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FORTBILDUNG
Langzeitverlaufsbeobachtung bei Menschen mit dem Syndrom der reaktionslosen Wachheit
Sie stehen am Bett einer Patientin, eines Patienten mit einer schweren Bewusstseinsstörung, beobachten, befunden und diagnostizieren. Doch es geschieht vermeintlich nichts. Vielleicht sind die Augen geöffnet, der Blick geht ins «Nichts». Äusserlich sind keine Reaktionen zu erkennen. Mit dieser Erfahrung werden insbesondere interprofessionelle Behandlungsteams von Menschen mit dem Syndrom der reaktionslosen Wachheit bei einer schweren Bewusstseinsstörung nach einer erworbenen Hirnschädigung konfrontiert.
Foto: zVg
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Marion Huber Margret Hund-Georgiadis
von Marion Huber1 und Margret Hund-Georgiadis2
Einleitung
D as klinische Bild des Syndroms reaktionsloser Wachheit (unresponsive wakefulness/vegetative state, SRW), einer schweren Bewusstseinsstörung, wurde 1945 erstmals von Kretschmer beschrieben, damals noch als apallisches Syndrom bezeichnet (1). Im klinischen Alltag hat sich in den letzten Jahren der Begriff Wachkoma gehalten. Die Prävalenz beträgt im europäischen Raum zwischen 0,5 und 2 pro 100 000 Einwohner im Jahr (2). Menschen mit einem SRW stellen uns im klinischen Alltag vor eine Herausforderung, insbesondere hinsichtlich der Langzeitverlaufsdiagnostik, da immer eine gewisse Unsicherheit bezüglich der korrekten Diagnose bleibt (3–5).
Nutzen der Langzeitverlaufsbeobachtung Im Zuge von Kosteneinsparungen und DRG-Verhandlungen (DRG: diagnostic related groups) stellt sich sehr früh die Frage nach dem Rehabilitationspotenzial von Menschen mit schweren Bewusstseinsstörungen. Eine Prognose in der frühen Phase nach einer schweren Hirnschädigung bleibt schwierig (5, 6). Es gibt kaum prognostische Parameter, die eine sichere Aussage zulassen. Alter, Lokalisation und Art der Hirnschädigung (traumatisch vs. nicht traumatisch) spielen eine wichtige Rolle (7).
1 Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW Institut für Gesundheitswissenschaften IGW Fachstelle für Interprofessionelle Lehre und Praxis IPLP 2 REHAB Basel, Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie, Basel
Differenzialdiagnostik Das SRW stellt eine Remissionsphase des Komas dar. Hiervon unterscheidet es sich insbesondere durch die Wachphasen und die wiedergekehrte vitale Funktionsfähigkeit. Die Differenzialdiagnose ist zum Lock-in-Syndrom und zum akinetischen Mutismus zu stellen (10). Im Remissionsverlauf muss zwischen dem SRW und dem Minimally Conscious State (MCS) minus und plus differenziert werden (11). So werden dem MCS– (minus) insbesondere basale Reaktionen wie Blickfixierung, visuelles Verfolgen oder die Lokalisation von Schmerzreizen zugeschrieben. Auch situativ angepasste emotionale Reaktionen (weinen, lächeln) werden noch dem MCS– zugesprochen. Menschen im MCS+ können ersten Kommandos folgen und beginnen, verbal oder dysfunktional zu kommunizieren. Das wird durch eine Studie von Bagnato et al. unterstrichen, in der knapp die Hälfte der beobachteten Patienten zuerst eine visuelle Reaktion wie Blickfixierung oder Blickfolgebewegung zeigten (4, 12). Um Fehldiagnosen zu vermeiden, bedarf es demnach neben bildgebenden Verfahren einer fortlaufenden genauen klinischen Beobachtung der Patienten (siehe Kasten).
Hohe Fehldiagnoserate Die Fehldiagnoserate liegt bei 30 bis 40 Prozent (8). In der Fehldiagnostik unterscheiden wir 2 Arten von Fehldiagnosen: falsch positive und falsch negative (Tabelle 1). Falsch positive Fehldiagnosen (wenn SRW das positive Ereignis darstellt) können zu verfrühten Behandlungsabbrüchen führen sowie verhindern, dass Schmerz identifiziert und behandelt wird. Auch können sie dazu führen, dass die Möglichkeit für einen kognitiven und funktionellen Fortschritt verpasst wird. Falsch negative Diagnosen können zu übertrieben optimistischen Pro-
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gnosen führen, da Verhaltensbeobachtungen zu positiv interpretiert werden. Falsch negative Diagnosen weisen einen günstigeren Einfluss auf die Rehabilitation auf, als falsch positive (13–15). Die hohe Fehldiagnoserate ist auch darauf zurückzuführen, dass viele Patienten über ein sogenanntes verdecktes Bewusstsein (covert consciousness) verfügen, das lediglich über elektrophysiologische und bildgebende Diagnostik zu erfassen ist (8, 16, 17). So wurde in mehreren Studien gezeigt, dass Menschen mit der Diagnose SRW an mentalen Aufgaben teilnehmen konnten, indem sie ihre Gehirnaktivität während EEG- oder fMRI-basierten Paradigmen veränderten. Das deutet darauf hin, dass sie bei Bewusstsein waren und fehldiagnostiziert wurden (15, 17). Das Phänomen des verdeckten Bewusstseins wurde als «cognitive motor dissociation» bezeichnet (17). Da sowohl die Bildgebung als auch elektrophysiologische Diagnostik nur bedingt im Alltag angewendet werden können, ist die genaue klinische Langzeitbeobachtung in alltäglichen Situationen von grosser Bedeutung für den klinischen medizinisch-pflegerisch-therapeutischen Alltag.
Medizinische versus pflegerischtherapeutische Diagnostik Die medizinische Bewusstseinsdiagnostik scheint für die Behandlung von Menschen mit SRW zu kurz gefasst, auch wenn ein weiterer Fokus ärztlicherseits auf der Früherkennung von medizinischen Komplikationen wie paroxysmaler sympathischer Hyperaktivität, Hirndruckerhöhung, Hydrozephalusbildung und neuroendokrinen Dysfunktionen liegt. Bei der Bewusstseinsdiagnostik werden Aussagen insbesondere hinsichtlich des Wachheitsgrades und kognitiver Funktionen gemacht. Die Langzeitverlaufsbeobachtung soll jedoch als Grundlage für die Bestimmung von Behandlungszielen aller beteiligten Disziplinen dienen. Im Allgemeinen ist für die Langzeitbehandlung ein interprofessionelles Team verantwortlich. Im Kern besteht das Behandlungsteam aus Ärzten, Pflegefachpersonen und Fachangestellten Gesundheit, Physio-, Ergo-, Musiktherapeuten, Logopäden/klinischen Linguisten und Psychologen. Ein Hauptaspekt in der pflegerisch-therapeutischen Behandlung von Menschen mit schweren Bewusstseinsstörungen liegt in der Körperwahrnehmungsschulung, da davon ausgegangen werden kann, dass die Wahrnehmung des Körperselbst gestört ist (10, 18, 19). Gängige Behandlungskonzepte, wie Affolter, Bobath und FOTT (Therapie des facio-oralen Trakts) stellen eine hohe Alltagsnähe der pflegerisch-therapeutischen Handlungen in den Mittelpunkt, um die Wahrnehmung des Körperselbst zu fördern (20). Demnach muss die Langzeitverlaufsbeobachtung möglichst während Alltagsaktivitäten stattfinden, zumal diese im Sinn einer Reizstimulierung zu verstehen sind.
Feine Reaktionen wahrnehmen und mit den Patienten in den Dialog treten Gerade für das Formulieren von Behandlungszielen erscheint es wichtig, einerseits das Bewusstsein, andererseits den Fähigkeitsrückgewinn zu erfassen. Gemäss Zieger ist es von grosser Bedeutung, mit Menschen mit SRW in einen dialogischen Kontakt zu treten (10). Das impliziert das genaue Beobachten und Einschätzen der feinen, teilweise verdeckt wirkenden Reaktionen der Pa-
Kasten:
Diagnosekriterien der International Classification of Diseases (ICD-10) (2020)
In der ICD-10-Version 2020 wird das SRW immer noch unter dem Begriff des apallischen Syndroms (G90.80) geführt. Diagnosekriterien sind folgende: ● Augen geöffnet, «schwimmende Bewegungen», optokinetischer Nystagmus
nicht auslösbar, Blick starr ins Leere gerichtet ● Fehlen kognitiver kortikaler Funktionen (kein Befolgen von Aufforderungen
oder emotionale Reaktionen) ● intermittierende, spontane und sehr langsame Bewegungen der Extremitäten ● häufig erhöhter Muskeltonus ● Auftreten oraler Automatismen wie Saugen, Lecken der Lippen, Schmatzen ● Schnauz- und Greifreflex sind auslösbar ● vegetative Störungen wie Hyperthermie, Tachykardie, Hypersalvation
Differenzialdiagnose MCS (nicht in der ICD gelistet) (9) ● Befolgen einfacher Kommandos ● gestische oder verbale Ja/Nein-Antworten (unabhängig von deren Richtigkeit) ● verständliche sprachliche Äusserungen ● Bewegungen oder affektive Äusserungen in direktem Bezug zu relevanten
Umweltreizen, die nicht auf Reflexivität zurückzuführen sind
tienten. Es gilt, die sogenannte Körpersemantik der Patienten «lesen» zu lernen (18). Um diese feinen, teilweise kaum sichtbaren Veränderungen zuverlässig erfassen zu können, wird die Nutzung standardisierter und validierter Beobachtungsinstrumente als Goldstandard empfohlen (3, 4). Das sollte mit dem Fokus geschehen, pflegerisch/medizinisch-therapeutische Ziele für ein bestmögliches Patienten-Outcome zu erlangen (14). Menschen mit schweren Hirnverletzungen werden im Allgemeinen von interprofessionellen Behandlungsteams versorgt. Jede Disziplin nutzt dabei ihre eigenen Diagnoseinstrumente, um Aussagen über die Menschen mit SRW treffen und professionsspezifische Ziele formulieren zu können. Dabei werden professionsspezifische Sprachen verwendet, woraus Missverständnisse entstehen können. Mangels einer ganzheitlichen Sichtweise wird eine gemeinsame Zieldefinition erschwert (13). Des Weiteren werden unterschiedliche Sichtweisen deutlich. Die medizinische Verlaufsdiagnostik fokussiert auf die Rückkehr des Bewusstseins hinsichtlich einer Diagnosestellung (Koma, SRW, MCS usw.) und die Identifizierung medizinischer Komplikationen. Die pflegerisch-therapeutische Verlaufsbeobachtung fokussiert
Tabelle 1:
4-Felder-Tafel der Fehlentscheidungen im klinischen Alltag
Diagnose SRW Diagnose MCS–
SRW MCS–
richtig positiv
falsch positiv
(Patient im SRW,
(Patient im MCS–,
Diagnose SRW)
Diagnose aber SRW)
falsch negativ
richtig negativ
(Patient im SRW,
(Patient im MCS–,
Diagnose MCS–)
Diagnose SRW)
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Tabelle 2:
Übersicht über die verschiedenen deutschsprachigen Messinstrumente
Messinstrument
Setting
Erfasstes Konstrukt Dimensionen (Anzahl) Reliabilität/Validität für SWR
GCS
akut (genutzt auch
Bewusstseinszustand Augen-Blickantwort,
OR für Sterblichkeit gut, IRR hoch,
(Glasgow Coma Scale) in Frührehabilitation,
Motorik, verbale Antwort Cronbach’s Alpha gut, jedoch nicht für
Langzeitrehabilitation)
für Langzeitbeobachtung validiert;
GCS > 8 indiziert MCS
CRS-R (Coma Recovers akut (genutzt auch
Bewusstseinszustand auditive und visuelle
gute Ergebnisse hinsichtlich
Scale-revised)
in Frührehabilitation,
Funktionen, Motorik,
Differenzierung zwischen SRW, MCS–
Langzeitrehabilitation)
oral/verbale Funktionen, und MCS+, CSR-R > 10 indiziert
Kommunikation, Vigilanz MCS–, inter-rater and test-retest
reliability, internal construct validity
FIM (Functional
Gesamtverlauf
Funktionalität
funktionelle Leistung Sensitivität, Spezifität, Prädiktion,
independent
im Alltag
IRR mittel bis hoch; keine Differenzierung
Measurement)
zwischen SRW und MCS– möglich,
da kein Cut-off berechnet
Barthel-Index
Gesamtverlauf
Funktionalität
funktionelle Leistung Augenscheinvalidität,
im Alltag
Standardmessfehler, IRR,
keine Differenzierung zwischen SRW
und MCS– möglich, da kein Cut-off
berechnet
SEKS (Skala für
akut und
Funktionalität
vegetative Körpersignale, gute IRR, keine Differenzierung
expressive
Frührehabilitation
tonische Körpersignale, zwischen SRW und MCS– möglich,
Kommunikation,
Augen, Mimik
da kein Cut-off berechnet
Selbstaktualisierung
und Wachkoma
EFA (Early Functional Gesamtverlauf
Funktionalität
Vegetativum, facio-
kongruente Validität hoch, IRR hoch,
Ability Assessment)
oraler Bereich,
keine Differenzierung zwischen
Sensomotorik,
SRW und MCS– möglich, da kein
sensorisch kognitive
Cut-off berechnet, gestützt auf das
Funktionen Affolterkonzept
BAVESTA (Basler
akut, Früh- und
Bewusstsein und
vegetative Körpersignale, Gute IRR, sehr hoge interne Konsistenz,
Vegetative State
Langzeitrehabilitation, Funktionalität
Augen, tonische Körper- Sensitivität, Spezifität, Cut-off
Assessment)
Phase F
signale, Mimik, Sprache, SRW < 1,8, MCS– 1,8–2,2 Motorik, Kognition falsch positiv Rate < 10%, hohe Reagibilität Abkürzungen: OR: Odds Ratio; IRR: Inter-Rater--Reliabilität; MCS: Minimally Concious State; SWR: Syndrom der reaktionslosen Wachheit Quelle: mod. nach (14). hingegen auf den Rückgewinn der Wahrnehmung des Körperselbst und der Funktionsfähigkeit. Im Rahmen der patientenzentrierten Versorgung wird eine gemeinsame Zielfindung unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Patienten und ihrer Angehörigen gefordert (21, 22). Monoprofessionelle versus interprofessionelle Verlaufsbeobachtung – gemeinsam sehen wir mehr Gemeinsame Behandlungszieldefinierung erfordert ein gemeinsames Sprachverständnis und ein gegenseitiges Verständnis der unterschiedlichen Aussageebenen hinsichtlich der genutzten Diagnoseinstrumente (14, 22). Eine ganzheitliche Sicht auf die Patienten ist gerade bei solch komplexen Krankheitsbildern unumgänglich. Dieser Aspekt wurde erstmals durch die WHO mit der International Classification of Functioning (ICF) aufgenommen (23). So wurde in erster Linie versucht, alle re- levanten Lebenskomponenten abzubilden, um die Patienten ganzheitlich erfassen zu können (Struktur/ Funktion, Aktivität, Partizipation, Umwelt, personenbezogene Aspekte). Das richtige Diagnoseinstrument wählen Es gibt im internationalen Raum unterschiedliche Beobachtungsinstrumente, die zur Verlaufsdiagnostik bei Menschen mit schweren Hirnverletzungen eingesetzt werden, wie beispielsweise die Glasgow Coma Scale (GCS) (24), Coma Remission Scale revised (CRS-R) (25), Whessex Head Injury Matrix (WHIM) (26), Full Outline of Unresponsiveness (FOUR). Im deutschsprachigen Raum werden von ärztlicher Seite her meist die GCS und die CRS-R (deutsche Version) genutzt. Um den Rückgewinn an Selbstständigkeit zu eruieren, werden das Functional Independent Measurement (FIM) (27), der Barthel-Index (28) beziehungsweise der Früh-Reha-Barthel-Index, nach Schönle (29), eine Ergän- 26 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 5/2021 FORTBILDUNG zung zum Barthel-Index und das Early Functional Ability Assessment (EFA) (30), das Basler Vegetative State Asessment (BAVESTA) (31, 14) und selten die Skala für expressive Kommunikation und Selbstaktualisierung (SEKS) (18) genutzt. Das BAVESTA, das EFA und die SEKS sind explizit zur Nutzung in interprofessionellen Teams entwickelt worden. Allerdings werden sowohl im EFA als auch in der SEKS die ärztlichen Instrumente und Aussageebenen nur wenig berücksichtigt. Die SEKS fokussiert stark auf den körpernahen Dialogaufbau zwischen dem Behandlungsteam und den Patienten, das EFA sehr stark auf eine pflegerisch-therapeutische Sichtweise. Das BAVESTA wurde entwickelt, um eben diese Lücke zwischen ärztlicher und pflegerisch-therapeutischer Sichtweise zu schliessen. Es beinhaltet auch die Skalen GCS und CRS-R. Die drei Gesamtscores werden im direkten Vergleich zueinander gestellt. Gerade für interprofessionelle Verlaufsbesprechungen erscheint dieser Vergleich von Relevanz. So zeigte sich in der Validierung des BAVESTA, dass es, verglichen mit der als Goldstandard geltenden GCS, im Durchschnitt 2 Wochen früher eine Veränderung angibt (31). Zudem wurden die zu beobachtenden Merkmale mit den jeweiligen ICF-Codes versehen. Das BAVESTA erweist sich im Gegensatz zum EFA als geeignet zur Unterscheidung zwischen dem SRW und dem MCS–. Des Weiteren erweist es sich als unabhängig von genutzten Therapiekonzepten. So wurde auf die Verwendung einer neutralen Sprache geachtet (31, 32). Im Vergleich dazu liegt dem EFA die Sprache des Affolter-Konzepts zugrunde (14). Das BAVESTA hat nicht den Anspruch, die gesamte Rekonvaleszenz abzubilden, sondern wurde explizit für die Remissionsstadien (SRW, MCS–, MCS+) entwickelt. Sobald andere Instrumente wie das FIM oder der Barthel-Index greifen, kann das Scoring mit dem BAVESTA beendet werden (31, 33). Entscheidend für die Auswahl von Beobachtungs- und Verlaufsinstrumenten ist die Qualität beziehungsweise die Sensitivität hinsichtlich der Köpersemantik der Patienten mit SRW. GCS, FIM, EFA und Barthel-Index erweisen sich als wenig sensitiv für die feinen Veränderungen. So weisen sie entweder Bodeneffekte in den Scores oder aber Plateaueffekte auf. Von einem Bodeneffekt wird gesprochen, wenn der Punktescore sich über längere Zeit hinweg auf dem tiefsten Niveau befindet. Das ist beispielsweise beim FIM der Fall. Ein Patient mit SRW weist in der Regel die tiefste Punktzahl auf. Beim EFA zeigen sich eher Plateaueffekte, insbesondere beim Übergang vom SWR zum MCS. Das EFA bietet zudem keinen Cut-off-Wert zur Differenzialdiagnose (32). Als weiteres Qualitätskriterium ist die der Validierung zugrunde liegende Population zu sehen. So wurde die GCS in erster Linie für den Notfallbereich zur Erstdiagnostik des Bewusstseinszustands entwickelt und validiert. Unterdessen wurde sie auch auf ihre Verwendung zur Bewusstseinseinstufung bei Menschen mit schweren Bewusstseinsstörungen untersucht. Zur Verlaufsdiagnostik wird von ärztlicher Seite her eher die CRS-R empfohlen (3, 4). Diese bildet eher das komplexe Bild von Menschen mit SRW ab als die GCS, wenn diese auch gerade im klinischen Alltag einfach anzuwenden ist (3, 4). Zur Nutzung in interprofessionellen Teams können lediglich die SEKS und das BAVESTA empfohlen werden «Menschen im Wachkoma sind nicht sterbend, nicht hirntod, nicht unheilbar krank, nicht auf Maschinen angewiesen. Menschen im Wachkoma sind Schwerstkranke und -verunfallte mit unsicherer Prognose, über die wir noch zu wenig wissen. Sie brauchen unsere Pflege und Unterstützung.» (Mark Mäder) (33). Da die SEKS auf die Kommunikation fokussiert, er- scheint für die ganzheitliche Abbildung der sehr feinen Veränderungen bei Menschen mit SRW, MCS– und MCS+ das BAVESTA derzeit im deutschsprachigen Raum das geeignetste Instrument zu sein, zumal es die ärztli- chen Instrumente integrativ beinhaltet und im direkten Vergleich stellt. Als Kritikpunkt wird die mangelnde An- wenderfreundlichkeit angegeben. Das BAVESTA liegt derzeit lediglich als Exceldokument vor. Da sich in die- sem Instrument eine Zusammenfassung der drei Scores (GCS, CRS-R, BAVESTA) befindet sowie eine Zusammen- fassung entlang der ICF-Komponenten generiert wird, inklusive einer grafischen Darstellung, bietet es eine Basis für interprofessionelle Fallbesprechungen und somit auch für Zielformulierungen. In Tabelle 2 sind die wichtigsten Charakteristika ausgewählter deutschspra- chiger Instrumente aufgezeigt. l Korrespondenzadresse: Prof. Dr. phil. Marion Huber Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW Institut für Gesundheitswissenschaften IGW Fachstelle für Interprofessionelle Lehre und Praxis IPLP Katharina-Sulzer-Platz 9 8401 Winterthur E-Mail: marion.huber@zhaw.ch Referenzen: 1. Laureys S et al.: Unresponsive wakefulness syndrome: a new name for the vegetative state or apallic syndrome. BMC Med. 2010;8(1):68. doi:10.1186/1741-7015-8-68 2. van Erp WS et al.: The vegetative state/unresponsive wakefulness syndrome: a systematic review of prevalence studies. Eur J Neurol. 2014;21(11):1361-1368. doi:10.1111/ene.12483 3. Bareham CA et al.: Longitudinal assessments highlight long-term behavioural recovery in disorders of consciousness. Brain Commun. 2019;1(1):fcz017. doi:10.1093/braincomms/fcz017 4. Bagnato S et al.: Longitudinal Assessment of Clinical Signs of Recovery in Patients with Unresponsive Wakefulness Syndrome after Traumatic or Nontraumatic Brain Injury. 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