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Wir stellen vor:
Prof. Dr. med. Jürgen Pannek
Chefarzt Neuro-Urologie und medizinischer Direktor, Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil
Prof. Pannek kümmert sich leidenschaftlich um urologische Belange seiner querschnittgelähmten Patienten. Dass der ebenso leidenschaftliche Heavy-Metal-Fan überhaupt Urologe geworden ist, verschuldete sein Grossvater.
Sie sind seit 2007 Chefarzt der Neuro-Urologie am ParaplegikerZentrum in Nottwil. Was fasziniert Sie an der Arbeit mit Personen mit Querschnittlähmung? Die meisten Patienten sagen nach einem Jahr, dass für die Urologie ihre Lebensqualität entscheidender ist als die Frage, ob sie noch gehen können. Man kann sich als Querschnittgelähmter eher damit arrangieren, dass man einen Rollstuhl braucht als mit der Tatsache, dass man harninkontinent ist. Das ist für sie ein grosses Problem, da es die Lebensqualität massiv einschränkt. Dies gilt auch für die Sexualfunktionsstörungen. Man kann die Ursachen für die urologischen Probleme leider nicht heilen. Das heisst, man muss mit den Betroffenen gemeinsam permanent die beste Lösung finden. Standardlösungen gibt es nicht. Früher war die häufigste Todesursache von Querschnittgelähmten das Nierenversagen infolge urologischer Probleme. Deshalb muss immer ein Weg gefunden werden zwischen dem, was medizinisch erforderlich ist und dem, was für die betroffenen Personen im Alltag das Beste ist. Und dieser Herausforderung stelle ich mich mit Begeisterung.
Sind die therapeutischen Optionen für diese Patienten in den letzten Jahren besser geworden? Die chirurgischen Eingriffe sind insgesamt minimalintensiver geworden, und es gibt neue Verfahren der Neuromodulation, auch implantierbare. Zudem konnte mit den in den letzten Jahren entwickelten medikamentösen Therapien wie beispielsweise Mirabegron (Betmiga®) eine wesentliche Erleichterung für die Patienten erzielt werden. Dazu kommen intravesikale Instillationen von Chondroitinsulfat/Hyaluronsäure (Ialuril®) und von Oxybutynin (Vesoxx®), die das Spektrum des Machbaren ebenfalls deutlich erweitern.
Sie haben sich nach dem Studium für die Urologie entschieden. Was gab dazu den Ausschlag? Den Anlass dazu gab tatsächlich mein Grossvater. Seiner Meinung nach waren Ärzte nur arrogante und abgehobene Menschen, die anderen das Geld aus der Tasche ziehen. Ein einziges Mal kam er aus dem Spital und war zufrieden mit der Behandlung und den Behandelnden. Er war in einer Urologie. Das weckte mein Interesse an diesem Fach. Denn wenn sogar mein Grossvater das für gut befand, wollte ich in diesem Fach einmal hospitieren. Dabei habe ich bemerkt, wie vielseitig und faszinierend dieses Fach ist, mit grossen Operationen wie der Tumorchirurgie bis zu endoskopischen bzw. minimalinvasiven Eingriffen, mit medikamentöser Therapie und psychotherapeutischen Aspekten – und das alles auf einem überschaubaren Feld. Wenn man das alles können will, ist man gut beschäftigt. Ich habe mich dann auf neuro-urologische Aspekte spezialisiert und widme mich nun urologischen Funktionsstörungen.
Sie haben in Deutschland studiert und Ihren Facharzt für Urologie absolviert. Was führte Sie in die Schweiz? Ich war an einem Kongress und habe meinen Vorgänger vom Schweizer Paraplegiker-Zentrum sagen hören, dass er bald pensioniert werde. Diese Institution geniesst europaweit den besten Ruf, und ich habe mich da beworben. Lustig ist, dass ich den damaligen Gründer des SPZ, Guido Zäch, nicht in der Klinik, sondern erst viel später bei einer Briefmarkenausstellung – einem Hobby von mir – kennengelernt habe. Dort wurde sein Buch über Ersttagsbriefe in der Schweiz vorgestellt, und ich kam ins Gespräch mit ihm.
Sie haben sich vor ein paar Jahren in der Klassischen Homöopathie weitergebildet. Worin kann Ihnen diese Kenntnis in Ihrem Fach etwas nützen? Zum einen war es Horizonterweiterung und zum anderen setzen wir es auch tatsächlich regelmässig ein bei rezidivierenden Harnwegsinfekten. Für unsere Patienten sind Blasenentzündungen ein sehr belastendes Problem. Zudem ist das Risiko für einen Infekt, zum Beispiel durch die Notwendigkeit des intermittierenden Selbstkatheterismus, erhöht. Solche Infekte immer antibiotisch zu behandeln, macht den Patienten grosse Probleme und fördert die Entstehung multiresistenter Bakterien. Daher sucht man Alternativen wie die Stimulation des Immunsystems oder eine homöopathische Behandlung, die als Rezidivprophylaxe wie auch als Akuttherapie einen Nutzen bringen kann.
Sie haben kürzlich noch einen Master in Philosophie und Medizin absolviert. Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen? Alle meine Kollegen haben im Zeichen der Zeit eine ökonomische Zusatzausbildung absolviert. Weil es mir aber ein Bedürfnis war, die nicht-ökonomischen Aspekte nicht ganz untergehen zu lassen, entschied ich mich für eine philosophische Zusatzausbildung. Denn es gibt sehr viele ethische Fragestellungen bei Menschen mit Querschnittlähmung. Bei manchen unserer Patienten liegt der Querschnittlähmung eine psychiatrische Erkrankung zugrunde, infolge derer sie einen Suizidversuch unternommen haben. Wie rehabilitiert man Menschen, die zu einer Kooperation nicht in der Lage sind? Was macht man, wenn Patienten statt der Erstrehabilitation um einen assistierten Suizid bitten? Oder wie rehabilitiert man jemanden, der 85 Jahre alt ist? Welchen Aufwand treibt man, wenn die Lebenserwartung eingeschränkt ist, was mutet man einem solchen Patienten noch zu? Es gibt im Alltag viele ethische Fragen, die es zu überlegen gilt. Dafür ist dieses Studium eine Hilfe gewesen.
Womit können Sie am besten entspannen, was tun Sie für Ihren Ausgleich? Ich lese sehr gerne. Als grosser Karl-May-Fan habe ich kürzlich das von einem Arzt verfasste Buch «Dr. med. Karl May» gelesen, der eigentlich selbst gerne Arzt geworden wäre. Unter anderem anhand der medizinischen Kenntnisse von Karl Mays Figuren über die Heilkunst erstellt der Autor ein psychopathologisches Portrait über diese kreative Persönlichkeit. Ein brillant geschriebenes Buch, in dem sehr viel über kognitive
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Forschung zu erfahren ist und das meiner Meinung nach auch für NichtKarl-May-Fans interessant ist. Das zweite Hobby, das mir Entspannung bringt, ist die Heavy-Metal-Musik, die ich mir sehr oft bei Konzerten anhöre. Dazu gibt es ebenfalls ein von einem Psychotherapeuten geschriebenes hochinteressantes Buch, bei dem es um den positiven Einfluss von Heavy-Metal-Musik auf Depression geht (Nico Rose: «Hard, Heavy & Happy»).
Beruflicher Werdegang kurz und knapp
Prof. Pannek studierte in Bochum (D) Medizin und spezialisierte sich anschliessend zum Facharzt für Urologie an der Urologischen Klinik der Universität Bochum. Nach einem Forschungsaufenthalt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Johns Hopkins Hospital in Baltimore (USA) übernahm er 1997 die Leitung der neuro-urologischen Ambulanz der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete später als Leitender Arzt am Marienhospital in Herne. Seit 2007 ist er Chefarzt der Neuro-Urologie am Paraplegiker-Zentrum in Nottwil und Mitglied der Geschäftsleitung.
Für körperlichen Ausgleich sorgt mein drittes Hobby. Ich spiele Unihockey als Torwart.
Was waren Ihre grössten persönlichen und beruflichen Highlights?
Ein grosses berufliches Highlight war sicher das Jahr als Research Fellow
in den USA und die daraus resultierende Habilitation. Ein weiteres beruf-
liches und persönliches Highlight war der Besuch in Haiti. Nach dem
grossen Erdbeben, bei dem es viele Querschnittgelähmte gab, hat die
Schweizer Paraplegiker Stiftung, zu der auch unser Spital gehört, dort
den Bau eines Rehazentrums unterstützt. In diesem Zentrum durfte ich
14 Tage hospitieren, was mich persönlich nachhaltig beeinflusst hat.
Diese zwei Wochen haben mir hinsichtlich Lebensqualität und Sicher-
heit ganz neue Dimensionen eröffnet. Denn fliessendes Wasser war
genauso wenig selbstverständlich wie das Überqueren einer Strasse,
ohne überfallen zu werden. Auch in der Reha hatten wir mit anderen
Hindernissen zu kämpfen. Beispielsweise wurde das Therapiepferd
nachts gestohlen und aufgegessen, weil die Leute nichts zu essen hat-
ten. Hier wäre das undenkbar.
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Das Interview führte Valérie Herzog.
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