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E D I T O R I A L Neuro-Urologie im Fluss
K ontinenz und willkürliche Miktion sind für die meisten von uns im Alltag selbstverständlich. Wenn «alles läuft», führt man sich kaum vor Augen, welche komplexen neuronalen Systeme erforderlich sind, um die Speicher- und Entleerungsfunktion des unteren Harntrakts zu gewährleisten. Die Steuerung dieser Funktionen beruht auf einer Interaktion zwischen zentralen, spinalen und peripheren Nerven; somit kann jede Schädigung des Nervensystems potenziell eine Funktionsstörung des unteren Harntrakts verursachen. Diese kann sich als neurogene Blasenfunktionsstörung (nBFS) oder als Sexualfunktionsstörung (nSFS) manifestieren. So können sowohl neurologische Systemerkrankungen (vor allem Multiple Sklerose, M. Parkinson, Diabetes mellitus) als auch lokalisierte Nervenläsionen (z. B. Querschnittlähmung, Diskusprolaps, spinale Tumoren oder Perfusionsstörungen, Operationen im kleinen Becken, Apoplex) zu nBFS und nSFS führen. Die vorliegende Ausgabe fokussiert auf die nBFS; nSFS stellen jedoch ebenfalls ein für die Betroffenen wichtiges Thema dar, das aus Platzgründen hier nicht vertieft behandelt wird. NBFS können sowohl die Lebensqualität der Betroffenen massiv beeinträchtigen (z. B. durch Inkontinenz, Harnwegsinfekte) als auch die Nierenfunktion schädigen (vor allem bei suprasakralen Rückenmarkläsionen).
Sicherung der Nierenfunktion Bis vor wenigen Jahrzehnten war die terminale Niereninsuffizienz als Folge einer nBFS die häufigste Todesursache bei Menschen mit Querschnittlähmung. Bei einer ausschliesslich symptomorientierten Therapie der nBFS werden bei einer Rückenmarkläsion bei zirka 80% der Betroffenen die Risikofaktoren für Funktionsstörungen des oberen Harntrakts nicht adäquat behandelt. Erst die Etablierung einer regelmässig durchgeführten, auf urodynamischen Untersuchungen basierenden Funktionsdiagnostik hat eine Behandlung nach objektivierbaren Kriterien ermöglicht, was zu einem massiven Rückgang der Mortalität geführt hat.
Lebensqualität Neben der Sicherung der Nierenfunktion ist ein bestmöglicher Erhalt der Lebensqualität der Betroffenen ein wichtiges Ziel der urologischen Betreuung von Per-
sonen mit nBFS. Sekundärfolgen einer Rückenmarkverletzung auf urologischem Gebiet haben für Betroffene einen gravierenderen negativen Einfluss auf die Lebensqualität und die Funktionalität als der Verlust der Gehfähigkeit. Dazu gehören Sexualfunktionsstörung, Inkontinenz, Verwendung von Hilfsmitteln, z. B. Kathetern zur Blasenentleerung, rezidivierende Harnwegsinfekte, Nebenwirkungen von Medikamenten zur Therapie der Detrusorüberaktivität. Daher fokussiert sich die Forschung in der Neuro-Urologie einerseits auf die Optimierung der Therapie. Bereits im klinischen Alltag etablierte Beispiele von Innovationen der letzten Jahre sind nebenwirkungsärmere Medikamente (z. B. Mirabegron), minimalinvasive Lokalmassnahmen (z. B. BotulinumtoxinA-Injektionen in den Detrusor) oder neuromodulative Verfahren. Andererseits wird durch frühzeitige Interventionen (z. B. Tibialisnervstimulation) oder neuroregenerative Verfahren angestrebt, das Entstehen einer nBFS zu verhindern oder diese in ihrem Ausmass zu begrenzen.
Tabus offen ansprechen
Trotz der Einschränkungen der Lebensqualität und
der Auswirkungen auf den Alltag stellen Inkontinenz
und Sexualfunktionsstörungen für einen Teil der Be-
troffenen immer noch Tabuthemen dar. Während die
Rehabilitation von Blasen- und Darmfunktionsstö-
rungen fester Bestandteil der Primärrehabilitation bei
Menschen mit erworbener Rückenmarkverletzung
ist, wenden sich Betroffene mit anderen neurologi-
schen Erkrankungen trotz Leidensdruck nur selten
spontan an eine Urologie. Daher ist ein aktives An-
sprechen der Problematik durch das Gesundheits-
fachpersonal anderer Fachrichtungen (z. B. Haus-
ärzte, Neurologen, Physiotherapien) als erster Schritt
oft hilfreich.
Der Wichtigkeit der urologischen Funktionsdiagnos-
tik trägt die Subspezialisierung in der Urologie Rech-
nung. Die Schweiz ist hierbei das einzige europäische
Land, das einen eigenen Ausbildungsgang (Schwer-
punkttitel Neuro-Urologie) etabliert hat und somit
eine Vorreiterrolle einnimmt. Angesichts der zuneh-
menden Alterung der Gesellschaft mit steigender
Häufigkeit von neurologischen Systemerkrankungen
und von nicht-traumatischen Rückenmarkschädi-
gungen wird die funktionelle Urologie für viele Men-
schen weiter an Bedeutung gewinnen.
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Foto: zVg
Jürgen Pannek
Prof. Dr. med. Jürgen Pannek Chefarzt Neuro-Urologie
Schweizer Paraplegiker-Zentrum Guido A. Zäch Strasse 1 6207 Nottwil E-Mail:
juergen.pannek@paraplegie.ch
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2023