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FORTBILDUNG
Zukunft der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Foto: zVg
Elvira Tini
Die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen ist in den letzten Monaten beziehungsweise in den letzten Jahren stark in den Medien in den Vordergrund gerückt und in der Politik thematisiert worden. Die Autorin wurde als «junge» Oberärztin gefragt, wie sie die Zukunft der Kinder- und Jugendpsychiatrie sehe. Ihr Engagement ist nicht nur beruflich, sondern auch politisch. Sie entwickelt als Präsidentin der Arbeitsgruppe für Assistenz- und Oberärzte und Teil des Vorstands der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) zusammen mit ihren Kollegen Ideen für die Zukunft und deponiert diese in wichtigen Gremien. Das Sonderfach der Kinderund Jugendpsychiatrie hat den Auftrag, die Versorgung der Kinder und Jugendlichen auf ein besseres Niveau zu hieven. Sie hat in der medizinischen Landschaft in der Schweiz ihren Platz gefunden, und ihre Akteure haben sich international an verschiedenen Fachgesellschaften aktiv beteiligt. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist eine anerkannte Fachdisziplin. Ihre Vertreter kooperieren, sind vernetzt und umgeben von Strukturen. Es wird geforscht, gelehrt, und man ist politisch sehr aktiv. Doch ist vieles noch nicht zufriedenstellend. Im Rahmen dieses Artikels werden deshalb einige Punkte für die zukünftige Entwicklung dieses Fachgebiets diskutiert.
von Elvira Tini
D ie Kinder- und Jugendpsychiatrie ist einem grossen Wandel unterworfen. Die Diagnostik sowie die Therapiemöglichkeiten haben sich stark weiterentwickelt. Man versucht immer spezialisierter und differenzierter, die Störungen und Problematiken zu verstehen und zu behandeln. Das exaktere und frühere Erkennen von Störungsbildern hat auch zu neuen Klassifikationssystemen geführt. Das Spektrum von verschiedenen Störungen, wie zum Beispiel von autistischen Erkrankungen, und Persönlichkeitsstörungen, ist immer genauer geworden. Der zunehmende Druck, die Finanzknappheit und die Frage nach der Machbarkeit führen jedoch dazu, dass man in der kraft- und zeitaufwendigen Beziehungsarbeit betroffenen Kindern und Jugendlichen immer schneller helfen soll, Entwicklungsaufgaben zu meistern. Seit Beginn der Coronapandemie ist zudem eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu beobachten (1). Während dieser Zeit haben internalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie emotionaler Stress, Unaufmerksamkeit, Traurigkeit und Schlafstörungen sowie externalisierende Störungen wie Erregbarkeit, Reizbarkeit, Hyperaktivität und Aggressivität zugenommen. Die Grafik im ObsanBericht 2020 (2) (Abbildung) zeigt, wie sich der Anteil jener 11- bis 15-Jährigen, die mindestens zwei dieser Beschwerden (multiple Beschwerden) wiederholt beziehungsweise chronisch (d. h. mindestens mehrmals wöchentlich) erlebt haben, entwickelt hat. Ebenfalls in der Abbildung ersichtlich ist die Entwicklung der einzel-
nen Beschwerden. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit multiplen psychoaffektiven Beschwerden hat zwischen 2002 und 2014 von 27,4 auf 35,2% zugenommen. 2018 betrug er 34,3% und war damit ähnlich hoch wie 2014. Besonders zugenommen haben Müdigkeit und Einschlafschwierigkeiten (+13,0 bzw. +5,5% zwischen 2002 und 2018). In der aktuellen Health-Behaviour-in-School-aged-Children-(HBSC-)Erhebung berichten rund 27,1% der Knaben und 41,8% der Mädchen von multiplen psychoaffektiven Beschwerden. Müdigkeit und Einschlafprobleme gehören bei beiden Geschlechtern zu den am häufigsten genannten Beschwerden (39,8% der Mädchen bzw. 24,6% der 11- bis 15-jährigen Knaben). Diese Befindlichkeitsstörungen können auch als Vorläufer oder Hinweise auf eine gestiegene Psychopathologie betrachtet werden.
Gesellschaftlicher Hintergrund Die Frage, die sich viele derzeit stellen, ist, ob die Kinder und Jugendlichen in den letzten Jahren kränker geworden sind. Die klassische Familie wird zunehmend durch andere Modelle ersetzt. Leistungserbringung und Überwachung der Kinder sind ein häufiges Thema. Ein hoher Prozentsatz der Kinder und Jugendlichen hat bereits Smartphones und Internetzugang. Die Digitalisierung, die Technologie kann Segen und Fluch zugleich sein. Die Kinder und Jugendlichen beschäftigen sich mit Themen wie Nachhaltigkeit, Umwelt und Klimawandel. Die Digitalisierung, die Technologie wurde bereits von Prof. Dr. Alain di Gallo in einem Artikelals Segen oder Fluch bezeichnet (3). Ein hoher Prozentsatz der Kinder und Jugendlichen hat bereits Smartphones und Internetzugang. Zudem sind die Kinder und Jugendlichen mit
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Anteil Kinder und Jugendliche in % 45%
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20%
15%
10% 5%
0% 2002
2006
2010
2014
2018
Anmerkung: Anteil der 11- bis 15-Jährigen, die in den vergangenen 6 Monaten mehrmals wöchentlich oder täglich Beschwerden zeigten. 2002: n = 9288, 2006: n = 9502, 2010: n = 9869, 2014: n = 9632, 2018: n = 10970
Quelle: Sucht Schweiz – «Health Behaviour in School-aged Children» (HBSC)
Müdigkeit multiple Beschwerden Einschlafschwierigkeiten schlechte Laune/Gereiztheit Verärgerung/Wut Traurigkeit Nervosität Angst/Besorgnis Vertrauensintervall (95%)
Abbildung: Wiederholte bzw. chronische psychoaffektive Beschwerden bei den 11- bis 15-Jährigen, 2002–2018 (mod. nach [2]).
Themen wie Krieg (u. a. in der Ukraine), Flüchtlingen und einem Bedrohungsgefühl durch die politischen Themen konfrontiert. Die aktuelle Zahl für die Häufigkeit von kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen ist in den letzten Jahrzehnten hoch stabil (4). Es gibt gewisse diagnostische Verschiebungen, unter anderem eine Zunahme von Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, Genderdysphorie und Internetsucht sowie Schlafstörungen im Zusammenhang mit der Nutzung von elektronischen Medien. Zudem experimentieren immer jüngere Kinder und Jugendliche mit Substanzen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde bereits von Prof. Fegert als Seismograf für die gesellschaftlichen Entwicklungen definiert (4). In diesem Sinn ist es wichtig, dass die Akteure in der Kinder- und Jugendpsychiatrie weiterhin politisch aktiv und vernetzt bleiben, um in vielen gesellschaftspolitischen Bereichen zu zeigen, wie aktiv diese ist. Ebenfalls wünschenswert wäre, wenn in Zukunft Vertreter aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie vermehrt in politischen Gremien tätig wären, um die Entscheidungsprozesse mitbestimmen zu können.
Versorgung Weiterhin gibt es in der Schweiz keine zuverlässigen epidemiologischen Daten über die Inanspruchnahme von psychiatrischen Hilfen. Doch bereits im Frühjahr 2020 gab es Berichte aus den frühen Pandemiephasen, und es zeigte sich ein Anstieg der Fallzahlen in der Notfallambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Zürich kam es im letzten Quartal 2020 zu einer Zunahme um 50%. Die Fallzahlen stiegen im ersten Quartal 2021 noch weiter an. Den gleichen Trend zeigt eine britische Umfrage von Januar/Februar 2021 bei Kindern und Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 13 bis 25 Jahren mit psychischen Vorerkrankungen, wonach 75 Prozent berichten, dass sie die aktuelle Situation während des erneuten Lockdowns schwieriger zu bewältigen fanden als beim ersten Mal. Das zeigt, dass die Inan-
spruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie derzeit aufgrund der Pandemie angestiegen ist. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie orientiert sich am Credo «ambulant vor stationär». Doch bedarf es grösserer Anstrengungen, um die vorhandenen Defizite im Versorgungskonzept zu decken. Es gilt, neue Konzepte anzudenken. In einigen Universitätskliniken sind bereits innovative Betreuungskonzepte wie zum Beispiel Hometreatment, Nachbehandlungen zu Hause nach einem stationären Aufenthalt sowie integrative Konzepte erfolgreich angewendet worden. Modellprojekte sind notwendig, um neue und innovative Versorgungsmodelle zu testen. Um das Konzept «ambulant vor stationär» weiterführen zu können, braucht es eine Flexibilisierung der Behandlungsmöglichkeiten. Die Digitalisierung beispielsweise ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vor allem aus der Not entstanden, infektrisikoarme Kontakte zu schaffen. Sie birgt aber auch ein grosses Potenzial für innovative Diagnostik und Behandlungskonzepte. Der gezielte und reflektierte Einsatz von Medien aller Art (Spielmaterial, Bilder, Objekte, Tagebücher usw.) gehört nicht erst seit der Coronakrise, sondern schon seit vielen Jahren zur Psychiatrie und Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und Familien. Der Einsatz von (elektronischen) Medien soll den Entwicklungsstand, die Psychopathologie, die Ressourcen, das Geschlecht und die Medienerfahrungen des einzelnen Patienten und seiner Familie berücksichtigen und orientiert sich jeweils an der Differenzialdiagnose, der Indikation und der Interventions- beziehungsweise Therapiephase. Doch ersetzen sie in keiner Weise den persönlichen, direkten und auf einer therapeutischen Beziehung gründenden Kontakt zwischen Therapeutin und Klient. Solche Medien stellen deshalb, wenn immer möglich, nicht die alleinige Methode einer multimodalen Behandlung dar. Derzeit sind wenige Apps auf dem Markt, wie beispielsweise die Robin-App, die in die Behandlung von psychotischen Erkrankungen bestens integriert ist. Doch ist es denkbar, dass in Zukunft mehr solche Instrumente
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geschaffen werden, um den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen zu können. Eine intensive Vernetzung der Angebote und ein verknüpftes, hochqualitatives Case-Management sind notwendig. Das steht jedoch in diametralem Gegensatz zur aktuellen Betrachtungsweise der Medizin als Geschäftsmodell. Kostendruck und ökonomische Massstäbe fordern Effizienz, Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit. Qualitätskriterien sind notwendig. Genau in unserem Fach braucht es aber wegen der Notwendigkeit für einen Beziehungsaufbau und der Möglichkeit, das Kind oder den Jugendlichen als Ganzes zu sehen, Zeit und Wissen. Die Früherkennung der Störungen kann zu einer besseren Prognose führen. Eine Früherkennung ist aber nur möglich, wenn der Zugang zur Behandlung verbessert wird und bereits in der Grundversorgung besteht. Das erfordert einen besseren Zusammenhalt zwischen Praxis und Institutionen sowie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Grundversorgung und Spezialangeboten für spezifische Störungen. Zudem braucht es Angebote für spezifische Störungen, wie beispielsweise für Suchterkrankungen oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche mit psychiatrischen Krankheiten. Der Spardruck im Gesundheitssystem und die verschiedenen Optimierungsversuche führen aber dazu, dass nicht mehr Machbares machbar gemacht wird und Kostenoptimierungen zulasten der Zeit gehen. Zeit ist jedoch notwendig, um den Kindern und ihrem Umfeld gerecht zu werden. Das kann zu Frustrationen führen. Um die Versorgung zu verbessern, ist es ebenfalls notwendig, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit weiter unterstützt wird. Die Kinder- und Jugendpsychiater koordinieren die Bereiche Psychologie, Pädagogik, Pflege sowie die milieutherapeutische Arbeit, was eine wichtige und anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Des Weiteren stehen sie in Kontakt mit Schulsozialarbeitern, Kinder- und Jugendheimen sowie zunehmend Heimen für traumatisierte und hoch belastete Kinder. Häufig ist die Kinderschutzbehörde involviert. Für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gibt es Risiko- und Schutzfaktoren. In der Schülerbefragung HBSC 2018 bei 11- bis 15-Jährigen wurden solche Faktoren für psychische Auffälligkeiten identifiziert. Die Analysen ergaben, dass Mobbing und Stress in der Schule – aber vor allem Mobbing online – in deutlichem Zusammenhang mit psychoaffektiven Beschwerden stehen. Kinder und Jugendliche, die online gemobbt wurden, hatten ein 4,4-fach höheres Risiko für psychoaffektive Beschwerden, bei Schülerinnen und Schülern, die in der Schule gemobbt wurden, war dieses 2,9-fach erhöht. Auch Schülerinnen und Schüler, die Stress durch die Arbeit für die Schule erleben, zeigen häufiger psychoaffektive Beschwerden (2,7-mal häufiger). Die wahrgenommene Unterstützung in der Familie, die Beziehungen zu Mitschülerinnen, Mitschülern und Lehrpersonen sowie die wahrgenommene Unterstützung im Freundeskreis hatten hingegen eine protektive Wirkung gegenüber psychoaffektiven Beschwerden. Interessant ist, dass die wahrgenommene Unterstützung im Freundeskreis als Schutzfaktor eine geringere Bedeutung hat als jene durch die Familie oder die Beziehung zu Mitschülerinnen und -schülern beziehungsweise Lehrpersonen (Tabelle).
In der Versorgung der Kinder- und Jugendpsychiatrie muss in Zukunft ebenfalls vermehrt der Übergang vom jugendlichen Alter ins junge Erwachsenenalter berücksichtigt werden, wie das bereits im Jahr 2012 in der SGKJPP in einem Positionspapier (9) erwähnt wurde. Denn verschiedene psychiatrische Störungen wie zum Beispiel Psychosen und Persönlichkeitsstörungen flammen im Erwachsenenalter wieder auf. Diese Übergänge sind als sehr sensibel einzustufen, weshalb Interdisziplinarität und Vernetzung nötig sind, um bessere Prognosen entwickeln zu können.
Von der Ausbildung bis zur Fortbildung Die Facharztweiterbildung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich in den letzten Jahren geändert. Dank des Weiterbildungskatalogs sind die Inhalte strukturiert und genau aufgelistet. Theoretische Fortbildungen, Psychotherapie unter Supervision, Theorieblöcke und von der Fachgesellschaft organisierte Kolloquien sind ebenfalls sehr wichtig. Die Identität der Kinder- und Jugendpsychiater zu fördern, deren Aufgaben zu definieren sowie die Kinder- und Jugendpsychiater dank der Leitlinien zu unterstützen, ist erwünscht, um besser und effizient Diagnostik und Therapien durchführen zu können. Zudem ist eine Teilnahme am SGKJPP-Kongress vorgesehen beziehungsweise eine aktive Mitgestaltung am Kongress erwünscht. Die Nachwuchssicherung ist bei gleichzeitig steigendem Bedarf eine ständige Herausforderung. Gemäss FMH-Ärztestatistik ist jeder 4. Kinder- und Jugendpsychiater über 60 Jahre alt. Das birgt die Gefahr eines zukünftigen Versorgungsengpasses. Der Numerus clausus sowie die unsichere Berufsperspektive erschweren zusätzlich die Situation. Zudem sind die Löhne der Kinderund Jugendpsychiater nicht so hoch. In den letzten Jahren konnten Studierende zum Beispiel an der Universität Zürich ihre Vorliebe für die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Medizinstudium angeben. Diesen wurde dann die Möglichkeit gegeben, sich schon im Studium mit diesem Fach zu befassen. In der Facharztweiterbildung ist eine Orientierung an den europäischen Normen wünschenswert. Die SGKJPP ist derzeit dank der intensiven Arbeit der Kommission für Fort- und Weiterbildung mit der Revision der Facharztweiterbildung beschäftigt. Das revidierte Schweizer Weiterbildungsprogramms soll sich am Curriculum für den europäischen Facharzttitel der KJPP orientieren beziehungsweise sich an die Bedürfnisse der Kinder- und Jugendpsychiater anpassen. Das ist für die Kinder- und Jugendpsychiater eine grosse Chance, sich in Zukunft gezielter mit den Bedürfnissen der angehenden Kinderund Jugendpsychiater auseinandersetzen zu können. Bis 2025 muss das Weiterbildungsprogramm der SGKJPP neu akkreditiert werden. In der Kommission für Fort- und Weiterbildung wurde diskutiert, wie es auf die Zukunft ausgerichtet werden kann. Das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) verlangt, dass die EPA (entrustable professional activities, deutsch: anvertraubare professionelle Tätigkeiten) integriert werden. Eine EPA ist eine Arbeitseinheit, die den Weiterzubildenden übertragen werden kann, wenn sie die notwendigen Kompetenzen dafür erworben haben. Einige Charakteristika: l Die Arbeitseinheit findet in einem gegebenen Um-
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Tabelle:
Risikofaktoren für psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen, 2017
Risikofaktor Depressive Symptome bei einem Elternteil Hohe psychische Belastung eines Elternteils Schlechter allgemeiner Zustand eines Elternteils Elternteil mit einer körperlichen chronischen Erkrankung Einschränkung im Alltag durch chronische Krankheit eines Elternteils Geringer Bildungsgrad eines Elternteils (obligatorische Schule) Kind wohnt nur mit einem Elternteil zusammen
0- bis 5-Jährige (PR; RR; 95%-KI) 6%; 1,7*; (1,1–2,7) 12%; 1,5*; (1,1–2,2) 5%; 1,7*; (1,0–2,8) 18%; 1,0; (0,6–1,4) 13%; 1,5*; (1,0–2,1) 5%; 2,4*; (1,5–3,6) 2%; 1,2; (0,5–2,6)
NKinder 0–5 = 1908–1928; NKinder 6–10 = 1896–1921; NKinder 11–14 = 1546–1569 * = Ergebnis statistisch signifikant bei p < 0,05 Abkürzungen: PR = Prävalenz des Risikos; RR = relatives Risiko; KI = Konfidenzintervall Quelle: BFS – Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB), © Obsan 2020 (5) 6- bis 10-Jährige (PR; RR; 95%-KI) 7%; 2,6*; (1,6–3,8) 12%; 2,0*; (1,3–2,8) 7%; 1,9*; (1,2–3,0) 23%; 1,8*; (1,2–2,4) 16%; 1,8*; (1,2–2,5) 7%; 1,3; (0,7–2,3) 5%; 1,0; (0,5–2,1) 11- bis 14-Jährige (PR; RR; 95%-KI) 8%; 4,0*; (2,7–5,6) 13%; 3,5*; (2,4–4,9) 9%; 1,9*; (1,2–3,1) 28%; 2,2*; (1,5–3,1) 18%; 1,7*; (1,1–2,5) 9%; 0,7; (0,3–1,5) 8%; 1,8*; (1,0–2,9) feld/Zusammenhang statt. l Sie benötigt adäquates, definiertes Wissen, Fertig- keiten und Verhalten. l Sie ist unabhängig ausführbar und zeitlich begrenzt (hat Anfang und Ende). l Der Prozess und das Resultat (outcome) können be- obachtet und bewertet werden. l Sie widerspiegelt eine oder mehrere konkrete Kom- petenzen. l Sie eignet sich für das gezielte Anvertrauen als Kom- petenzset (nicht alle Lernziele können sinnvollerweise in der Form von EPA definiert, vermittelt und evaluiert werden) (10). Man will Visionen entwickeln, wie die SGKJPP bis 2030 aussehen könnte. Daraus erwächst ein Vorschlag für das Weiterbildungsprogramm unter Abstimmung mit dem Vorstand, der Arbeitsgemeinschaft Assistenzärzte und Oberärzte (ARGE AAe/OAe) und dem SIWF. Folgende Punkte sind zu beachten: l EPA integrieren l diagnostische psychiatrische Skills stärken (Erfahrungen aus den Prüfungen) l somatische und pharmakologische Fähigkeiten/ Wissen stärken l neuropsychologische Skills stärken. Die beruflichen Perspektiven sind aufgrund von tiefster Entlöhnung innerhalb der Ärzteschaft und weiterhin teilweise fehlender gesellschaftlicher Anerkennung in Gefahr. Doch gibt es einige Vorteile in unserem Fach: ein überdurchschnittlich hoher Frauenanteil mit Teilzeitarbeit und die Möglichkeit, Beruf und Privatleben zu kombinieren. Das Fach der Kinder- und Jugendpsychiatrie befasst sich mit dem Verstehen, der Prävention, der Erkennung/Diagnostik sowie der Behandlung und Rehabilitation von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Es ist ein faszinierendes Eintauchen in eine komplexe Materie, eine Kombination von Genetik, Neurobiologie, individuellen Umständen des Aufwachsens des Kindes und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Es ist eine langjährige und breite Ausbildung, und es braucht eine individuelle Herangehensweise sowohl bei der Dia- gnostik als auch in der Therapie. Das macht es faszinierend. Kinder- und Jugendpsychiater sind Experten für die Kindesentwicklung. Das bedeutet, sich neben dem Kindes- und Familienwohl stetig für die Weiterentwicklung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen bei Therapiemöglichkeiten, in Schulen und Politik kritisch einzubringen. Die Arbeit in der beschriebenen Form ist zweifellos nicht leicht und verlangt ein hohes Mass an Erfahrung. Das heisst: Ein solches Konzept ist in einer Klinik nur zu verwirklichen, wenn ein grosser Stamm an langjährig erfahrenen Mitarbeiterinnen aller Berufsgruppen zur Verfügung steht. Das kann nur in einem guten Kooperationsklima gelingen und führt dazu, dass es hinreichend attraktiv ist, in der Klinik zu arbeiten und dort über längere Zeit zu bleiben. Kolleginnen, die frisch vom Studium oder aus anderen Arbeitsfeldern kommen, benötigen eine über mehrere Jahre dauernde «Einarbeitungszeit», in der ihnen die Möglichkeit für viele therapeutische Weiterbildungen, vor allem auch ausserhalb der Klinik, eingeräumt werden muss. Forschung In unserem Fach steht die kinder- und jugendpsychiatrische Forschung derzeit noch leider zu wenig im Vordergrund. Sie ist immer abhängig vom persönlichen Engagement. Dennoch sind die Zahl und die Qualität der publizierten Arbeiten bemerkenswert. Es ist klar zu fordern, dass die universitären Standpunkte gestärkt sowie Mittel und Infrastruktur für die Forschung zugestanden werden. Die Forschung befasst sich intensiv mit der Untersuchung verschiedener Störungsbilder. Mit multimodalen Methoden sollen Ursachen, aufrechterhaltende Bedingungen, Biomarker und Trajektorien in der Entwicklung für eine verbesserte Diagnose, Früherkennung und Behandlung von psychiatrischen Störungsbildern und Entwicklungsstörungen bestimmt werden. Dazu werden mehr vernetzte Forschung und multizentrische Studien benötigt. Wichtig wäre Forschung zu Therapieoutcome und zu Medikamentenwirkungen und Nebenwirkungen, um diese spezifischer an Kinder und Jugendliche anpassen zu können. Zudem wären Studien zur Interdisziplinarität mit der Nutzung 2/2022 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 21 FORTBILDUNG von Hirnforschungsmöglichkeiten und Genetik interessant. Um die Forschung mehr in den Vordergrund zu rücken, wird im Rahmen des SGKJPP-Kongresses Assistenzärzten und Studierenden die Gelegenheit zum Networking mit eingeladenen Experten geboten. Ziel ist es, die klinische Praxis mit Forschungsaktivtäten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu verbinden. Um die Patientenversorgung in unserem Fachgebiet zu verbessern, ist die Forschung unerlässlich. Teilweise wird das aber oft als langweilige Tätigkeit gesehen, oder es ist einer intellektuellen Elite vorbehalten. Idealerweise koexistiert Forschung als Ergänzung mit jeder klinischen Tätigkeit. Doch ist die Hürde dafür zu hoch, statistische Begriffe und komplizierte Programme führen zu einer «Vermeidung» jeglicher Forschungsaufgaben. Eine diesbezügliche Unterstützung der Kliniker ist erwünscht und kann für beide Gruppen eine Bereicherung sein. Ebenfalls im Rahmen der Forschung sollen evidenzbasierte Behandlungspfade und Leitlinien weiter optimiert und überprüft werden. Für diese Aufgabe kommt hauptsächlich den Universitätskliniken eine zentrale Bedeutung zu. Fazit In der Gesamtschau entsteht eine Vorstellung, wie sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie in den nächsten Jahren entwickeln sollte. Die Versorgungsebene (ambulant, teilstationär, stationär) sowie die Niedergelassenen sollen besser ausgestattet werden. Es braucht eine bessere Vernetzung zwischen Kinder- und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie mit interdisziplinär geführten Stationen und Ambulanzen. Innovative Modellprojekte sind gefragt sowie Unterstützung der niedergelassenen und ambulanten sowie aufsuchenden Kollegen, die häufig als Case-Manager die Aufgabe übernehmen. Die Früherkennung soll gefördert werden, um eine bessere Prognose zu erreichen. Der Nachwuchs soll weiterhin unterstützt und gefördert werden, gegebenenfalls dank besserer Arbeitsbedingungen und Entlöhnungen sowie einer angepassten Facharztweiterbildung. Die Identität vom Kinder- und Jugendpsychiatern soll besser definiert werden. Die Kinderpsychiaterinnen und -psychiater stehen vor der faszinierenden Aufgabe, mit der jungen Generation in Kontakt zu treten, sie auf ihrem Weg zu begleiten und in psychischen Krisen mit ihrem Wissen zu unterstützen. Wenn wir die psychischen Krankheiten erkennen und behandeln können, haben wir einen grossen Beitrag für die Gesellschaft und für die Zukunft geleistet. In keinem anderen Beruf muss man sich als Arzt im Bereich der Neurobiologie, der Gefühle, der Identität, der Kultur und des sozialen Umfelds auskennen. Zudem haben wir die Chance, durch das Zusammenwirken von Psychiatrie und Psychotherapie wirksamer zu sein und unsere Kom- petenzen in einem komplexen Fach stetig zu verbes- sern. Wir stehen zwischen der Kinder- und Jugend- medizin und der Erwachsenenpsychiatrie. Der Alltag soll durch die Anwendung von Leitlinien und evidenz- basierter Diagnostik, Instrumenten und Therapien ver- einfacht werden. Wir wünschen uns, dass weiterhin Massnahmenpakete gutgeheissen werden und die Nachwuchsförderung im Fokus bleibt. Medizinstudie- rende sowie Ärzte, die Interesse an der Kinder- und Ju- gendpsychiatrie haben, sollen durch ein Mentorsystem mit Rat und Tat unterstützt werden. Ausserdem soll die Sensibilisierung der Studierenden für die Forschung ge- stärkt werden. l Korrespondenzadresse: Dr. med. Elvira Tini Oberärztin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Neumünsterallee 3 8032 Zürich E-Mail: elvira.tini@pukzh.ch Quellen: 1. Werling A et al.: Media use before, during and after COVID-19 lockdown according to parents in a clinically referred sample in child and adolescent psychiatry: Results of an online survey in Switzerland. Comprehensive psychiatry. 2021;109:152260. 2. Schuler D et al.: Obsan Bericht 15/2020: Psychische Gesundheit in der Schweiz, Monitoring 2020. Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan). 3. Di Gallo A: Kinder- und Jugendpsychiatrie – Vernetzung als Programm. Leading Opinions Neurologie & Psychiatrie. 2020;6:20 4. Fegert JM: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie als Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen. In: Weiss P et al.: Aktion Psychisch Kranke (Hrsg.). Seelische Gesundheit und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen braucht Hilfe. Bonn: Psychiatrie Verlag; 2011. 43-62. 5. American Psychiatric Association. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-5: Deutsche Ausgabe. Göttingen: Hogrefe; 2014. 6. Thun-Hohenstein L et al.: Zukunft der Kinder-und Jugendpsychiatrie in Österreich. Neuropsychiatrie. 2017;31(3):144-149. 7. Obsan Bericht 52: Psychische Gesundheit in der Schweiz, Monitoring 2012. 8. Haemmerle P: Kinder-und jugendpsychiatrische Versorgung in der Schweiz – Ist-Zustand und PerspektivenMaster thesis, 2007. Universität Basel. 9. Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie: https://www.sgkjpp.ch/ 10. Leitlinie zur Implementierung von Entrustable Professional Activities (EPAs) in die Weiterbildungsprogramme. Genehmigt vom Plenum SIWF 28.11.2019. https://www.siwf.ch/files/pdf7/epa_leitlinie_d.pdf. Letzter Abruf: 7.4.22. 11. Allgaier et al.: Kinder-und jugendpsychiatrische Notfälle während der zweiten Welle der SARS-CoV2-19-Pandemie. Zeitschrift für Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2022: 1-11. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000858. 22 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 2/2022