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FORTBILDUNG
Diagnostik und Differenzialdiagnostik der ADHS im Erwachsenenalter
Foto: zVg
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) kommt auch im Erwachsenenalter häufig vor. Das hat zur Folge, dass eine grosse Nachfrage an diagnostischen Abklärungen besteht, ADHS jedoch noch immer oft übersehen wird. Einer zuverlässigen und rechtzeitigen Diagnostik kommt daher eine grosse Bedeutung zu. Einerseits kann bei Erkennung der Störungen den Patienten ein breites Spektrum an evidenzbasierten Therapien angeboten werden, sowohl psychopharmakologischer als auch psychotherapeutischer Art, anderseits können Fehl- oder Nichtbehandlungen vermieden werden.
Rolf-Dieter Stieglitz
von Rolf-Dieter Stieglitz
D ie ADHS (DSM-5, ICD-11) bzw. die nach «F90.0 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung» (ICD-10) mit den Merkmalsbereichen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität ist heute auch eine im Erwachsenenbereich etablierte und valide Störung. Eine Vielzahl an Publikationen zu unterschiedlichen Themenbereichen (u. a. Diagnostik, Therapie, Komorbidität) unterstreicht dies. In PubMed (Stand: 8.10.2022) finden sich unter den Stichworten «ADHD and Adults» 13 833 Publikationen. Zudem liegen internationale wie nationale Leitlinien zur Diagnostik und Therapie vor (1, 2). Die Voraussetzung für eine Diagnose im Erwachsenenalter ist der Nachweis des Beginns der Symptomatik in der Kinder- und Jugendzeit, wie es in der ICD-10/ICD-11 und dem DSM-5 gefordert wird. Schätzungen zur Prävalenz im Erwachsenenalter in der Allgemeinbevölkerung schwanken weltweit zwischen 3 und 5% (3), in Deutschland liegt sie bei 4,7% (4). In psychiatrischen Institutionen liegen die Prävalenzraten jedoch deutlich höher, im ambulanten Bereich bei zirka 15% (5), im stationären Bereich schwanken sie zwischen zirka 7 und 39% (6). Zudem weisen viele Patienten zwar nicht mehr das Vollbild einer ADHS auf, das Störungsbild zeigt sich jedoch subsyndromal, das heisst, die Patienten haben weiter Symptome und mögliche Folgen (3). Patienten mit einer ADHS weisen neben der Symptomatik zum Teil schwerwiegende Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen auf (z. B. soziale Beziehungen, Beruf/Schule [7, 8]) und sind täglich mit den aus der Symptomatik resultierenden Schwierigkeiten bei fast allen Aktivitäten des Alltags konfrontiert (7). Patienten mit einer ADHS haben weiterhin ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung körperlicher Erkrankungen (8). Es handelt sich somit bei der ADHS im Erwachsenenalter um eine persönlich wie gesellschaftlich relevante Diagnose, die mit hohen Kosten verbunden ist (8). Ein Grossteil jener, die sich im Erwachsenenalter für eine Ab-
klärung anmelden, wurden im Kindes- oder Jugendalter nie abgeklärt. Einer zuverlässigen und vor allem rechtzeitigen Diagnosestellung kommt daher eine wichtige Rolle zu, zumal zwischenzeitlich eine Reihe effektiver Behandlungsansätze existieren, insbesondere psychopharmakologische, aber auch psychotherapeutische (vgl. 1, 2, 8).
Kennzeichen der ADHS im Erwachsenenalter Wie im Kindes- und Jugendalter ist die ADHS auch im Erwachsenenalter gekennzeichnet durch Symptome in den Bereichen Unaufmerksamkeit (u. a. Vergessen von Details/Flüchtigkeitsfehler, Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, Vergesslichkeit bei Alltagsaktivitäten), Hyperaktivität (z. B. Zappeln mit Händen und Füssen, überaktiv, aufstehen, wenn es nicht angemessen ist) und Impulsivität (z. B. anderen ins Wort fallen, andere stören), was die Basis für die Diagnosestellung liefert. Es gilt jedoch, im Erwachsenenalter einige Besonderheiten zu beachten: l Veränderung der Symptomatik im Zeitverlauf: Der
Bereich Hyperaktivität nimmt im Zeitverlauf eher ab, manifestiert sich eher als innere Unruhe (9). l Komorbide Störungen: Komorbide Störungen nehmen im Zeitverlauf zu (10). l Erweiterung des Spektrums der Symptomatik: Zur Kernsymptomatik treten eine Reihe weiterer klinisch relevanter Bereiche auf, z. B. emotionale Dysregulation oder Desorganisation werden deutlich (9). l Spätes erstmaliges Auftreten: Bei vielen Erwachsenen wird die Diagnose nicht nur erstmals gestellt, sondern die Symptomatik zeigt sich oft dann erstmals in klinisch relevanter Weise (11).
ADHS in ICD-10, ICD-11 und DSM-5 Die Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter ist wie bei allen anderen psychischen Störungen anhand eines anerkannten Klassifikationssystems zu stellen. Derzeit
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Tabelle 1:
Diagnose der ADHS in ICD-10, DSM-5 und ICD-11
ICD-10 (Forschungskriterien)
DSM-5
ICD-11
Bezeichnung
F90.0 Einfache Aktivitäts-
Aufmerksamkeitsdefizit-
6A06
und Aufmerksamkeitsstörung
Hyperaktivitätsstörung
Aufmerksamkeitsdefizit-
Hyperaktivitätsstörung
Beginn und Dauer
persistierendes Muster
persistierendes Muster
persistierendes Muster
(mind. 6 Monate), beginnend
(mind. 6 Monate), beginnend
(mind. 6 Monate), beginnend
vor dem 7. Lebensjahr
vor dem 12. Lebensjahr
vor dem 12. Lebensjahr
Bereiche
Unaufmerksamkeit Unaufmerksamkeit Unaufmerksamkeit
Hyperaktivität Hyperaktivität Hyperaktivität
Impulsivität Impulsivität Impulsivität
Diagnostischer
● spezifiziert
● spezifiziert
● nicht spezifiziert,
Algorithmus
● kein Symptom verbindlich
● kein Symptom verbindlich
da klinische Leitlinien
● keine Vorgabe für bestimmte
Anzahl von Symptomen («several»)
Spezifizierungen
● keine
● F90.0 Vorwiegend
● sog. «specifiers» zur Bezeichnung
● Restkategorien (F90.8 Sonstige
unaufmerksames
des im Vordergrund stehenden
hyperkinetische Störung, F90.9
Erscheinungsbild
Störungsbilds
Nicht näher bezeichnete
● F90.1 Vorwiegend hyperaktiv- ● 6A06.0 Vorwiegend
hyperkinetische Störung)
impulsives Erscheinungsbild
unaufmerksames Erscheinungsbild
● F90.2 Vorwiegend gemischtes ● 6A06.1 Vorwiegend hyperaktiv-
Erscheinungsbild
impulsives Erscheinungsbild
● Möglichkeit der Schweregrad- ● 6A06.2 Vorwiegend
einteilung (leicht, mittel, schwer) gemischtes Erscheinungsbild
● Kodierung «teilremittiert»
Situationen
situationsübergreifend,
mindestens 2
manifestiert sich über verschiedene
mehr als eine Situation
verschiedene Lebensbereiche
Situationen und Settings hinweg
Ausschluss
Störung erfüllt nicht die Kriterien ● Schizophrenie und andere
● Symptome nicht besser durch
● F84 Entwicklungsstörung
psychotische Störungen
eine andere psychische Störung
● F30 Manische Episode
● andere psychische Störungen
zu erklären (z. B. affektive Störung)
● F32 Depressive Episode
(u. a. affektive Störung)
● Symptome nicht auf den Einfluss
● F41 Angststörung
von Substanzen (z. B. Kokain) oder
Medikamenten zurückzuführen
sind dies ICD-10, ICD-11 und DSM-5. ICD-10 ist seit 1992 gültig, ICD-11 offiziell seit 2022, wenngleich es noch keine offizielle deutschsprachige Übersetzung gibt, DSM-5 liegt im deutschsprachigen Raum seit 2015 vor. In Tabelle 1 sind alle 3 Konzeptualisierungen einander gegenübergestellt. Gegenüber ICD-10 gab es speziell, was die ADHS betrifft, immer Vorbehalte (u. a. Ersterkrankungsalter vor 7 Jahren, zu ungenau, Kriterien für das Erwachsenenalter ungeeignet), oft wird in der Praxis auf die deutliche, präzisere Beschreibung des Störungsbilds im DSM-5 zurückgegriffen, das vor allem aber in der Forschung. In der ICD-11 wurden die kritischen Punkte revidiert (u. a. Ersterkrankungsalter bis 12 Jahre, Präzisierung der Symptombeschreibungen) und erstmals der Begriff ADHS eingeführt. Mit der ICD-11 findet somit eine Annäherung an DSM-5 statt, sodass zukünftig auf ICD-11 zurückgegriffen werden kann (sobald eine offizielle deutschsprachige Version vorliegt), da die Mitgliedsländer der WHO verpflichtet sind, nach ICD zu verschlüsseln. Es gibt jedoch eine Übergangszeit von zirka 5 Jahren, in denen ICD-10 und ICD-11 parallel verwendet werden können.
Differenzialdiagnostik und Komorbidität bei ADHS Stärker noch als bei anderen psychischen Störungen stellt sich bei ADHS die Frage nach Differenzialdiagnosen (DD), vor allem deshalb, weil einige Störungen auch als komorbide Störungen auftreten können (12). Bei einer genauen Beachtung und Prüfung der Kriterien der jeweiligen Störung ist das in der Regel jedoch nicht kompliziert, zudem stehen eine Reihe diagnostischer Hilfsmittel zur Verfügung (siehe unten). Schwierigkeiten im diagnostischen Prozess ergeben sich manchmal dadurch, dass eine Reihe von Kernsymptomen, welche die ADHS im Erwachsenenalter charakterisieren, sowie Begleitsymptome bei verschiedenen anderen psychischen Störungen ebenfalls auftreten können. Nachfolgend einige Beispiele: l Unaufmerksamkeit: Im klinischen Sprachgebrauch
meist als Konzentrationsstörung bezeichnet, kann bei fast allen psychischen Störungen als Begleitsymptomatik auftreten (z. B. schizophrene Störungen), ist bei anderen Störungen jedoch ebenfalls ein diagnostisches Kriterium (z. B. depressive Episode).
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Diagnostischer Prozess
Hauptsymptome (früher oder gegenwärtig): Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und/oder
Impulsivität
Hilfsmittel
Krankengeschichte Screeninginstrumente
Verdachtsdiagnose: ADHS?
Untersuchung: Diagnosekriterien (DSM-5/ICD-10/-11 Ausschlusskriterien und Differenzialdiagnosen
ADHS-Kriterien: erfüllt?
Anamnese Strukturierte Interviews,
Checklisten
Schweregrad der
Nein
Ja
Symptomatik
Ratingskalen zu ADHS
Andere Diagnose(n)
ADHS-Diagnose kann gestellt werden
Gibt es weitere Symptome, die nicht durch ADHS erklärt werden können?
Ja Nein
Abklärung der Komorbiditäten
Diagnostischer Prozess
abgeschlossen
Strukturierte Interviews
Abbildung: Diagnostischer Prozess bei ADHS (mod. nach [25], mit freundlicher Erlaubnis der Hogrefe AG)
l Hyperaktivität: Dieses Merkmal ist ebenso nosologisch unspezifisch und kann auch bei anderen Störungen auftreten (z. B. manische Episode).
l Impulsivität: Das Phänomen kann ein Persönlichkeitsmerkmal sein oder bei anderen Störungen als diagnostisches Kriterium gewertet werden (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung).
l Emotionale Instabilität: Dieses Merkmal wird oft als Stimmungsschwankungen bezeichnet und kann ebenfalls bei anderen Störungen auftreten (z. B. affektiven oder Persönlichkeitsstörungen).
l Emotionale Dysregulation: Dieses Phänomen kann bei Persönlichkeitsstörungen auftreten, speziell bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Im DSM-5 werden 7 Differenzialdiagnosen explizit genannt, in der ICD-10 sind es 3, in der ICD-11 sogar 11 (u. a. Autismus, Lernstörungen, Persönlichkeitsstörungen, affektive und Angststörungen). Im DSM-5, besonders aber in der ICD-11 werden diese nicht nur aufgeführt, sondern die Unterschiede explizit erläutert. Da sich ADHS-Symptome auch in der Normalbevölkerung manifestieren können, jedoch in geringerer Ausprägung (13), ist eine Abgrenzung dazu sehr wichtig. Hier gibt die ICD-11 wie bei allen anderen psychischen Störungen eine Hilfestellung mit der expliziten Rubrik «Abgrenzung zur Normalität». Darin wird beschrieben, wie sich die Symptomatik im Normalbereich manifestieren kann bzw. nicht automatisch als klinisch relevant anzusehen ist. Im Vergleich zu vielen anderen psychischen Störungen zeigen sich höhere Komorbiditätsraten. Schätzungen gehen bis zu 80% (14). Als komorbide Störungen sind vor allem solche aus dem Bereich der affektiven Störungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und Störungen durch psychotrope Substanzen von Bedeutung (15). Das gilt es bei der diagnostischen Abklärung unbedingt zu berücksichtigen (siehe unten).
Diagnostischer Prozess und diagnostische Instrumente Die Diagnosestellung basiert im Vergleich zu den meisten anderen psychischen Störungen nicht auf den Symptomen der klassischen Psychopathologie, sondern auf eher erlebens- und verhaltensnahen Merkmalen (siehe oben). Stärker noch als bei den meisten anderen psychischen Störungen sind alle zur Verfügung stehenden Informationen einzubeziehen. Beginnend bei vorliegenden Schul- oder Arbeitszeugnissen über die Befragung von Dritten (z. B. Eltern, Partner, Freunde) bis zum Patienten, der im Erwachsenenalter die jedoch wichtigste Informationsquelle darstellt. Jede Informationsquelle kann wichtige Beiträge zur Diagnosestellung liefern (z. B. Schul- und Arbeitsszeugnisse über das Arbeitsverhalten, Berichte von Partnern über Interaktionsverhalten oder Probleme in der Paarbeziehung). In der Abbildung ist der diagnostische Prozess dargestellt, der in verschiedene Phasen aufgeteilt werden kann. Dieser ist mit jeweils unterschiedlichen Assessmentzielen verbunden (siehe auch 16, 17). Bei Verdacht auf eine ADHS bieten sich Screeningverfahren an. Meist kommen Patienten zwar selbst mit dem expliziten Wunsch nach Abklärung, oft ergeben sich aber Verdachtsmomente erst, wenn der Patient schon in Behandlung ist oder diese stagniert. Bei Verdacht auf das Vorliegen der Störung gilt es, diesen in einem nächsten Schritt mittels psychometrischer Verfahren bzw. diagnostischer Interviews weiter zu prüfen. Bestätigt sich der Verdacht, sollte eine differenzierte Erfassung des Schweregrads erfolgen. Diese kann als Ausgangspunkt für die spätere Evaluation des Therapieerfolgs verwendet werden. So können sich z. B. Hinweise auf das Ansprechen oder die Stagnation in der Therapie ergeben bzw. lässt sich das Ausmass der erreichten Veränderungen quantifizieren. Hinweisen auf Komorbiditäten muss unbedingt nachgegangen werden. Diese können sich bereits im diagnostischen Prozess ergeben, werden manchmal aber erst im Verlauf der Behandlung deutlich. Als Hilfsmittel für die Diagnosestellung stehen eine Reihe testpsychologischer Verfahren in Form von Selbst-
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Tabelle 2:
Deutschsprachige Testverfahren zur ADHS-Diagnostik
Verfahren (Abk.)
Autoren
Aufbau
Homburger ADHS-Skalen Rösler, Retz-Junginger,
● Wender-Utah-Rating-Skala
für Erwachsene
Retz & Stieglitz (9)
(WURS-K; 25 Items )
(HASE) ● Wender-Reimherr-Interview
(WRI; 33 Items)
● Wender-Reimherr-Selbstbeurteilung
(WR-SB; 59 Items)
● ADHS-Selbstbeurteilungsbogen
(ADHS-SB; 22 Items)
● Diagnostische Checkliste zur ADHS
(ADHS-CL; 22 Items)
● Checkliste komorbider Störungen
(22 Items)
ADHS-Screening für
Schmidt & Petermann (18) ● Kernscreening (ADHS-E; 25 Items)
Erwachsene (ADHS-E)
● Fragebogen Langform
(ADHS-LE; 65 Items)
● Substanzmittelscreening (15 Items)
Kölner ADHS-Test
Lauth & Minsel (19)
● Allgemeiner Erfassungsbogen (6 Items)
für Erwachsene
● Verhaltensmerkmale der ADHS
(KATE)
nach DSM-IV-TR (18 Items)
● Selbstbeurteilung von Hinweisen
auf ADHS (6 Items)
● Fragebogen zu den «Exekutiven
Funktionen» nach Barkley et al. (39 Items)
● Fragebogen zum Funktionsniveau
(10 Items)
Conners Skalen zu
Christiansen, Hirsch,
● CAARS Langversion: Selbstbeurteilung
Aufmerksamkeit und
Abdel-Hamid & Kiss (20)
(CAARS-L SB; 66 Items)
Verhalten für Erwachsene
● CAARS Langversion: Fremdbeurteilung
(CAARS)
(CAARS-L FB; 66 Items)
● CAARS Kurzversion: Selbstbeurteilung
(CAARS-K SB; 26 Items)
● CAARS Kurzversion: Fremdbeurteilung
(CAARS-K FB; 26 Items)
● CAARS Screeningversion: Selbstbeurteilung
(CAARS-S SB; 30 Items)
● CAARS Screeningversion: Fremdbeurteilung
(CAARS-S FB; 30 Items)
Abkürzungen: S: Selbstbeurteilungsverfahren, F: Fremdbeurteilungsverfahren, I: Interview, CL: Checkliste
Kommentar ● S + F + I + CL ● dimensionale (Schweregrad;
Referenzwerte, Cut-off-Werte bzw. Normen) und kategoriale Auswertungen ● ICD-10 und DSM-5 bzw. Diagnose nach P. Wender
●S ● Screening ● dimensionale Auswertung
(Schweregrad Normen) ● S+F ● Screening ● Funktionsniveau,
exekutive Funktionen ● dimensionale Auswertung
(Schweregrad: Cut-off-Werte bzw. Normen) ● DSM-IV-TR
● S+F ● dimensionale Auswertung
(Schweregrad; Normen)
und Fremdbeurteilungsverfahren (Tabelle 2) sowie diagnostische Interviews (Tabelle 3) zur Verfügung. Alle Verfahren gibt es auf Deutsch. Bei der Verwendung von Fremdbeurteilungsverfahren und Interviews ist unbedingt ein vorheriges Training notwendig. Es ist jedoch zu bedenken, dass die Diagnose ADHS letztlich immer eine klinische Diagnose ist, das heisst alle zur Verfügung stehenden Informationen integriert. Die Auswahl von Untersuchungsverfahren ist von den Assessmentzielen abhängig. Nachfolgend einige Empfehlungen: l Screening: HASE, ADHS-E l Alleiniges Ziel ist Diagnosestellung: DIVA-5, IDA l Erfassung von Diagnose und Komorbiditäten: DIPS
Open Access
l Diagnose und differenzierte Erfassung der ADHSSymptomatik: HASE
Verfahren, die auch dimensionale Beschreibungen erlauben bzw. den Schweregrad der Symptomatik abbilden, sind vor allem im Rahmen einer therapiebegleitenden Diagnostik von Bedeutung (siehe oben; vgl. Tabelle 2). Neuropsychologische Verfahren erlauben allein keine Diagnosestellung, können jedoch zur Quantifizierung von spezifischen Defiziten im Querschnitt und Verlauf beitragen (24). So wurden für ein weites Spektrum allgemeiner sowie spezifischer neuropsychologischer Funktionsbereiche Unterschiede zwischen Gesunden und ADHS-Patienten ermittelt (nicht nur allein Exekutivfunktionen). Diese Beeinträchtigungen scheinen aber unspezifisch zu sein, da auch andere psychi-
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Tabelle 3:
Diagnostische Interviews zu ADHS
Verfahren (Abk.)
Autoren
Diagnostisches Interview
Kooij, Francken,
für ADHS bei Erwachsenen Bron & Wynchank (21)
(DIVA-5)
3. Aufl.
Integrierte Diagnose
Retz, Retz-Junginger
für ADHS im
& Rösler (22)
Erwachsenenalter
(IDA)
Diagnostisches Interview
Margraf, Cwik,
bei psychischen Störungen Suppiger & Schneider (23)
(DIPS Open Access)
5. überarbeitete Aufl.
Aufbau ● strukturiertes Interview ● DSM-5 ● Erfassung der ADHS-Symptomatik in
Kindheit und im Erwachsenenalter ● Screeningtest ASRS V1.1 (6 Items) ● Interview nach DSM-IV (mit
Diagnosealgorithmus; 18 Fragen nach DSM-IV) ● strukturiertes Interview ● DSM-5 ● Modul für ADHS
Kommentar ● elaboriertestes Interview für
ADHS
Interview, kategoriale Auswertung; Adaptation an DSM-5 frei verfügbar: https://www.ida-r-digital.de ● Open Access ● Erfassung von komorbiden
Störungen zusammen mit ADHS
sche Störungen diese aufweisen (z. B. Schizophrenie, Depression). Die Diagnosestellung kann durch eine Reihe von Problemen erschwert werden (9, 12, 14, 17, 26). Nachfolgend seien einige kurz skizziert: l Komorbiditäten: Stehen andere psychische Störun-
gen (z. B. depressive Störungen) oder Störungen durch psychotrope Substanzen im Vordergrund, ist eine Abklärung oft schwierig, da sich teilweise Überschneidungen auf Symptomebene zeigen. l Auftreten erst im Erwachsenenalter: Bei einigen Patienten wird die Symptomatik erst im Erwachsenenalter deutlich, da sie bis dahin über Kompensationsmechanismen verfügt haben. l Mangelnde Motivation: Manchmal erscheinen Patienten nicht aus eigenem Antrieb, sondern werden von Dritten dazu bewegt (z. B. Patient wird durch Partner geschickt = fremdmotiviert, besonders bei jungen Erwachsenen). Hier besteht die Gefahr für eine mangelnde Mitarbeitsbereitschaft bzw. unzureichende Auskunftsbereitschaft oder sogar für eine Bagatellisierung von Problemen. l Keine Fremdbeurteilung durch Dritte vorhanden: Bei einer Reihe von Patienten, besonders älteren, sind Dritte als Informationsquelle nicht verfügbar, oder der Patient ist nicht damit einverstanden, dass Informationen bei diesen eingeholt werden.
Merkpunkte:
● ADHS im Erwachsenenalter ist zwischenzeitlich eine etablierte und gut validierte Störung.
● ADHS ist auch im Erwachsenenalter eine häufige psychische Störung. ● Die Diagnose ist eine klinische Diagnose unter Berücksichtigung aller zur Ver-
fügung stehenden Informationen. Sie lässt sich weder durch testpsychologische Ergebnisse noch durch apparative Befunde allein stellen. ● Psychometrische Verfahren können einen wichtigen Beitrag zur Diagnosefindung liefern. ● Sie können zudem zur Evaluation der Therapie eingesetzt werden. ● Eine zuverlässige und möglichst frühzeitige Diagnose ist wichtig, um eine Behandlung anbieten zu können.
l Mangelnde Introspektionsfähigkeit: Ein Reihe von Patienten hat Schwierigkeiten, ihre Probleme differenziert zu beschreiben. Da bei Erwachsenen der Patient selbst die wichtigste Informationsquelle ist, stellt diese Situation besondere Anforderungen an den Untersucher.
l Minderbegabung: Hier ergeben sich Probleme, da der Patient kaum in der Lage ist, die Schwierigkeiten hinreichend präzis zu beschreiben, auch der Einsatz psychometrischer Verfahren ist begrenzt bis unmöglich. Hier ergeben sich Grenzen vor allem für den Einsatz von Selbstbeurteilungsverfahren, den Informationen von Dritten kommt eine besondere Bedeutung zu.
l Probleme bei der Erinnerung an die Kindheit: Manche Patienten haben spontan nur vage oder keine Erinnerungen an die Vergangenheit. Der Einsatz von Selbstbeurteilungsverfahren zur retrospektiven Einschätzung hat sich als hilfreich erwiesen.
l Fehlende Unterlagen aus der Vergangenheit: Oft sind keine Zeugnisse vorhanden bzw. diese enthalten nur unzureichende Angaben (z. B. nur Noten, keine verbalen Umschreibungen).
l Spezielle Untersuchungssituationen: Es gibt eine Reihe von Situationen, die eine Abklärung besonders erschweren. Hierzu zählen beispielsweise Begutachtungen oder der explizite Wunsch nach Medikation. In diesen Fällen gilt es, besonders aufmerksam gegenüber Aggravation oder Simulation bzw. Bagatellisierung oder Dissimulation zu sein. l
Korrespondenzadresse: em. Prof. Dr. rer. nat. Rolf-Dieter Stieglitz
Obere Dorfstrasse 10a 4126 Bettingen
E-Mail: rdstieglitz@bluewin.ch
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