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FORTBILDUNG
Präzisionsmedizin am Beispiel der Neurologie
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Häufig noch als vorwiegend diagnostisches Fach verkannt, hat sich die klinische Neurologie zu einer therapeutischen Disziplin weiterentwickelt, die mittlerweile bei einigen Erkrankungen verlaufsmodifizierende oder gar kausal wirkende Behandlungen anbieten kann. Gerade durch die rasche Translation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die klinische Versorgung ergeben sich vielfältige Möglichkeiten für personalisierte Ansätze. Im Folgenden legen wir aktuelle Entwicklungen, aber auch Grenzen der Präzisionsneurologie dar. Es handelt sich unserer Auffassung nach um eine organische Weiterentwicklung, da die klinische Neurologie seit jeher eine Präzisionsdisziplin ist.
Thomas Berger Andrew Chan
von Thomas Berger1 und Andrew Chan2
Einleitung
D as Konzept der Präzisionsmedizin beinhaltet eine Stratifizierung von Patientengruppen mit dem Ziel einer möglichst individualisierten Versorgung. Ursprünglich auf die zielgerichtete Behandlung, wie zum Beispiel auf molekulargenetisch identifizierbare Ursachen fokussiert, wird der Begriff der Präzisionsmedizin mittlerweile umfassender betrachtet und integriert die personalisierte Diagnostik, Prognose, Therapie und Prävention von Erkrankungen. Besonders neurologische Krankheitsbilder sind für solchermassen individualisierte Ansätze prädestiniert: So gibt es für genetische Krankheitsbilder wie die autosomal rezessive, spinale Muskelatrophie (SMA) mittlerweile kausale Therapieansätze (Antisense-Oligonukleotide, Gentherapie). Anhand der Multiplen Sklerose (MS) wird deutlich, dass die geringe Regenerationsfähigkeit des zentralen Nervensystems das zeitliche Fenster für prophylaktische Therapieansätze limitiert, sodass eine individualisierte prognostische Stratifizierung den Zeitpunkt und die Intensität einer Immuntherapie determiniert. Einer Vielzahl von medikamentösen und nicht medikamentösen Therapieansätzen in der Neurologie stehen seltene, aber potenziell schwerwiegende Nebenwirkungen gegenüber, die die Notwendigkeit einer möglichst quantifizierbaren Nutzen-Risiko-Abwägung im Einzelfall begründen.
1 Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien 2 Universitätsklinik für Neurologie, Medizinbereich Neuro Inselspital, Universitätsklinikum Bern
Grundlagen der Präzisionsmedizin in der Neurologie Die Diagnose neurologischer Erkrankungen war immer schon «Präzisionshandwerk». Nur mithilfe einer pathologisch anatomischen und topisch lokalisatorischen, klinischen Differenzialdiagnose können Symptomkomplexe der richtigen Diagnostik zugeführt werden. Mittlerweile verstehen Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler einerseits die Funktionen und andererseits die vielen akuten, aber noch mehr die chronischen Erkrankungen und insbesondere die «rare disorders» des Nervensystems zunehmend besser. Diese Erkenntnisgewinne bündeln sich in der neurologischen Präzisionsmedizin, die für frühe und differenzierte Diagnostik, individualisierte Prognose und Stratifizierung zu personalisierter Therapie steht. Dabei führen verschiedene methologische Fortschritte zu einer immer besseren Charakterisierung unterschiedlicher Phänotypen als Grundlage für personalisierte Ansätze. Hierzu gehören Fortschritte in der genetischen Diagnostik und in verschiedenen Analysemethoden: l genetische Diagnostik: von Next Generation Se-
quencing über «Omics» bis Zytogenetik l molekularbiologisch: von Funktionsanalysen über
Signaltransduktion bis molekulares Imaging l immunologisch: von Zellphänotypisierung bis zu
Antibody-Engineering l bildgebend: von Hochfeld-MRT über Connec-
tom-Analysen bis zu spezifischen Interventionen l analytisch: von Artifical Intelligence zu Deep-Lear-
ning-Algorithmen.
Nachfolgend einige Beispiele der neurologischen Präzisionsmedizin, die in der diagnostischen und therapeutischen Routine bereits einschneidende Erfolge für
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Abbildung: Präzisionsmedizin und verschiedene beeinflussende Faktoren Individuelle Faktoren (z. B. genetischer Hintergrund) zusammen mit interindividuellen Faktoren (z. B. Heterogenität von Pathomechanismen, organübergreifende Pathophysiologie neurologischer Erkrankungen) bestimmen das Ansprechen auf Therapien. Gesellschaftliche und politische Aspekte wiederum beeinflussen die Pathophysiologie (z. B. Umweltfaktoren) sowie den Zugang zu verschiedenen therapeutischen Ansätzen. Zudem wird durch gesellschaftliche Faktoren die Entwicklung von neuen Methoden, von Technologien und therapeutischen Ansätzen mitbestimmt. «Präzisionsneurologie» beinhaltet überdies eine kontinuierliche wissenschaftliche Weiterentwicklung, aber auch ethische Reflexion. Ausserdem ist eine anhaltende Weiterbildung der betroffenen Berufsgruppen die Grundlage für eine möglichst personalisierte Neuologie. (Bild: ©Inselpital, Neurologie)
manche Patientinnen und Patienten mit neurologischen Erkrankungen ermöglichen.
Neurogenetik Bei zahlreichen neurogenetischen Erkrankungen (z. B. hereditären Neuropathien, neuromuskulären Erkrankungen, Dystonien, Ataxien, neurodegenerativen Erkrankungen, Mitochondropathien, Epilepsiesyndromen) konnte mittlerweile manche mono- oder polygene Ursache entschlüsselt werden (1). Neben der diagnostischen Genauigkeit wird dadurch eine exaktere Prognose, aber noch wichtiger, eine spezifische Therapie ermöglicht. Aktuelle Beispiele sind die Zulassungen des intrathekal verabreichten Antisense-Oligonukleotids Nusinersen, die intravenöse vektorbasierte SMN1-Gen-Therapie Onasemnogen-Abeparvovec und der orale SMN2-mRNA-Spleiss-Modifikator Risdiplam für
die spinale Muskelatrophie aller Altersklassen, der RNA-Interferenz-Wirkstoff Patisiran für die hereditäre Transthyretin-Amyloidneuropathie, die Antisense-Oligonukleotide Eteplirsen, Viltolarsen und Casimersen für die Muskeldystrophie des Typs Duchenne sowie der mTOR-Inhibitor Everolimus bei subependymalem Riesenzellastrozytom im Zusammenhang mit tuberöser Sklerose. Ein weiterer potenzieller «game-changer» könnte das SOD1-Antisense-Oligonukletid Tofersen zur Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose bei Patientinnen und Patienten mit SOD1-Gen-Mutationen sein. Darüber hinaus birgt die neurogenetische Diagnostik ein enormes Potenzial, aber auch eine extrem hohe ethische Verantwortung bezüglich der Prädiktion neurologischer Erkrankungen. Als Beispiel sei der Nachweis einer C9orf72-Repeat-Verlängerung als Ursache für eine autosomal-dominant vererbte familiäre frontotemporale Demenz bzw. für eine amyotrophe Lateralsklerose bei asymptomatischen Familienangehörigen genannt. Neurologinnen und Neurologen, die diese Untersuchungen veranlassen und Betroffene bzw. nicht Erkrankte fachspezifisch und fachkompetent beraten, sind sich dieser Verantwortung inklusive der geltenden Bestimmungen des Gentechnikgesetzes, vor allem hinsichtlich genetischer Analysen des Typs 3 und 4, natürlich in hohem Masse bewusst.
Neuroonkologie Im Mai 2016 wurde die aktuelle WHO-Klassifikation der Hirntumoren publiziert, welche die ursprünglich auf ausschliesslich neuropathologischen Kriterien basierende Klassifikation nun um molekulare (genetische und epigenetische) Biomarker erweitert. Gerade bei der sehr heterogenen Gruppe der Gliome, die sich in ihrer Tumorbiologie deutlich unterscheiden, werden durch die zusätzliche molekular genetische Diagnostik eine differenziertere diagnostische Zuordnung, eine Abschätzung der individuellen Prognose und schliesslich eine Stratifizierung zu einem spezifischen Therapieschema ermöglicht (2). Darüber hinaus wurden neue Tumorentitäten identifiziert, beispielsweise das sehr aggressive diffuse Gliom der Mittellinie bei Kindern, das eine K27-Mutation am Histon-H3-Gen aufweist. Hinsichtlich der individuellen Prognose ist eine proneurale Signatur, die durch IDH1/2-Mutation mit 1p/19q-Co-Deletion und Hypermethylierung charakterisiert ist, günstiger als ein mesenchymales Transkriptionsprofil. Unmittelbar anstehende Erweiterungen der molekulargenetischen Klassifikation um weitere molekulare Biomarker, wie beispielsweise ATRX-Inaktivierungen, TP53- und TERT-Promoter-Mutationen, werden die individuelle Prognose von Patientinnen und Patienten noch besser definieren können. Die neuropathologische und molekulargenetische Diagnostik erfordert enorme Expertise, die beispielsweise an der Abteilung für Neuropathologie & Neurochemie der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien in ihrer Funktion als neuroonkologisch diagnostisches Referenzzentrum gewährleistet ist.
Neuroimmunologische Erkrankungen Auf dem Gebiet der antikörperassoziierten Autoimmunerkrankungen des zentralen Nervensystems wurden in
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den letzten Jahren grosse Fortschritte erzielt. Die Entdeckung verschiedener Autoantikörper gegen gliale und neuronale Oberflächenantigene hat dabei nicht nur neue Krankheitsentitäten identifiziert, sondern völlig neue diagnostische, prognostische und therapeutische Zugänge für Patientinnen und Patienten eröffnet. Die frühzeitige Diagnose einer Neuromyelitis-OpticaSpectrum-Disorder (NMOSD, Antikörper gegen Aquaporin 4 [AQP4] und Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein [MOG]) und ihre Abgrenzung gegenüber Multipler Sklerose (MS) ist von grosser Bedeutung, weil NMOSD ein höheres Risiko an Morbidität und Mortalität gegenüber MS birgt und ausserdem die gängigen MS-Therapeutika bei NMOSD unwirksam bis deletär sind (3). Ebenso wichtig ist bei einem erstmaligen entzündlich demyelinisierenden Ereignis die Differenzierung von MS und NMOSD gegenüber einer akuten demyelinisierenden Enzephalomyelitis (ADEM, Antikörper gegen MOG, vor allem bei pädiatrischen Fällen) (4). Denn eine ADEM tritt grundsätzlich monophasisch auf und bedarf daher im Gegensatz zu den beiden anderen Erkrankungsgruppen keiner prophylaktischen Immuntherapie. 2019 wurde Eculizumab als erstes Medikament für die Behandlung der AQP4-Antikörper-positiven NMOSD zugelassen. Kürzlich ist mit Satralizumab eine weitere monoklonale Antikörpertherapie hinzugekommen, deren Vorteile aus einem anderen Wirkmechanismus, nämlich gegen den Interleukin-6-Rezeptor, und einer subkutanen Anwendung bestehen. Die FDA hat 2020 darüber hinaus mit Inebilizumab bereits den nächsten monoklonalen Antikörper zur Behandlung der NMOSD zugelassen. Dieser ist gegen das B-Zell-Oberflächenmolekül CD19 gerichtet. Antikörper-assoziierte Autoimmunenzephalitiden sind durch Autoimmunreaktionen gegen Oberflächenstrukturen von Nervenzellen charakterisiert. Dazu gehören synaptische Rezeptoren oder Membranantigene, wie zum Beispiel NMDA-Rezeptor, CASPR2, GABA-Rezeptor, Glycin-Rezeptor, IgLON5 oder GAD65 (5). Jeder dieser Autoantikörper ist mit einem spezifischen klinischen Phänotyp assoziiert, wodurch zahlreiche neue Krankheitsentitäten entdeckt und definiert wurden. Der Nachweis der Autoantikörper dient der raschen Diagno-
Merkpunkte:
● Der rasche neurowissenschaftliche Wissenzuwachs stellt sowohl Grundlage als auch Herausforderung für die Präzisionsneurologie dar.
● Die lebendige Weiterentwicklung mit Einbezug neuerer Forschungsgebiete (z. B. Anwendung künstlicher Intelligenz bei diagnostischen Algorithmen) begründet die anhaltende Attraktivität der klinischen Neurologie.
sesicherung, wodurch eine frühe immunsuppressive
Therapie mit einem besseren Outcome der Patientin-
nen und Patienten erzielt wird.
Zur Behandlung der gegenüber herkömmlichen im-
munsuppressiven Therapien resistenten Myasthenia
gravis, einer gegen überwiegend Acetylcholinrezepto-
ren-Antikörper vermittelten neuromuskulären Erkran-
kung, stehen aufgrund sehr guter Phase-III-Studien 2
neue Medikamente vor ihrer Zulassung: Efgartigimod,
ein therapeutischer monoklonaler Antikörper gegen
den pathogenetisch wichtigen neonatalen Fc-Rezeptor,
und Ravulizumab, ein monoklonaler Antikörper gegen
den Komplementfaktor C5. Beide werden neben der
bereits bestehenden Zulassung von Eculizumab eine
willkommene Erweiterung im Behandlungsspektrum
von Patientinnen und Patienten mit thera-
pieresistenter Myasthenia gravis darstellen.
Die genannten Beispiele zeugen von der erfolgreichen
Translation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die
nicht nur neurologische, sondern auch neurochirurgi-
sche, psychiatrische und neuropädiatrische klinische
Routineanwendung.
Die raschere Übersetzung grundlagenwissenschaftli-
cher Fortschritte ist derzeit Gegenstand verschiedener
Wissenschaftsinitiativen, auch mit der Erwartung, das
Konzept der Präzisionsmedizin weiterzuentwickeln.
Allerdings ist der Begriff Präzisionsmedizin in der Neuro-
logie als ein mehrstufiger, sich in Entwicklung
befindender Prozess zu verstehen: Individuelle, gesell-
schaftliche, ethische und politische Aspekte stellen Hür-
den dar (Abbildung).
l
Korrespondenzadressen: Univ.-Prof. Dr. med. Thomas Berger
Universitätsklinik für Neurologie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
E-Mail: thomas.berger@meduniwien.ac.at
Prof. Dr. med. Andrew Chan Universitätsklinik für Neurologie, Medizinbereich Neuro
Inselspital, Universitätsklinikum Bern Universität Bern
Freiburgstrasse 18 3010 Bern
E-Mail: Andrew.Chan@insel.ch
Referenzen: 1. Zimprich F et al.: Crashkurs Neurogenetik. J Neurol Neurochir Psych.
2019;20:6-18. 2. Leibetseder A et al.: Behandlungsmöglichkeiten von Gliomen – Was
gibt es Neues? J Neurol Neurochir Psych. 2017;18:84-93. 3. Fujihara K: Neuromyelitis optica spectrum disorders: still evolving
and broadening. Curr Opin Neurol. 2019; 32:385-394. 4. Reindl M et al.: The spectrum of MOG autoantibody-associated
demyelinating diseases. Nat Rev Neurol. 2013;9:455-461. 5. Dalmau J et al.: Antibody-Mediated Encephalitis. N Engl J Med. 2018;
378:840-851.
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