Transkript
E D I T O R I A L Stressfolgeerscheinungen erfordern
eine ganzheitliche Betrachtung
I n der Hausarztpraxis und der psychiatrischen Praxis sind Patientinnen und Patienten mit Stressfolgeerscheinungen wie Erschöpfungszuständen sicherlich die mit am häufigsten zu untersuchenden und zu behandelnden. Sehr oft sind Erschöpfungssymptome die Folge von chronischem Stress, von ständiger Angespanntheit, von fehlender Erholung und fehlendem Ausgleich.
Erschöpfungssymptome sind im Grunde – wie Schmerzen auch – immer körperlicher und psychischer Natur: ineinander verwoben, schwer zu differenzieren als rein körperlich oder psychisch. Die Betroffenen leiden unter Symptomen wie Tagesmüdigkeit, Schlafstörungen, körperlicher Abgeschlagenheit oder Mattigkeit. Sie berichten von Schwindelgefühlen, Antriebshemmungen, Motivationsproblemen, allgemeinem Unwohlsein, Lustlosigkeit, Freudlosigkeit. Sie erleben sich selbst dünnhäutig, schnell überfordert, ratlos, eventuell auch aggressiv oder sich zurückziehend, möglichst allem und jedem sich entziehend. Angst und depressive Stimmung sind entweder von Anbeginn Teil des Beschwerdebilds oder werden es mit zunehmender Dauer des Zustands.
Manche der Betroffenen wehren sich dagegen, dass die Beschwerden psychischer Natur sein könnten respektive unter der Diagnose zum Beispiel einer Depression oder Angsterkrankung zu behandeln wären. Andere haben von vorneherein ein psychologisches Verständnis ihrer Symptome und vergessen somatische Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes, Hypothyreose, Anämie oder gar eine onkologische, nephrologische, kardiologische oder neurologische Erkrankung.
währt sich sicher ein enger Schulterschluss zwischen hausärztlicher Abklärung und psychiatrischer Beurteilung, um dann gegebenenfalls vertiefter und spezifisch abzuklären.
Um das weite Feld der Stressfolgeerscheinungen aus Sicht eines in der Grundversorgung tätigen Psychiaters etwas auszuleuchten, habe ich vier meiner ärztlichen Kolleginnen und Kollegen angefragt, um aus ihrem Praxisalltag respektive ihrer jeweiligen persönlichen Expertise zu diesem Themenkomplex etwas zu sagen: Jana Hütter, Co-Chefärztin in der Klinik Gais (Kliniken Valens) berichtet über «Fatigue an der Schnittstelle zwischen Psyche und Soma». Dr. med. Barbara Hochstrasser, Chefärztin der Privatklinik Meiringen, Ambulatorium Bern, stellt in einer Übersichtsarbeit «Burnout und Erschöpfungsdepression» dar, wie aus einem Burnout-Prozess eine Erschöpfungsdepression werden kann. Dr. med. Sebastian Pfaundler, niedergelassener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, stellt die Zusammenhänge zwischen Stress und Angsterkrankungen dar und gibt in seinem Beitrag konkrete Empfehlungen zur Beurteilung und Behandlung von Angstzuständen. PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Hemmeter und Dr. med. Theofanis Ngamsri geben einen umfassenden Überblick zum Thema des gestörten Schlafes. Damit erschliessen sich verschiedene Zugänge und Teilaspekte in der Auseinandersetzung mit Stress und Stressfolgeerkrankungen, immer unter Berücksichtigung der körperlichen und der psychischen Aspekte, im Kontext mit den sozialen Rahmenbedingungen.
Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre. l
Beides kann auf Seiten der Betroffenen, aber auch auf Seiten der Behandler auf den Holzweg führen. Ein ganzheitliches Verständnis unter Beachtung des bio-psycho-sozialen Ansatzes mit fachspezifischen Abklärungen erscheint in jedem Fall indiziert. Zu komplex und individuell verschieden sind die Sachverhalte. An der Basis, in der Grundversorgung, be-
Dr. med. Joachim Leupold Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Bartholoméplatz 3 7310 Bad Ragaz
praxis@seelischegesundheit.ch www.seelischegesundheit.ch
Foto: zVg
Joachim Leupold
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2023