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FORTBILDUNG
Smartphone statt Reflexhammer
Wie wir die Digitalisierung für eine bessere Charakterisierung der Multiplen Sklerose nutzen können
Die Multiple Sklerose ist eine entzündlich-demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems und kann eine Vielzahl neurologischer Symptome verursachen. Das macht eine umfassende klinische Evaluation anspruchsvoll. Der Einsatz von Smartphone-Sensoren ist ein vielversprechender neuer Ansatz, um sogenannte digitale Biomarker zur besseren Charakterisierung der Erkrankung zu entwickeln.
Foto: zVg
Johannes Lorscheider
von Johannes Lorscheider
D ie Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, wobei es durch die Entzündung und die damit zusammenhängenden degenerativen Prozesse zu einem Abbau der Myelinschicht und zu einer Schädigung der Nervenzellen selbst kommt (1). Die Krankheit manifestiert sich meistens im jüngeren Erwachsenenalter und betrifft zirka 2,8 Millionen Menschen weltweit (2). Betroffene leiden einerseits an schubförmigen Verschlechterungen mit teilweiser oder vollständiger Rückbildung, andererseits an langsam zunehmenden körperlichen Einschränkungen, der sogenannten Behinderungsprogression (1). Charakteristisch für die MS ist zudem, dass die Krankheit ein breites Spektrum neurologischer Symptome verursachen kann, die von Sehstörungen über Einschränkungen der Motorik, der Sensorik und der Koordination bis zu autonomen Störungen, Fatigue, kognitiver Beeinträchtigung und Depression reichen können. Obwohl eine Heilung nicht möglich ist, können die in den letzten 30 Jahren neu entwickelten Medikamente nicht nur Schübe verhindern, sondern in unterschiedlichem Ausmass die zunehmende Akkumulation körperlicher Einschränkungen aufhalten. Aufgrund der vielfältigen Therapieoptionen stellt sich zunehmend die Frage, welches Medikament für welchen Patienten in welcher Phase der Erkrankung das richtige ist (3). Hierbei kommt der Erfassung der klinischen Symptome eine entscheidende Rolle zu, die seit der Erstbeschreibung durch Charcot auf einer gründlichen Anamnese und neurologischen Untersuchung basiert. Unterstützend kommen validierte Skalen, wie die Expanded Disability Status Scale, spezifische Tests für die Gehfunktion, wie der Timed 25-Foot Walk, oder für die Feinmotorik, wie der Nine-Hole Peg Test, zum Einsatz (4, 5). Für eine umfassende Evaluation des MS-Patienten sind aber auch kognitive Tests und eine
Beurteilung der Fatigue und der psychischen Situation notwendig (6). Aus dieser Aufzählung ergibt sich, dass eine umfassende klinische Evaluation sehr zeitaufwendig ist und aufgrund begrenzter Ressourcen in der Praxis nur eingeschränkt regelmässig durchgeführt werden kann. Selbst im Idealfall erfolgt eine solche Testbatterie in spezialisierten Zentren in der Regel nur einmal jährlich. Um diese Lücke zu schliessen, werden seit einigen Jahren digitale Messmethoden intensiv erforscht, die potenziell zukünftig als sogenannte digitale Biomarker eingesetzt werden können. Digitale Biomarker werden definiert als objektive, quantifizierbare physiologische und verhaltensbezogene Daten, die von digitalen Geräten (Sensoren) gemessen und erfasst werden (7). Vorteile digitaler Messmethoden sind die höhere zeitliche Auflösung, objektive und weniger untersucherabhängige Messungen sowie die Möglichkeit, MS-Betroffene in ihrer natürlichen Umgebung ausserhalb der Klinik zu beurteilen (8). Bei der Entwicklung digitaler Biomarker stehen wir jedoch vor einigen Herausforderungen: Als Grundlage müssen Datenschutz und Privatsphäre der Nutzer gewährleistet sein. Zudem ist die klinische Validierung aufwendig, und die Aufbereitung und die Analyse von Sensordaten sind eine komplexe Aufgabe (8). Waren für die Erfassung von Sensordaten bis vor einigen Jahren noch spezielle Geräte, wie zum Beispiel tragbare Akzelerometer, also Beschleunigungsmesser, notwendig, tragen mit der zunehmenden Verbreitung von Smartphones mittlerweile die meisten Personen eine ganze Batterie qualitativ hochwertiger Sensoren bei sich (9). Gleichzeitig werden Smartphones in der Regel täglich genutzt und können somit ein realistischeres Bild der Aktivitäten ihrer Besitzer widerspiegeln als die Visiten in der Sprechstunde, die nur halbjährlich oder jährlich stattfinden. Daher entstand die Idee, Smartphone-Anwendungen (Apps) zur besseren Monitorisierung des MS-Verlaufs einzusetzen.
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Abbildung: Screenshot der dreaMS-App. Diese beinhaltet Tests für Bewegung, Feinmotorik, Sehschärfe und Kontrastsehen, kognitive Spiele sowie Fragebögen und kann mit externen Geräten, wie z. B. Fitnesstrackern, gekoppelt werden. (Bildquelle: ©Healios AG, 2022)
Derzeit sind bereits einige Smartphone-Apps in klinischer Erprobung. Als Beispiele seien «MSCopilot» (Ad Scientiam, Frankreich) (10, 11) und «Floodlight» (Roche, Schweiz) (12, 13) genannt, die jeweils Tests zur Gehfähigkeit, Feinmotorik und Kognition beinhalten. Entscheidend für den zukünftigen Erfolg solcher Apps ist neben der korrekten Messung von neurologischen Funktionen die Akzeptanz bei Betroffenen und die Benutzerfreundlichkeit. In einer Kooperation mit der auf «digitale Gesundheit» spezialisierten Firma Healios AG hat unsere Arbeitsgruppe am Research Center for Clinical Neuroimmunology and Neuroscience Basel (RC2NB) es sich daher zur Aufgabe gemacht, eine Smartphone-App zu entwickeln, die MS-Symptome möglichst ganzheitlich und präzis erfasst und dabei gleichzeitig auf die Bedürfnisse von MS-Betroffenen eingeht. Die App «dreaMS» beinhaltet eine Reihe von kurzen Tests, die die Nutzer – nach einer initialen Einführung – zu Hause oder im Freien durchführen können. Die Tests wurden so entworfen, dass sie die potenziell von der MS betroffenen Funktionen breit abdecken (Abbildung). Die einzelnen Tests dauern jeweils maximal 2 Minuten und orientieren sich teilweise an klassischen neurologischen Untersuchungsmethoden, wie dem Finger-Nase-Versuch, oder etablierten Testverfahren, wie dem Timed-Up-andGo-Test. Andererseits werden Tests eingesetzt, die bei-
Merkpunkte:
● Digitale Messmethoden haben ein grosses Potenzial, die klinische Beurteilung von Personen mit Multipler Sklerose zu optimieren und dadurch deren Gesundheit und Lebensqualität zu verbessern.
● Smartphone-Sensoren erreichen heutzutage eine hohe Qualität und sind weit herum verfügbar.
● Bevor digitale Messungen im klinischen Alltag als Biomarker für die Erkrankung eingesetzt werden können, muss deren Wertigkeit in klinischen Studien überprüft werden.
spielsweise eine kurze Gehstrecke in der Ebene oder das
Treppensteigen erfassen und somit näher am Alltag der
Betroffenen sind. Währenddessen werden die Daten aus
dem Akzelerometer und anderen Sensoren aufgezeich-
net, um daraus wiederum Informationen beispielsweise
über die Gehgeschwindigkeit, den Bewegungsablauf
und die Balance zu extrahieren. Um eine möglichst
hohe Akzeptanz und Adhärenz zu erreichen, sind die
Kognitionstests als kurze, spannende Spiele gestaltet,
die zum Beispiel die Verarbeitungsgeschwindigkeit oder
das Kurzzeitgedächtnis messen. Des Weiteren werden
Fatigue und Lebensqualität mit standardisierten Frage-
bögen direkt in der App erfasst. Wenn die Benutzer es
wünschen, kann die App mit gängigen Smartwatches
oder Fitnesstrackern gekoppelt werden, sodass Aktivi-
tätsdaten (Schritte pro Tag, Herzfrequenz usw.) «passiv»
erfasst werden. Die Nutzer haben die Möglichkeit,
Schübe zu melden und Symptome in einem Tagebuch
zu erfassen. Die so gewonnenen Daten werden dann
nach aktuell höchsten Standards verschlüsselt an eine
sichere Cloud-Umgebung gesendet, dort analysiert und
aufbereitet. Auf diese Weise werden potenzielle digitale
Biomarker generiert, deren Wertigkeit aber noch in pro-
spektiven Studien wissenschaftlich überprüft werden
muss.
Im letzten Jahr konnten wir eine erste Machbarkeitsstu-
die über 6 Wochen mit 31 MS-Betroffenen und 31 ge-
sunden Freiwilligen zur Überprüfung der technischen
Reliabilität und Akzeptanz erfolgreich abschliessen (14).
Seit März 2022 läuft die Rekrutierung am Universitäts-
spital Basel für eine erste, grosse Validierungsstudie im
Rahmen der schweizerischen MS-Kohorte. Die Studie
hat das Ziel, mehr als 400 MS-Betroffene und 50 ge-
sunde Kontrollen über jeweils 2 Jahre zu beobachten.
Neben der kontinuierlichen Aufzeichnung der potenzi-
ellen digitalen Biomarker erfolgen jährliche klinische Vi-
siten mit standardisierter klinisch-neurologischer
Untersuchung, neuropsychologischer Testung und MRI.
Auf diese Weise kann die Wertigkeit der digitalen Mes-
sungen im Vergleich zu etablierten Messmethoden un-
tersucht werden.
Idealerweise stehen am Ende dieses Prozesses validierte
digitale Biomarker, die einfach von den MS-Betroffenen
selbst mit dem Smartphone erfasst werden können. Ob
diese ihr Versprechen einlösen können, den klinischen
Verlauf der MS tatsächlich präzis und umfassend abzu-
bilden, muss noch bewiesen werden. Falls das jedoch
gelingt, haben Smartphone-basierte Messungen das
Potenzial, zusammen mit den etablierten Methoden
Behandlungsentscheidungen zu optimieren und da-
durch die Gesundheit und die Lebensqualität von Per-
sonen mit MS zu verbessern.
l
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Johannes Lorscheider Neurologische Klinik und Poliklinik Research Center for Clinical Neuroimmunology and
Neuroscience Basel (RC2NB) Universitätsspital Basel Petersgraben 4 4031 Basel
E-Mail: johannes.lorscheider@usb.ch
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Referenzen: 1. Compston A et al.: Multiple sclerosis. Lancet. 2008;372(9648):1502-
1517. 2. Walton C et al.: Rising prevalence of multiple sclerosis worldwide:
Insights from the Atlas of MS, third edition. Mult Scler. 2020;26(14):1816-1821. 3. Hauser SL et al.: Treatment of multiple sclerosis: a review. Am J Med. 2020;133(12):1380-1390.e2. 4. Kurtzke JF: Rating neurologic impairment in multiple sclerosis: an expanded disability status scale (EDSS). Neurology. 1983;33(11):144452. 5. Kappos L et al.: On the origin of Neurostatus. Mult Scler Relat Disord. 2015;4(3):182-185. 6. Langdon DW et al.: Recommendations for a brief international cognitive assessment for multiple sclerosis (BICAMS). Mult Scler. 2012;18(6):891-898. 7. Dorsey ER et al.: The First Frontier: Digital biomarkers for neurodegenerative disorders. Digit Biomark. 2017;1(1):6-13. 8. Dillenseger A et al.: Digital biomarkers in multiple sclerosis. Brain Sci. 2021;11(11). 9. Sim I: Mobile devices and health. N Engl J Med. 2019;381(10):956968. 10. Maillart E et al.: MSCopilot, a new multiple sclerosis self-assessment digital solution: results of a comparative study versus standard tests. Eur J Neurol. 2020;27(3):429-436. 11. Tanoh IC et al.: MSCopilot: New smartphone-based digital biomarkers correlate with expanded disability status scale scores in people with multiple sclerosis. Mult Scler Relat Disord. 2021;55:103164. 12. Midaglia L et al.: Adherence and satisfaction of smartphone- and smartwatch-based remote active testing and passive monitoring in people with multiple sclerosis: nonrandomized interventional feasibility study. J Med Internet Res. 2019;21(8):e14863. 13. Montalban X et al.: A smartphone sensor-based digital outcome assessment of multiple sclerosis. Mult Scler. 2022;28(4):654-664. 14. Woelfle T. et al.: Reliability and acceptance of dreaMS, a software application for people with multiple sclerosis: a feasibility study. J Neurol. 2022; Aug 30;1-10.
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