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INTERVIEW
Handfeste Gründe, Psychiater zu werden
«Psychiatrie ist das spannendste Fach der Medizin»
Der Bedarf für psychiatrische Behandlungen in der Schweiz ist gross. Das Fach leidet unter Vorurteilen, die dazu führen, dass viele angehende Ärztinnen und Ärzte sich für andere Spezialisierungen entscheiden. Völlig zu Unrecht, findet Prof. Dr. med. Erich Seifritz, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, im Interview. Psychiatrie sei das medizinische Fach mit dem grössten bevorstehenden paradigmatischen Fortschritt und viel Innovation.
Erich Seifritz
Warum sollten sich Medizinstudierende für die Facharztausbildung Psychiatrie interessieren? Prof. Dr. med. Erich Seifritz: Das Fachgebiet der Psychiatrie und der Psychotherapie gehört zu den spannendsten Fächern der Medizin überhaupt. Psychische Erkrankungen betreffen den Menschen in seiner Gesamtheit von Psyche, Körper und sozialem Umfeld. Dieser sogenannte bio-psycho-soziale Ansatz bei psychischen Erkrankungen ist umfassend, spannend und menschlich bereichernd, wenn auch oft herausfordernd und komplex. Es gibt kaum ein anderes medizinisches Fach, in welchem die Auseinandersetzung mit dem Menschen so umfassend ist wie in der Psychiatrie. Wir haben schier unbegrenzte Möglichkeiten, eigene Schwerpunkte zu setzen, sei es in der Psychopharmakotherapie, in der Psychotherapie, bei den somatischen Therapien oder in der Forschung. Die Psychiatrie spielt in verschiedenen Dimensionen der Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle, sei es in Kultur, Sport und Gesundheitspolitik. Es hat mich stets fasziniert, mit Menschen aus allen Schichten und Berufen in Kontakt zu sein, und dies oft über viele Jahre. Dies im Gegensatz zu den meisten anderen medizinischen Fachgebieten. Die Psychiatrie hat nicht nur enge Schnittstellen zu den Naturwissenschaften, sondern auch zu den Sozial- und Geisteswissenschaften.
Was macht die Psychiatrie attraktiv? Seifritz: Neben den oben genannten fachlichen und wissenschaftlichen Aspekten bietet die Psychiatrie auch attraktive Arbeitszeitmodelle und besonders in der klinischen Psychiatrie ein interprofessionelles, fachlich und menschlich bereicherndes Umfeld. Hinzu kommt, und davon bin ich überzeugt, dass die Psychiatrie das Fach der Medizin ist, das in den nächsten Jahren den paradigmatisch grössten Fortschritt machen wird. Neben der klassischen klinischen Diagnostik und Therapie hat uns die neurowissenschaftliche und biomedizinsche Forschung Methoden zur Verfügung gestellt, die nun auch für die Psychiatrie relevant geworden sind. Beispiele sind die molekulare Biologie, Genetik, Epigenetik, Hirnbildgebung, experimentelle Pharmakologie und Psychologie. Dazu kommen maschinelles Lernen oder Big Data und computationale Psychiatrie, aber auch Psychotherapieund Versorgungsforschung sowie Sozialpsychiatrie. Und gerade auch vor dem Hintergrund der digitalen Transformation kommen äusserst spannende Zeiten auf uns zu.
Gibt es Innovation in der Psychiatrie? Seifritz: Und wie! Die Neurowissenschaften haben der Psychiatrie in den letzten drei Dekaden einen grossen Fortschritt ermöglicht. Das erlaubt uns, einen faszinierenden Einblick in den Körper, das Gehirn und damit in die Psyche, und es erweitert unser Verständnis. Die Umsetzung in innovative und wirksamere Therapien ist jedoch kein linearer Prozess. Sie verlangt die multidisziplinäre Integration von unterschiedlichen Ansätzen und Methoden. Mit berechtigtem Stolz dürfen wir darauf hinweisen, dass wir über hervorragende Medikamente, gute Psychotherapien und sehr effiziente andere Behandlungsmethoden für den grössten Teil psychisch erkrankter Menschen verfügen. Die Psychiatrie steht diesbezüglich der restlichen Medizin in nichts nach. Ein nächster grosser Entwicklungsschritt liegt in der personalisierten psychiatrischen Behandlung. Dafür werden auch sogenannte Biomarker für psychische Erkrankungen und für die Identifikation von spezifischen für die Behandlung relevanten Mechanismen erforscht. Eine besondere Herausforderung ist weiterhin die Behandlung von schweren und komplexen psychischen Erkrankungen. Aber auch dafür stehen bereits sehr gute integrierte und multimodale Behandlungsalgorithmen zur Verfügung.
Kann die Digitalisierung helfen? Seifritz: Die digitale Transformation wird dem Fachgebiet der Psychiatrie und der Psychotherapie einen entscheidenden Schub verleihen, das steht ausser Frage. Das gilt insbesondere für die Entwicklung von digitalen Biomarkern, mit welchen mit Momentary-Ecological-Assessment-Methoden auf Handy, Smartwatch und anderen digitalen Geräten das Verhalten, die Kognition und die Emotion von Menschen in ihrer natürlichen Umgebung monitorisiert werden können. Immer mehr etablieren sich auch digitale Psychotherapiemethoden, die in Kombination mit Face-to-Face-Begegnungen auf effiziente Weise Psychotherapien einer grösseren Anzahl von Patienten und Patientinnen anbieten können. Metastudien zeigen, dass kombinierte digitale und reale Psychotherapien mindestens gleich wirksam sind wie reine Face-toFace-Therapien, jedoch zu einem Bruchteil der Kosten. Die wissenschaftliche Evidenz spricht hier eine eindeutige Sprache. Leider haben es aber die Tarifpartner bisher versäumt, die digitale Psychiatrie und Psychotherapie angemessen in den Entschädigungssystemen abzubilden.
Muss man reich sein, um Psychiater zu werden? Die Eigenfinanzierung für die Facharztausbildung ist ja beträchtlich. Seifritz: Während der Facharztweiterbildung entstehen Kosten für die Kandidaten und Kandidatinnen, die aber mehrheitlich der aufwendigen Psychotherapieausbildung geschuldet sind, die weltweit die umfangreichste ist. Heute ist es indes so, dass die Kliniken und Ambulatorien sich an dieser Psychotherapieweiterbildung substanziell beteiligen. Deshalb ist der Anteil der Eigenfinanzierung für die Assistenzärzte und -ärztinnen überschaubarer geworden und nicht grösser als in anderen Fächern. Dass die psychologischen Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen demnächst im Anordnungsmodell selbstständig tätig sein werden, könnte grundsätzlich eine grosse Chance für die Versorgung darstellen. Leider entsprechen aber die vom Bundesamt für Gesundheit entwickelten gesetzlichen Vorgaben für die fachlichen und praxisorientierten Voraussetzungen der psychologischen Psychotherapie nicht dem, was es für die verbesserte Versorgung von schwerer Erkrankten brauchen würde. Mit Psychotherapie allein lässt sich nur ein kleiner Teil psychischer Erkrankungen effizient behandeln. In den meisten Fällen braucht es multimodale Therapieansätze. Hier sehe ich Chancen für die Psychiatrie. Dazu muss aber der Tarif der Komplexität von schweren und komplexen Erkrankungen sowie der anspruchsvollen Facharztaus- und -weiterbildung der Psychiater und Psychiaterinnen angepasst werden. Daran arbeiten wir.
Wie sollen angehende Psychiater mit der Stigmatisierung in der Bevölkerung und unter Kollegen umgehen? Seifritz: Selbstbewusst! Ich verstehe gar nicht, wieso man die Psychiatrie geringschätzen kann. Die Effektivität der Psychiatrie ist sehr hoch und übersteigt jene von verschiedenen anderen Bereichen der Medizin. Hier braucht es noch viel Aufklärung in der Öffentlichkeit und der Politik. Stigmatisierung hat oft mit den eigenen Ängsten in der Bevölkerung zu tun. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass sich die stigmatisierende Haltung gegenüber der Psychiatrie exakt zu dem Zeitpunkt auflöst, an dem jemand selbst oder ein Familienmitglied psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe braucht.
Das Interview führte Valérie Herzog.
2/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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