen auch eine synkopale oder psychogene Genese in Frage. Einer Episode mit vorübergehenden neurologischen Defiziten kann neben einem fokalen epileptischen Anfall auch eine transiente ischämische Attacke oder eine Migräneaura zugrunde liegen. Bei vorübergehender Verwirrtheit ist zudem an eine transiente globale Amnesie zu denken. Ferner können sich Bewegungsstörungen wie spinale Myoklonien oder extrapyramidalmotorische Symptome ähnlich wie ein epileptischer Anfall darstellen. Auch Parasomnien können epileptisch anmuten. Eine weitere wichtige Differenzialdiagnose von Bewusstseinsstörungen sind enzephalopathische Zustandsbilder bei systemisch erkrankten Patienten, die sich mit oder ohne epileptische Aktivität präsentieren können. Neben der Semiologie, der Vorgeschichte und dem initialen klinischen Bild sind die Verlaufsbeobachtung, die korrekte Wahl der weiteren Diagnostik und das Therapieansprechen wegweisend für die Diagnosestellung. Zur Differenzierung zwischen epileptischen, synkopalen und psychogenen Anfällen ist insbesondere der Zustand nach dem Anfall zu betrachten. Eine postiktale Phase über einige Stunden mit Schläfrigkeit, Verwirrtheit, psychomotorischer Verlangsamung oder Antriebssteigerung sowie eine Todd’sche Parese sind charakteristische Hinweise auf eine epileptische Genese des Anfalls (1). Synkopen führen teilweise zu allgemei-
ner Schwäche und Müdigkeit, aber nicht zu einer Verwirrtheit und/oder fokal-neurologischen Defiziten mit allmählicher Normalisierung im Verlauf. Auch auf psychogene Anfälle folgt keine klassische postiktale Phase, sondern entweder eine rasche Zustandsnormalisierung oder eine patiententypische Bewusstseinsstörung im Sinn eines dissoziativen Zustands. Weitere Unterscheidungsmerkmale verschiedener Anfallsursachen sind der stereotype Ablauf eines epileptischen Anfalls und seiner Dauer von 1 bis 2 Minuten (Tabelle). Je nach Semiologie sowie Anamnese- und Befundkonstellation werden die weiteren Abklärungen festgelegt. In jedem Fall sind eine Basislaboruntersuchung und ein Ruhe-EKG empfehlenswert, Letzteres zur Abklärung möglicher kardialer Ursachen einer Bewusstseinsstörung wie z. B. eines AV-Blocks. Laborchemisch sind insbesondere Elektrolyte (vor allem Natrium), Glukose, Entzündungsparameter sowie die Nieren- und Leberfunktion interessant, da relevante Abweichungen von der Norm ein Auslöser für epileptische Aktivität oder für eine Enzephalopathie sein können. Prolaktin und Kreatinkinase können als unterstützende Faktoren bei der Evaluation von Differenzialdiagnosen eines Anfalls hinzugezogen werden. Denn eine Erhöhung kann auf einen epileptischen Anfall hinweisen und somit einen bestehenden Verdacht unterstützen, allerdings kann die Erhöhung auch andere Ursachen haben (2, 3). Bei fokaler Einleitung eines erstmaligen Anfalls, Todd’scher Parese oder anhaltender Bewusstseinsstörung nach einem Anfall sollte eine notfallmässige zerebrale Bildgebung – idealerweise ein MRI (Magnetresonanztomografie) des Gehirns – zur Abklärung akut-provozierender oder anhaltend epileptogener struktureller Läsionen im Gehirn erfolgen. Als potenziell epileptogen sind insbesondere kortikal lokalisierte Ver-
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
Tabelle:
Semiologische Unterscheidungsmerkmale verschiedener Anfallsursachen
Epileptischer Anfall
Synkope
mit oder ohne Aura / fokale Einleitung
mit oder ohne präsynkopale Prodromi
mit oder ohne (tonisch-klonische) Konvulsionen mit oder ohne kurze irreguläre Konvulsionen
Augen offen, evtl. Blickdeviation
Augen nach oben verdreht
stereotype Ereignisse, teilweise verschiedene
bei gleicher Ätiologie eher stereotype
Anfallstypen
Ereignisse
Dauer 1–2 Minuten
Dauer < 30 Sekunden mit oder ohne (lateralen) Zungenbiss und Einnässen mit oder ohne Zungenbiss und Einnässen mit postiktaler Verwirrtheit (ausser fokale Anfälle ohne Verwirrtheit nach dem Ereignis ohne Bewusstseinsstörung) Psychogener Anfall selten Prodromi, teilweise Trigger eruierbar variable motorische Phänomene Augen geschlossen, evtl. Lidflattern heterogene Präsentation, Veränderung im Verlauf Dauer variabel, teilweise sehr lange meistens ohne Zungenbiss und Einnässen variabel änderungen einzuschätzen. Im Fall einer fehlenden Zustandsnormalisierung ist ein notfallmässiges EEG (Elektroenzephalogramm) zum Ausschluss eines nonkonvulsiven Status epilepticus indiziert. Andernfalls sollte im Verlauf die Durchführung eines EEG zur Detektion von diagnoseweisenden interiktalen epilepsietypischen Potenzialen und subklinischen epileptischen Abläufen sowie von Herdbefunden erfolgen. Verlangsamungsherde können nach fokalen Anfällen teilweise vorübergehend auftreten, aber auch unspezifisch sein. Enzephalopathische Veränderungen können sich in Form einer Allgemeinveränderung, diffuser Funktionsstörung und/oder Einlagerung von charakteristischen triphasisch konfigurierten Potenzialen darstellen. Sollten sich im EEG und in der Bildgebung keine diagnoseweisenden Auffälligkeiten zeigen, gibt es die Möglichkeit, den weiteren Verlauf abzuwarten oder aufgrund der unklaren Situation eine Risikostratifizierung hinsichtlich des weiteren Anfallsrisikos vorzunehmen, was empfehlenswert ist und erfahrungsgemäss häufig auch von Seiten der Patienten gewünscht wird. Die EEG-Telemetrie (Langzeit-EEG), idealerweise wie das Standard-EEG mit 25 Elektroden und mit Video kombiniert zur Korrelation mit der Aktivität der Patienten, ist hierfür sehr gut geeignet. Je nach Setting (klinische Ausgangslage, Dauer, Anzahl Elektroden, Video, Auswertungsqualität) werden unterschiedliche Werte bezüglich Spezifität und Sensitivität erreicht. Insgesamt besteht eine höhere Spezifität als Sensitivität, und es kann ein negativ-prädiktiver Wert bis 91% erreicht werden (4). Zur Unterstützung der detaillierten Auswertung der EEG-Telemetrie kommen zunehmend auf künstlicher Intelligenz basierende Programme zur automatischen Detektion von epilepsietypischer Aktivität im EEG zum Einsatz, die mittels Algorithmen epilepsietypische Potenziale und Anfallsmuster wiedererkennen. Es ist davon auszugehen, dass die automatisierte EEG-Beurteilung auch in naher Zukunft nicht die erfahrungsbasierte und im Gesamtkontext individualisierte Analyse durch den Epileptologen ersetzt. Vermutlich dürfte die Kombination einer fachärztlichen und somit in gewissem Masse subjektiven mit einer objektiven, zeitsparenden Auswertung am erfolgversprechendsten sein (5). Eine sehr wichtige Rolle bei der Differenzierung einer epileptischen gegenüber einer andersartigen Genese spielt das EEG auch im Hinblick auf einen möglichen non-konvulsiven Status epilepticus. Ein solcher ist bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen teilweise klinisch nicht sicher auszuschliessen, sodass nur mit einem EEG eine korrekte Beurteilung möglich ist. Wenn sich Patienten im klinisch eindeutig erkennbaren konvulsiven Status epilepticus befinden, wird kein EEG benötigt, auch um der sofortigen Therapie den Vorrang zu geben sowie im Hinblick auf die deutlich eingeschränkte Beurteilbarkeit bei starken Muskelartefakten. Zur Überprüfung des Behandlungsansprechens eines Status epilepticus bietet sich, insbesondere bei zusätzlich enzephalopathischen und somit klinisch erschwert beurteilbaren Patienten, auf der Intensivstation eine EEG-(Video-)Telemetrie an, dies ebenso zur Detektion von seriellen subklinischen epileptischen Abläufen bei fluktuierender Bewusstseinsstörung (6). Zum Monitoring einer Behandlung eines Status epilepticus – sowohl der Sedationstiefe als auch der Entwicklung der epileptischen Aktivität – kann das EEG mit reduzierter Elektrodenzahl von 6 bis 10 Elektroden durchgeführt werden, während zur Detektion von fokaler epileptischer Aktivität und subklinischen epileptischen Abläufen teilweise mehr Elektroden zur Verbesserung der räumlichen Auflösung hilfreich sein können. Differenzialdiagnose akut-provozierter versus unprovozierter epileptischer Anfall Bei vermutetem oder sicherem epileptischem Anfall ist die Frage nach einer Epilepsie-Diagnose im Vordergrund. Dies weil eine solche ein Rezidivrisiko von mindestens 60% in den nächsten zwei Jahren und somit eine klare Indikation zur mittel- bis längerfristigen antikonvulsiven Behandlung bedeutet. Eine Epilepsiediagnose ist in folgenden Situationen zu stellen: Zwei unprovozierte epileptische Anfälle in einem Abstand von mindestens 24 Stunden oder ein unprovozierter epileptischer Anfall sowie der Nachweis von epilepsietypischen Veränderungen im EEG und/oder die Darstellung einer potenziell epileptogenen zerebralen Läsion im MRI oder CT (Computertomogramm) (7). Kommt es innerhalb von 7 Tagen nach Auftreten einer akuten zerebralen Läsion zu einem epileptischen Anfall, ist dieser als akut-symptomatisch bzw. akut-provoziert einzustufen (8), wobei sich keine Epilepsiediagnose und keine eindeutige Indikation zur medikamentösen Anfallsprophylaxe ergibt. Je nach Auslöser und dessen 30 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 3/2023 FORTBILDUNG Dauer sollte aufgrund der individuellen Risikostratifizierung abgewogen werden, ob eine vorübergehende pragmatische antikonvulsive Medikation eingesetzt werden soll oder ob ausschliesslich eine Behandlung der auslösenden Faktoren stattfinden kann. Abklärung der Ursache und Einordnung der Epilepsie Einige Befunde erlauben eine rasche umfassende Diagnosestellung. Dies ist beispielsweise bei folgenden Konstellationen der Fall: 1. generalisierter epileptischer Anfall im Jugendalter und generalisierte 3-Hz-spike-wave-Komplexe im EEG bei unauffälligem bildgebendem Befund, passend zu einer genetisch bedingten generalisierten Epilepsie mit generalisierten Anfällen. 2. fokal im rechten Arm eingeleiteter epileptischer Anfall mit sekundärer Generalisierung bei fokalen epilepsietypischen Potenzialen und einer älteren ischämischen Läsion präzentral links, passend zu einer strukturell bedingten fokalen Epilepsie mit fokalen und sekundär-generalisierten Anfällen. In anderen Fällen sind die Befunde nicht eindeutig. Aufgrund der therapeutischen und prognostischen Implikationen empfiehlt sich eine weitere, möglichst detaillierte Abklärung zur Feststellung des vorliegenden Epilepsiesyndroms gemäss der ILAE-(International League Against Epilepsy-)Klassifikation 2017 im Sinne eines «charakteristischen Clusters klinischer und EEG-Merkmale» vorzunehmen (Abbildung 1). Es wird eine «multilevel» Einteilung angestrebt, anhand von Anfallstyp (fokaler, generalisierter oder unklarer Ursprung) und Epilepsietyp (fokal, generalisiert, kombiniert oder unklar), EEG- und MRI-Befunden, und des Alters der Patienten unter stetiger Berücksichtigung der spezifischen ätiologischen Zuordnung sowie möglicher Komorbiditäten (insbesondere kognitive und psychiatrische Störungen). Diese detaillierte Art der Diagnosestellung ermöglicht eine optimierte und individualisierte Therapieevaluation unter Berücksichtigung von weiteren Faktoren auf Patientenseite (wie Komedikation, bekannte Unverträglichkeiten, Allergien, psychische Symptome) und unterstützt die Prognosestellung (Abbildung 2). Epilepsiesyndrome korrelieren nicht immer mit der Ätiologie. Für einige Epilepsiesyndrome gibt es separate Kategorien, wie für die Syndrome mit entwicklungsbedingter und/oder epileptischer Enzephalopathie sowie für die Syndrome mit spezifischer Ätiologie assoziiert mit einer bestimmten klinischen Präsentation, so bei monogenetischen und gewissen strukturell bedingten Epilepsien wie der mesialen Temporallappenepilepsie mit hippocampaler Sklerose. Mehr Informationen zum Thema Epilepsiesyndrome finden sich auf der Website der ILAE (www.ilae.org). Bei der Umsetzung in der Praxis empfiehlt sich die weitergehende Diagnostik insbesondere dann, wenn weitere unklare Symptome wie kognitive Defizite bestehen und/oder wenn nach Etablierung einer antikonvulsiven Medikation keine genügende Anfallskontrolle erreicht werden kann. Bei kognitiven und affektiven Störungen ist die Evaluation einer Lumbalpunktion zur Abklärung einer zugrundeliegenden Enzephalitis vordringlich. Zudem ist eine neuropsychologische Untersuchung Fokal Anfallstypen Generalisiert Unbekannt Komorbiditäten Fokal Epilepsietypen Generalisiert Kombiniert generalisiert und fokal Unbekannt Epilepsie-Syndrome Ätiologie Strukturell Genetisch Infektiös Metabolisch Autoimmun Unbekannt Abbildung 1: Abklärung des vorliegenden Epilepsiesyndroms gemäss ILAE (modifiziert nach [9]). Weniger spezifische klinische Entität Variable Prognose Spezifischere klinische Entität Spezifische Prognose Verschiedene Komorbiditäten Charakteristische elektroklinische Merkmale Spezifische Komorbiditäten oder Absenz von Komorbiditäten Verschiedene Ätiologien Eindeutige Ätiologie Abbildung 2: Prognosestellung je nach Diagnosestellung (modifiziert nach [10]). sinnvoll, nicht nur zur Unterstützung der diagnostischen Einordnung, sondern auch als Ausgangslage für Folgeuntersuchungen zur Beurteilung der Effekte der Epilepsie und der antikonvulsiven Therapie auf das Gehirn. Bei negativem bildgebendem Befund kann ein Postprocessing des Gehirn-MRI mit Volumetrie insbesondere zur Untersuchung einer möglichen Hippocampusatrophie und Morphometrie zur Detektion subtiler fokaler kortikaler Dysplasien hilfreich sein. Dabei spielt auch hier die künstliche Intelligenz bei der Wiedererkennung von bestimmten Mustern eine zunehmend wichtige Rolle (11). Epileptologische Verlaufskontrollen Neben der Anamnese, idealerweise gestützt durch einen Anfallskalender der Patienten, und dem klinischen Bild bietet der Verlauf der Standard-EEG eine hilfreiche Methode zur Einschätzung der Aktivität der Epilepsie, da die Häufigkeit und Morphologie von epilepsietypischen Potenzialen und insbesondere der Nachweis von epileptischen Abläufen die anamnestischen Angaben untermauern und Therapieentscheide erleichtern können. Hierbei kann die Durchführung von Provokationsmanövern wie Hyperventilation und Photostimulation hilfreich sein, um den Effekt der antikonvulsiven Therapie möglichst genau und objektiv zu prüfen. Dabei müssen allerdings stets Kontraindikationen wie eine Schwanger- 3/2023 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 31 FORTBILDUNG Merkpunkte: ● Eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung zur Erhebung der Semiologie eines epilepsieverdächtigen Ereignisses sowie patientenbezogener Begleitfaktoren stellen die Grundlage zur Eingrenzung der möglichen Differenzialdiagnosen und Evaluation weiterer Diagnostik dar. ● Zur Abklärung eines anfallsartigen Ereignisses oder einer unklaren Episode mit Bewusstseinsveränderung oder von neurologischen Defiziten empfehlen sich eine Basislaboruntersuchung und ein Ruhe-EKG zur differenzialdiagnostischen Abklärung und Feststellung möglicher Provokationsfaktoren für ein epileptisches Ereignis. ● Das EEG und die zerebrale Bildgebung, insbesondere das Gehirn-MRI, sind zentrale apparative Untersuchungen in der Epilepsiediagnostik, sowohl bei der Diagnosestellung als auch unter bestimmten Umständen bei der Verlaufsbeobachtung und insbesondere im Fall einer fehlenden Zustandsnormalisierung nach einem epileptischen Anfall. ● Falls sich bei klinisch vermutetem oder gesichertem epileptischem Anfall keine wegweisenden Befunde im EEG und Gehirn-MRI ergeben und es unklar bleibt, ob eine Epilepsie-Diagnose besteht, sind ein Langzeit-EEG und eine weiterführende Analyse des Gehirn-MRI mittels Postprocessing zu evaluieren. ● Insbesondere wenn epileptische Anfälle mit kognitiven und/oder affektiven Störungen einhergehen, sollte eine Lumbalpunktion zur Abklärung einer zugrundeliegenden Enzephalitis erfolgen. ● Die detaillierte Zuordnung einer Epilepsie zu einem Epilepsiesyndrom gemäss der ILAE-Klassifikation 2017 anhand von Anfallstyp(en) und Epilepsietyp unter Berücksichtigung der spezifischen ätiologischen Zuordnung sowie möglicher Komorbiditäten begünstigt eine optimierte und individualisierte Therapieevaluation sowie eine Prognosestellung. schaft ausgeschlossen sein, zudem sollten die Indikation sowie das Risiko für einen provozierten Anfall mit den Patienten im Vorfeld besprochen werden. Serumspiegelkontrollen der antikonvulsiven Medikamente können bei Bedarf zur Überprüfung der Compliance und zur Erhebung des individuell wirksamen Serumspiegels im Sinn einer aktuellen Grundlage für weitere Therapieanpassungen vorgenommen werden. Letzteres ist insbesondere vor einer Schwangerschaft wichtig, da sich der Serumspiegel während der Schwangerschaft vermindern kann und entsprechende Dosiserhöhungen anhand von regelmässigen Messungen der Serumspiegel notwendig werden können. Bei der Abklärung von Anfällen bei bekannter Epilepsie stellt sich in erster Linie die Frage, ob es sich um das bekannte Anfallsmuster handelt oder ob eine neuartige Symptomatik aufgetreten ist. Epilepsien können mit verschiedenen Anfalls-Semiologien einhergehen, wobei diese in sich stets stereotyp auftreten. Wenn immer wieder neue Anfallsmuster vorkommen, sollte differenzialdiagnostisch die Entwicklung von zusätzlichen synkopalen oder psychogenen Anfällen in Erwägung gezogen werden. Neben einem Routine- und gegebenenfalls Langzeit-EEG ist in solchen Fällen eine psychiatrische und/oder kardiologische Abklärung zu evaluieren. Bei Auftreten von patiententypischen Anfällen im Rahmen einer bekannten Epilepsie ist vordergründig die antikonvulsive Therapie zu überdenken. Wenn sich Patienten direkt nach dem Anfall ärztlich vorstellen, ist neben dem Routine-Labor inklusive Abklärung von möglichen Provokationsfaktoren auch eine laborchemische Serumspiegelbestimmung der antikonvulsiven Medikation wichtig, da Malcompliance und Resorptionsstörungen der Medikamente Auslöser von epileptischen Anfällen sein können. Der Blutentnahmezeitpunkt muss zur Interpretation der Befunde mit dem Einnahmezeitpunkt der Medikation korreliert werden. EEG bei Menschen ohne anfallsartige Ereignisse Das EEG kann in 0,5% der Fälle Zufallsbefunde, wie epi- lepsietypische Potenziale bei gesunden, vollständig an- fallsfreien Personen, erbringen (12). Ob ein solcher zufälliger Befund im weiteren individuellen Verlauf eine Bedeutung haben wird, bleibt jeweils offen. Eine Behandlungskonsequenz ergibt sich daraus nicht. Indi- viduell abzuwägen ist die Bedeutung von epilepsietypi- schen Potenzialen, wenn das EEG zur Risikostratifizierung von potenziell krampfschwellensenkenden medika- mentösen Therapien wie Methylphenidat bei ADHS oder Clozapin bei Psychosen eingesetzt wird. Wenn eine solche Therapie bei äusserst dringlicher Indikation trotz Nachweis von epilepsietypischen Potenzialen ein- bzw. fortgesetzt wird, sind regelmässige epileptologische Kontrollen mit EEG zu empfehlen. Konstellationen wie diese heben nochmals hervor, dass in der Epileptologie stets alle patientenbezogenen Faktoren zu integrieren sind und nach individuellen Lösungsansätzen gestrebt werden sollte. l Korrespondenzadresse: Dr. med. Marcellina Haeberlin Klinik für Neurologie Universitätsspital Zürich Frauenklinikstrasse 26 8091 Zürich E-Mail: marcellinaisabelle.haeberlin@usz.ch Referenzen: 1. Pottkämper JCM et al.: The postictal state – What do we know? Epilepsia. 2020;61(6):1045-1061. 2. Chen DK et al.: Use of serum prolactin in diagnosing epileptic seizures. Neurology 2006; 65:669-675. 3. Willert C et al.: Serum neuron-specific enolase, prolactin, and creatine kinase after epileptic and psychogenic non-epileptic seizures. Acta Neurol Scand 2004;109:318-323. 4. Renzel R et al.: Sensitivity of long-term EEG monitoring as a second diagnostic step in the initial diagnosis of epilepsy. Epileptic Disord. 2021;23(4):572-578. 5. Acharya UR et al.: Automated seizure prediction. Epilepsy Behav. 2018;88:251-261 6. André-Obadia N et al.: Continuous EEG monitoring in adults in the intensive care unit (ICU). Neurophysiol Clin. 2015;45(1):39-46. 7. 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