Transkript
E D I T O R I A L Der Einstieg in die Forschung ist
interessant, machbar und bereichernd
F orschung ist der zentrale Faktor, um Früherkennung von Erkrankungen, die Qualität der medizinischen Diagnostik und die Entwicklung von neuen Behandlungsmöglichkeiten voranzutreiben. Forschung ist ausserdem von höchster Relevanz, um die studentische Lehre und die Ausbildung von Assistenzärztinnen und -ärzte auf dem neuesten Stand des verfügbaren Wissens leisten zu können.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ist ein junges Fach mit einer hohen dynamischen Entwicklung zur Evidence Based Medicine und steigenden Fallzahlen in einer Phase eines zunehmenden Ärztemangels, der in allen Fachgebieten spürbar ist. Gleichzeitig bietet die Kinder- und Jugendpsychiatrie die Möglichkeit, biologische Mechanismen, die zu psychischen Erkrankungen führen, von frühesten Stadien an longitudinal zu verfolgen und zu intervenieren, bereits bevor Erkrankungen entstehen. Damit befindet sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Zentrum des Interesses von einflussreichen Projekten wie den Research Domain Criteria (RDoc), transdiagnostischen Ansätzen wie dem HiTOP-(Hierarchical Taxonomy of Psychopathology-)Modell und Entwicklungen wie der Präzisionspsychiatrie.
Die Vereinbarkeit von klinischer und wissenschaftlicher Ausbildung stellt an junge Ärztinnen, die eine akademische Karriere anstreben, hohe persönliche Anforderungen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind die Forschungsstrukturen heute allerdings noch nicht gleichermassen etabliert, wie in anderen medizinischen Fachdisziplinen.
Die neue Generation von Ärztinnen und Ärzten trifft deshalb auf noch grössere Herausforderungen, um ihre akademische Karriere in Gang zu bringen. Die Hürden, auf die sie stossen, sind mannigfaltig und umfassen beispielsweise fehlende zeitliche Ressourcen und das damit verbundene ethische Dilemma Klinik- vs. Forschungszeit, notwendiger Aufbau von Wissen zu Statistik, Wissenschaftsmethodik oder Scientific Writing, die Suche eines geeigneten «Role-Modells», um Orientierung zu finden oder letztlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das Motivie-
ren von vulnerablen, minderjährigen Patienten (und deren Eltern), an wissenschaftlichen Erhebungen teilzunehmen, die strukturierte Erfassung von Daten sowie deren Auswertung sind aufwändig und komplex. Die jungen Wissenschaftlern und Ärzten sind letztlich gefordert, beim Aufbau der oftmals erst rudimentär vorhandenen Forschungsstrukturen und – mindestens ebenso relevant – der dahinterstehenden Forschungshaltung in den Kliniken aktiv mitzuhelfen. Die aktuelle Ausgabe ist aus diesem Grund Nachwuchswissenschaftlern gewidmet, die sich auf diesen beschwerlichen, aber auch lohnenswerten Weg gemacht haben, um Forschung und Klinik innerhalb des Fachs Kinder- und Jugendpsychiatrie gleichermassen zu betreiben. Sie stehen an unterschiedlichsten Stellen ihrer Karriere und befassen sich inhaltlich mit verschiedenen Themen.
Annina Killer stellt in ihrem Artikel den Zusammen-
hang zwischen Stress und der noch sehr neuen und
für die Kinder- und Jugendpsychiatrie immer relevan-
ter werdenden Störung, der Internet-Gaming-Abhän-
gigkeit, dar. Steve Vilhem beschreibt transkulturelle
Aspekte von Essstörungen anhand der Fallbeschrei-
bung einer untergewichtigen Patientin aus Kambod-
scha. Maya Cosentino beleuchtet die Auswirkungen
des Klimawandels auf die psychische Gesundheit und
wirft ein Schlaglicht auf neue Phänomene wie die
Öko-Angst. Julie Elsner gibt einen Überblick zu Ko-
morbiditäten von Suchterkrankungen im Transitions-
alter und leitet daraus Vorschläge für die Therapie
dieser jungen Patienten ab. Matthias Liebrand be-
schreibt Hirnfunktionen in der Entwicklung von Psy-
chosen anhand sogenannter EEG Microstates, die als
die Atome des Denkens betrachtet werden. Die jungen
Forscher beschreiben den Stand ihrer gegenwärtigen
Forschungsprojekte und geben einen kurzen Einblick
in ihre persönliche Entwicklung. Wir hoffen, Ihnen
damit einige spannende Entwicklungen des Fachs
Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzeigen zu können
und jungen Ärzten und Ärztinnen zu vermitteln, dass
ein Einstieg in die Forschung interessant, machbar
und bereichernd sein kann.
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Foto: zVg
Jochen Kindler
Prof. Dr. med. Jochen Kindler Universitätsklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Chefarzt Grundversorgung Notfall-, Akutbereich und Ambulanzbereich Universitäre Psychiatrische Dienste Bern Bolligenstrasse 111 3000 Bern 60
E-Mail: jochen.kindler@unibe.ch
3/2023
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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