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ADHS im Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter: Transitionspsychiatrische Aspekte
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Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist ein lebenslanger Zustand (lifetime condition), der je nach Entwicklungsstufe andere Themen und Fragestellungen nach sich zieht. Dabei ist der Übergang vom Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter eine besonders vulnerable Periode. In dieser Transitionsphase erfolgen einerseits biologische, soziale und psychologische Reifungsschritte. Andererseits findet ein Wechsel vom Versorgungssystem der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Versorgungssystem der Erwachsenenpsychiatrie statt. Während des Übergangs der Behandlungssysteme gehen oft Informationen oder sogar bestehende Diagnosen verloren. Nicht selten verpassen die Patienten selbst vor dem Hintergrund der adoleszenten Entwicklungsturbulenzen den Übergang in eine gesicherte und kontinuierliche Behandlung. Diese individuellen Entwicklungen und die bedeutsame Transitionslücke in der Versorgung sind Gegenstand dieser Arbeit.
Stephan Kupferschmid Thomas J. Müller Alexandra Serafin
von Stephan Kupferschmid, Thomas J. Müller, Alexandra Serafin
A DHS beginnt früh im Leben und wird in den aktuellen Diagnosesystemen als Störung der neuronalen Entwicklung angesehen. In einer aktuellen Übersichtsarbeit von Solmi (1) ist der Gipfel des Erkrankungsbeginns mit 5,5 Jahren bei der Gruppe der neuronalen Entwicklungsstörungen (neurodevelopmental disorders) am frühesten und damit deutlich früher als beispielsweise der Erkrankungsbeginn von Angststörungen oder affektiven Erkrankungen. Doch kann ADHS längst nicht mehr als eine auf die Kindheit bezogene Thematik aufgefasst werden. Vielmehr besteht eine hohe Persistenz der Prävalenz und der Symptomatik der ADHS sowie der daraus folgenden Beeinträchtigungen. Faraone, Banaschewski (2) geben die Prävalenzen für das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit mit 5,9% und im Erwachsenenalter mit 2,5% an.
Verlauf der klinischen Symptomatik ADHS hat im Kindes- und Jugendalter eine Prävalenz von 5,9%, im Erwachsenenalter sinkt sie auf 2,5% (2). Dabei gibt es jedoch sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe und typischerweise einen Wandel in der Symptomatik (Abbildung). So kann es zu einer Remission im engeren Sinn kommen, bei der ein junger Erwachsener die Diagnosekriterien, die in der Kindheit bestanden haben, nicht mehr erfüllt. Eine zweite Verlaufsform betrifft die Persistenz der Symptomatik im Erwachsenenalter. Eine dritte Möglichkeit ist das unbemerkte Vorhandensein von Symptomen im Kindesalter, die entweder nicht bemerkt wurden oder im Erwachsenenalter deutlicher zutage treten. Auch die Kernsymptomatik der ADHS mit motorischer Hyperaktivität, Impulsivität sowie
Aufmerksamkeitsbeeinträchtigungen unterliegt unterschiedlichen Entwicklungsverläufen. Dabei steht im Kindesalter bei einer typischen Diagnose häufig die motorische Unruhe im Vordergrund. Gerade bei Patienten mit guter Introspektionsfähigkeit und guten kognitiven Ressourcen verändert sich dieses Bild jedoch zunehmend und tritt im Erwachsenenalter mehr als innere Unruhe oder als ein Gefühl des «Getriebenseins» auf. Typischerweise berichten die Betroffenen, dass es ihnen schwerfällt, in Sitzungen oder Besprechungen still zu sitzen oder zu warten, bis sie an die Reihe kommen. Die Aufmerksamkeitsspanne nimmt insgesamt natürlicherweise zu, doch ist im Erwachsenenalter im Vergleich zu Gleichaltrigen eine reduzierte Fähigkeit, aufmerksam zu sein, zu beobachten. Die Impulsivität verbessert sich meistens, die Kontrollmechanismen des Menschen werden mit der fortschreitenden Reifung stärker ausgebildet. Es kann jedoch sein, dass zusätzlich eine Stimmungslabilität und eine emotionale Unausgeglichenheit im Entwicklungsverlauf vorkommen. Die Entwicklungsverläufe sind dabei insgesamt sehr heterogen, wobei gesagt werden kann, dass externalisierende Verhaltensweisen wie motorische Hyperaktivität zurückgehen und eher Themen der Selbstwahrnehmung und der emotionalen Labilität zunehmen und dann das klinische Bild beherrschen können. Für diese Verläufe sind Longitudinaluntersuchungen von besonderem Wert. So ergab sich bei einer Nachuntersuchung nach 11 Jahren bei 78% der nun erwachsenen Kinder mit ADHS weiterhin eine vollständige (35%) oder eine partielle Persistenz. Prädiktoren für die Persistenz waren schwere Beeinträchtigung durch die ADHS, psychiatrische Komorbidität und das Vorhandensein einer mütterlichen Psychopathologie zu Beginn der Studie (3).
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Die Ausprägung der ADHS-Symptome verändert sich mit der Zeit
Kinder – Hyperaktivität – erhöhte Ablenkbarkeit – Flüchtigkeitsfehler – unterbricht häufig andere – platzt oft mit Antworten heraus – Ungeduld – kann kaum sitzen bleiben – oppositionelles Verhalten – scheitert schulisch
Jugendliche – innere Unruhe – Desorganisation – erhöhtes Risikoverhalten – niedriges Selbstwertgefühl – Probleme mit Autoritätspersonen
und in Beziehungen – Prokrastination – Substanzkonsum
Erwachsene – Unaufmerksamkeit – Desorganisation – mangelnde Vorausplanung – Vergesslichkeit – Schwierigkeiten, Dinge zu beenden – mangelndes Zeitmanagement – impulsive Entscheidungen – emotionale Dysregulation
Abbildung: Veränderungen im klinischen Erscheinungsbild von ADHS über die Lebensspanne
Entwicklungsaufgaben Die konzeptuelle Betrachtung der Entwicklungsaufgaben und Vorgänge ist gerade in Bezug auf psychische Störungsbilder in der Transitionsphase von besonderer Bedeutung. Robert J. Havighurst etablierte ein Konzept, das in systemischer Sichtweise biologische, soziale und individuumbezogene Faktoren zusammenführt. In der Übergangsphase vom Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter sind diese Aufgaben unter anderem das Erlangen von Unabhängigkeit, die berufliche Integration, die Ablösung vom Elternhaus, das Eingehen reifer Partnerschaften und die zunehmende Eigenständigkeit. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben eignet sich gerade bei Menschen mit ADHS sehr gut für das Verständnis der Veränderungen in der Transitionsphase. Durch die Kernsymptome der ADHS, aber auch durch mögliche Komorbiditäten kann es zu einem Scheitern an diesen Entwicklungsaufgaben kommen und somit in der Folge zu einer deutlichen Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe.
Aspekte der Gehirnentwicklung Es ist gut belegt, dass das Gehirn im Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter eine starke Veränderung – eine eigentliche «Neuverdrahtung» – durchläuft, die bis zum Alter von etwa 25 Jahren dauert (4). Dieses Verständnis der Gehirnreifung erklärt Verhaltensweisen, die im späten Jugendalter und frühen Erwachsenenalter auftreten. 2 dabei besonders relevante Hirnstrukturen sind das limbische System und der präfrontale Kortex. Das limbische System besteht aus der Amygdala, dem Hippocampus und dem Hypothalamus. Diese Gehirnregionen sind am Ausdruck von Emotionen und Motivationen beteiligt. Zu diesen Emotionen gehören unter anderem Angst, Wut und die Kampf- oder die Fluchtreaktion. Der präfrontale Kortex, der als Teil des Frontallappens hinter der Stirn liegt, ist verantwortlich für kognitive Analysen, abstraktes Denken und die Anpassung von Verhaltensweisen an die soziale Situation. Der präfrontale Kortex sammelt nicht nur Informationen aus allen Sinnesorganen, es sind auch sämtliche Regionen der Grosshirnrinde im Frontallappen repräsentiert. All diese Bereiche sind untereinander in ihren Einflüssen und Abhängigkeiten hochgradig vernetzt und koordinieren Gedanken und Handlungen. Das ermöglicht es, bestimmte Ziele zu erreichen. Er ist somit der Sitz der
Handlungsplanung und weiterer Exekutivfunktionen. Zudem werden an dieser Stelle emotionale und motivationale Aspekte einer Entscheidung verhandelt. Der präfrontale Kortex reift als eine der letzten Regionen des Gehirns. Das erklärt, warum einige Heranwachsende Verhaltensunreife zeigen. Die Feststellung, dass die Entwicklung des Gehirns nicht vor dem Alter von 25 Jahren abgeschlossen ist, bezieht sich speziell auf die Entwicklung des präfrontalen Kortex und damit auf einen für die ADHS hoch relevanten Bereich. Im Gespräch mit Patienten kann das gut mit dem Bild eines starken Motors (z. B. Sportwagen) mit unzureichenden Bremsen (z. B. Kleinwagen) verdeutlicht werden. Die Bremsen werden leider erst später «geliefert». Neben der Reifungsverzögerung im präfrontalen Kortex gibt es bei Menschen mit ADHS eine Auffälligkeit der Amygdala. Das führt zu Schwierigkeiten bei der Erkennung emotionaler Reize und zur verminderten emotionalen Reaktion auf angenehme Reize, was sich gut mit den klinischen Befunden deckt, wonach in der Transitionsphase eine zunehmende emotionale Instabilität bei Menschen mit ADHS beschrieben wird.
Komorbiditäten ADHS stellt einen deutlichen Risikofaktor sowohl für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen als auch für die Entwicklung von somatischen Komorbiditäten dar (5). So sind Depressionen, bipolare Störungen, Angst-, Essund Zwangsstörungen sowie insbesondere Substanzkonsum bei Menschen mit ADHS deutlich häufiger anzutreffen als in der Gesamtbevölkerung. Auch somatische Erkrankungen wie Allergien, Adipositas, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten deutlich öfter auf. In der Transitionsphase kommt es häufig vor, dass die Behandlung primär aufgrund der bestehenden Komorbiditäten und nicht wegen der ursprünglichen ADHS in Anspruch genommen wird. In der longitudinalen Dunedin-Studie (6) zeigte sich, dass bei früh beginnenden psychischen Störungen, wie der ADHS, die Rate der Komorbiditäten um ein Vielfaches höher ist. Aus entwicklungspsychiatrischer Perspektive kann man eine ADHS somit auch als Trait-Merkmal, also als stabile Eigenschaft, betrachten. Die Herausbildung einer Komorbidität ist immer ein komplexes Zusammenspiel von biopsychosozialen Faktoren, was im Folgenden am Beispiel von Traumafolgestörungen erläutert werden soll.
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Tabelle:
Zugelassene Medikation zur Behandlung der ADHS bei Kindern und Erwachsenen in der Schweiz
Substanz und Handelsnamen Methylphenidat kurz wirksam: Medikinet®, Ritalin® Methylphenidat retardiert: Concerta®, Medikinet MR®, Methylphenidat Mepha Depotabs®, Methylphenidat Sandoz Ret®
Zulassung für Kinder Ja (6–18 Jahre)
Zulassung für Erwachsene Nein
Ja (6–18 Jahre)
Ja (18–65 Jahre)
Equasym XR®, Ritalin LA®,
Ja (6–18 Jahre)
Methylphenidat Mepha LA Depocaps®
Dexmethylphenidat retardiert:
Ja (6–18 Jahre)
Focalin XR®
Atomoxetin:
Ja (6–18 Jahre)
Strattera®, Atomoxetin Mepha®,
Atomoxetin Xiromed®
Amphetamine, Dexamfetamin:
Attentin®
Ja (6–18 Jahre)
Lisdexamfetamin:
Elvanse®
Ja (6–18 Jahre)
Guanfacin:
Ja (6–18 Jahre)
Intuniv®
Nein
Ja (18–60 Jahre)
Ja (6–50 Jahre) Wenn eine Behandlung mit Stimulanzien aufgrund von begleitenden Erkrankungen nicht in Frage kommt oder nicht ausreichend anspricht.
Nein
Ja (6–55 Jahre) Erst nach vorheriger Gabe von Methylphenidat ohne ausreichende Wirkung oder nicht tolerable unerwünschte Wirkungen Nein
Entwicklung einer Komorbidität am Beispiel von Traumafolgestörungen Bei Komorbiditäten zeigt sich, dass man von einem komplexen Zusammenspiel ausgehen muss. Das soll beispielhaft am relevanten Gebiet der Traumafolgestörungen aufgezeigt werden. ADHS verstehen wir dabei als eine in der Regel angeborene Störung mit nicht vollständig geklärter Genese und somit als Trait-Merkmal. Dahingegen setzen Traumafolgestörungen zwingend einen lebensgeschichtlichen Auslöser voraus, nämlich das traumatische Ereignis. In einer Studie von Schilpzand und Sciberras (7) wurde das Vorkommen von Traumatisierungen bei Kindern mit und ohne ADHS untersucht. In dieser methodisch gut angelegten Studie wurden an die 400 Kinder exploriert. Bei Kindern, bei denen eine ADHS diagnostiziert wurde, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein traumatisches Ereignis erlebt haben, um den Faktor 1,76 erhöht. Ausserdem kann eine vorbestehende ADHS bei der Ausprägung einer Traumafolgestörung ein wichtiger Faktor sein. Im transaktionalen Traumabewältigungsmodell (8) spielen Merkmale des Individuums eine wichtige Rolle. So können prätraumatische psychische Auffälligkeiten wie beispielsweise das Bestehen einer ADHS die Resilienz vermindern und so zu einer Ausprägung einer Traumafolgestörung beitragen. Es zeigte sich in der Studie von Schilpzand und Sciberras (7), dass Kinder mit einer ADHS-Diagnose und gleichzeitiger Traumaexposition eine deutlich stärkere Ausprägung der externalisieren-
den Störung aufwiesen. Bei dieser Risikoerhöhung könnte das risikosuchende Verhalten (sensation seeking) vieler Patienten mit ADHS eine Rolle spielen. Damit stellt einerseits eine vorbestehende ADHS einen Risikofaktor für häufigere Traumatisierung dar, und andererseits kann ADHS in der Traumabewältigung ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Traumafolgestörung sein.
Psychosoziale Auswirkungen Obwohl ADHS auch mit positiven Eigenschafen wie Kreativität, Offenheit für Neues oder Pioniergeist einhergehen kann, sind ihre negativen Auswirkungen hinreichend belegt. Während im Kindesalter Schulschwierigkeiten und Ausgrenzung auftreten, leiden junge Erwachsene mit ADHS unter schlechteren oder keinen (akademischen) Abschlüssen und somit unter schlechteren beruflichen Perspektiven, frühen ungeplanten Schwangerschaften und familiären Konflikten. Zudem erleben sich Erwachsene mit ADHS als minderwertig und fühlen sich stigmatisiert (9).
Diagnostik In den aktuellen Diagnosemanualen ICD-11 und DSM-5 wird der entwicklungsbezogene Aspekt der ADHS betont. Insbesondere im DSM-5 wird dem Wandel und der partiellen Abschwächung der Symptome durch eine reduzierte Anzahl der für die Diagnosestellung geforderten Symptome Rechnung getragen. So müssen ab dem 17. Lebensjahr nur noch 5 statt 6 von den 9 Krite-
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rien jeweils für Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/ Impulsivität erfüllt werden. Dadurch wird die im Verlauf der Pubertät oft einsetzende Verminderung der Hyperaktivität berücksichtigt. In der Transitionsphase sollte wegen der grossen Bedeutung, aber auch aufgrund des Wandels der Komorbiditäten eine erneute Exploration allfälliger zusätzlicher Diagnosen erfolgen.
Therapie Bei ADHS empfehlen die Leitlinien eine multimodale Behandlung. Mit Blick auf die Psychotherapie verändert sich von der Kindheit über die Jugend und das junge Erwachsenenalter die Bedeutung von umfeldbezogenen Interventionen. So sind bei Kindern Elterntrainings sehr wirksam, mit zunehmender Autonomieentwicklung stehen dann individualtherapeutische Massnahmen im Fokus. Bei der Medikation mit den evidenzbasierten Wirkstoffen ist zu beachten, dass in der Schweiz der Zulassungsstatus sich mit dem 18. Geburtstag ändern kann. Eine Übersicht ist in der Tabelle zusammengestellt.
Klinische Bedeutung für die Versorgungssysteme Eine Auswertung von Krankenkassendaten aus Deutschland zur Häufigkeit der ADHS-Diagnose und zur medikamentösen Behandlung erbrachte ein eindrückliches und auch alarmierendes Bild (10). Die untersuchte Gruppe umfasste 5593 15-jährige Jugendliche, davon 77,6% männlich, mit einer ADHS-Diagnose. Im Alter von 21 Jahren wiesen nur noch 31,2% eine ADHS-Diagnose auf. Im gleichen Beobachtungszeitraum fiel die Medikationsquote von 51,8 auf 6,6%. Es zeigte sich also bei der Transition ins Erwachsenenalter ein deutlicher Rückgang der Behandlung, der nicht allein durch den Verlauf der Symptomatik erklärt werden kann. Es gibt zahlreiche Befunde, die verdeutlichen, wie wichtig eine kontinuierliche Behandlung ist. So konnte gezeigt werden, dass Patienten nur selten die Behandlung wieder aufnehmen, wenn die Pharmakotherapie unterbrochen oder abgesetzt wurde (11). Eine Studie zu den direkten Gesundheitskosten bei Patienten mit ADHS (12) zeigte ein Absinken der Gesundheitskosten nach dem 18. Lebensjahr. Ab dem 30. Lebensjahr stiegen die Gesundheitskosten dieser Gruppe jedoch wieder deutlich an, und es wurden vermehrt Komorbiditäten verzeichnet. Diese Daten legen nahe, dass im Übergang zum Erwachsenenalter von einer Unterversorgung auszugehen ist und diese im späteren Leben zu gesundheitlichen Einschränkungen führt.
Wie kann Kontinuität gewährleistet werden? Spezifische Gründe für einen Unterbruch der medizinischen Versorgung und der integrierten psychiatrischpsychotherapeutischen Behandlung im Rahmen der Transition können auf mehreren Ebenen zu suchen sein. Auf der Ebene des Individuums kann die wegfallende Struktur durch das Elternhaus, die Schule oder andere soziale Unterstützungssysteme eine Rolle spielen. Junge Erwachsene verfügen möglicherweise über unzureichende Selbstmanagement-Skills, und es kommt somit zu einer verminderten Adhärenz.
Merkpunkte:
● Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird heutzutage als lebenslanger Zustand (lifetime condition) verstanden und ist nicht auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt.
● In der Transition vom Jugend- zum Erwachsenenalter verändern sich zentrale Symptome der ADHS, und Komorbiditäten haben eine grosse Bedeutung.
● Studien zeigen, dass im jungen Erwachsenenalter nur noch ein Bruchteil der Betroffenen eine adäquate Behandlung erhält.
● Eine gute Übergabe innerhalb des Gesundheitssystems und eine erneute Evaluation der Diagnose und möglicher Komorbiditäten sind Voraussetzung, um diese Transitionslücke zu schliessen.
● Die Stärkung der Transitionspsychiatrie, also der Angebote für Patienten zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr, kann einen wichtigen Beitrag zur Förderung der psychischen Gesundheit und zur Prävention insgesamt leisten.
Aus Sicht der Autoren gibt es jedoch relevante Punkte
im Versorgungssystem. So ist die Diagnose ADHS noch
immer nicht überall akzeptiert, und gerade die Überla-
gerung durch Komorbiditäten erschwert die klinische
Einordnung.
Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt es unter-
schiedliche Anlaufstellen und Zuständigkeiten. Auch
sind nicht alle evidenzbasierten Medikamente für alle
Altersgruppen zugelassen, womit eventuell ein Wechsel
eines etablierten Präparats notwendig wird. Zudem
erfolgt die Übergabe von Patienten rund um ihren
18. Geburtstag häufig nicht standardisiert.
Diese zentralen Punkte könnten durch die weitere Eta-
blierung der Transitionspsychiatrie, also die Verbesse-
rung der psychiatrischen und psychotherapeutischen
Versorgung für 15- bis 25-Jährige (13), erreicht werden.
Dabei ist eine gezielte Begleitung im Sinn einer Koordi-
nation der Anbieter und einer Sicherung der Ver-
sorgungskontinuität auf dem Weg von einer auf Ju-
gendliche zentrierten zu einer auf Erwachsene orientier-
ten Versorgung von entscheidender Bedeutung. Wenn
eine Fortführung der Behandlung notwendig ist, sollten
ADHS-Patienten in der Transitionsphase erneut unter-
sucht werden, um einen gelingenden Übergang zu
ermöglichen. Dabei sollten insbesondere die Komorbi-
ditäten und die psychosozialen Auswirkungen eruiert
werden. Die weiterbehandelnden Fachpersonen sind
dabei umfassend über Vorgeschichte, Behandlungsver-
lauf und derzeitiges Krankheitsbild zu informieren.
Auch die Patienten und ihr Umfeld sollten in der Transi-
tionsphase über die Versorgung im Erwachsenenbe-
reich umfassend aufgeklärt werden. Diese Schritte sind
erforderlich, um Brüche in der Versorgung zu vermei-
den und um eine bessere Behandlungskontinuität zu
erreichen.
l
Korrespondenzadresse: Dr. med. Stephan Kupferschmid Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland
Wieshofstrasse 102 Postfach 144
8408 Winterthur E-Mail: Stephan.Kupferschmid@ipw.ch
Interessenkonflikt: Die Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte.
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Referenzen: 1. Solmi M et al.: Age at onset of mental disorders worldwide: large-
scale meta-analysis of 192 epidemiological studies. Mol Psychiatry. 2022;27(1):281-295. 2. Faraone SV et al.: The World Federation of ADHD International Consensus Statement: 208 Evidence-based conclusions about the disorder. Neurosci Biobehav Rev. 2021;128:789-818. 3. Biederman J et al.: Predictors of persistent ADHD: an 11-year followup study. J Psychiatr Res. 2011;45(2):150-155. 4. Arain M et al.: Maturation of the adolescent brain. Neuropsychiatr Dis Treat. 2013;9:449-461. 5. Hodgkins P et al.: Cost of illness and comorbidities in adults diagnosed with attention-deficit/hyperactivity disorder: a retrospective analysis. Prim Care Companion CNS Disord. 2011;13(2). 6. Caspi A et al.: Longitudinal assessment of mental health disorders and comorbidities across 4 decades among participants in the dunedin birth cohort study. JAMA Netw Open. 2020;3(4):e203221. 7. Schilpzand EJ et al.: Trauma exposure in children with and without ADHD: prevalence and functional impairment in a communitybased study of 6-8-year-old Australian children. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2018;27(6): 811-819. 8. Landolt MA et al.: Trauma exposure and posttraumatic stress disorder in adolescents: a national survey in Switzerland. J Trauma Stress. 2013;26(2):209-216. 9. Philipsen A et al.: Early maladaptive schemas in adult patients with attention deficit hyperactivity disorder. Atten Defic Hyperact Disord. 2017; 9(2):101-111. 10. Bachmann CJ et al.: ADHD in Germany: Trends in Diagnosis and Pharmacotherapy. Dtsch Arztebl Int. 2017; 114(9):141-148. 11. Farahbakhshian S et al.: Disruption of Pharmacotherapy During the Transition from Adolescence to Early Adulthood in Patients with Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A Claims Database Analysis Across the USA. CNS Drugs. 2021;35(5):575-589. 12. Libutzki B. et al.: Direct medical costs of ADHD and its comorbid conditions on basis of a claims data analysis. Eur Psychiatry. 2019;58:38-44. 13. Macmillan I et al.: A certificate in youth psychiatry: meeting the training needs of psychiatrists. Australas Psychiatry. 2021;29(1):97100.
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