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Biomarker bei Demenzerkrankungen
Heute im Liquor, morgen im Blut?
FORTBILDUNG
Foto: zVg
Julius Popp
Die Liquormarker Amyloid-Beta 1-42, Gesamt-Tau und hyperphosphoryliertes Tau 181 sind Bestandteil des diagnostischen Instrumentariums zur Abklärung kognitiver Störungen im Alter. Sie erlauben eine frühere Diagnose der Alzheimer-Erkrankung sowie eine präzisere Differenzialdiagnose kognitiver Störungen im Alter. Aufklärung und Beratung sind sowohl vor als auch nach der Biomarkerdiagnostik erforderlich. Die Interpretation der Befunde sollte stets die sonstigen verfügbaren Befunde einbeziehen und im individuellen Gesamtkontext der Patientinnen und Patienten erfolgen. Besonders bei atypischen oder unspezifischen klinischen Bildern, bei rascher Progredienz der Symptome und bei relativ jungen Patientinnen und Patienten können die etablierten Liquormarker wesentliche differenzialdiagnostische Hinweise liefern und damit Entscheidungen zu weiterführender Diagnostik, spezifischer Behandlung und Lebensplanung der Betroffenen erleichtern. Fortschritte der letzten Jahre lassen hoffen, dass neue molekulare Biomarker entdeckt und validiert werden, die einzeln oder in Kombination die relevanten pathologischen Prozesse besser abbilden. In naher Zukunft ist zu erwarten, dass Blutbiomarker und andere kostengünstige und leicht zugängliche Marker zur Verfügung stehen und damit zu einem Wandel hin zu einem erweiterten Einsatz von Biomarkern sowohl zur Risikobestimmung als auch zur Diagnose und Prognose von kognitiven Störungen im Alter führen werden. Das wird zudem die Entwicklung wirksamer und personalisiert anwendbarer Präventionsund Behandlungsansätze beschleunigen.
von Julius Popp1, 2
Einleitung
I n der Schweiz tritt jährlich bei über 30 000 Personen eine Demenz neu auf, jedoch wird nur in rund der Hälfte der Fälle formell eine Diagnose gestellt, meist in fortgeschrittenen Stadien einer Demenzerkrankung. Generell ist zu empfehlen, dass die Diagnose früh im Krankheitsverlauf einer Demenzerkrankung gestellt werden soll (1). Reversible Ursachen und modifizierbare Faktoren können so erkannt und gezielt behandelt werden. Bei progredienten Demenzerkrankungen können Betroffene und ihre Angehörigen beraten und in ihrer Planung hinsichtlich künftiger Wohnform, Pflege, finanzieller und rechtlicher Aspekte unterstützt werden. Planung und Anpassungen können helfen, die mit der Erkrankung einhergehenden Belastungen und sich krisenhaft zuspitzenden psychosozialen und medizinischen Situationen zu reduzieren. In höherem Alter ist die Alzheimer-Krankheit (Alzheimer’s disease, AD) in etwa 70 Prozent der Fälle die häu-
1 Klinik für Alterspsychiatrie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich und Universität Zürich 2 Service universitaire psychiatrique de l’âge avancé, Département de psychiatrie, CHUV, Lausanne et Université de Lausanne
figste Ursache von Demenzen. Die pathologischen Hirnveränderungen der AD entwickeln sich über viele Jahre bis 2 Jahrzehnte vor dem Auftreten der ersten Symptome, wobei nach und nach immer mehr Hirnregionen von Neurodegeneration und Funktionsverlust betroffen sind. In vielen Fällen gehen subjektiv erlebte der objektiven, nachweisbaren Leistungseinbussen voraus. Diese sogenannten subjektiven kognitiven Störungen (subjective cognitive decline, SCD) sind allerdings häufig im Alter und unspezifisch für die AD (2, 3). Wenn objektivierbare Symptome aufgetreten sind, diese aber den Schweregrad einer Demenz nicht erreichen, spricht man von einer leichten kognitiven Störung (mild cognitive impairment, MCI). Die leichte kognitive Störung entspricht bei der AD dem Prodromalstadium der Demenzerkrankung und dauert meist mehrere Jahre. Typischerweise gehören Störungen des Kurzzeitgedächtnisses zu den ersten kognitiven Defiziten, aber auch neuropsychiatrische Symptome wie Apathie, affektive Störungen, Reizbarkeit oder Persönlichkeitsveränderungen können in frühen klinischen Stadien auftreten (4, 5). Eine leichte kognitive Störung kann jedoch viele andere Ursachen haben und längerfristig stabil bleiben, sich rückbilden oder weiter verschlechtern. Insgesamt ist das klinische Bild besonders in den Frühstadien sehr vielfältig und unspezifisch.
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In den letzten Jahrzehnten wurden für die Diagnose der AD-Kriterien verwendet, die in erster Linie auf der klinischen und neuropsychologischen Beurteilung mit dem Nachweis einer Demenz, von Gedächtnisstörungen sowie auf dem Ausschluss einer anderen Ursache der Demenz basierten (ICD-10) (6). Diese weitgehend klinischen Kriterien haben, selbst wenn sie von Experten oder in spezialisierten Zentren angewendet werden, eine relativ geringe diagnostische Genauigkeit mit einer Spezifität von etwa 80 Prozent (7). In ungefähr 15 Prozent der Fälle ist die klinische Manifestation der AD «atypisch», das heisst, dass andere Symptome als Gedächtnisstörungen initial im Vordergrund stehen. Zudem können verschiedene psychiatrische, systemische und neurologische Störungen zu Symptomen führen, wie sie auch im Rahmen einer AD auftreten, zum Beispiel Depressionen, Psychosen, substanzgebundene Abhängigkeiten, vaskuläre kognitive Störungen, Normaldruckhydrozephalus und neurodegenerative Erkrankungen. Die geringe Spezifität dieser diagnostischen Kriterien sowie die lange Zeitspanne zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und der formalen Diagnose einer wahrscheinlichen oder möglichen AD sind wesentliche Einschränkungen für die frühe Diagnose und Differenzialdiagnose sowie für die Prognose kognitiver Störungen im Alter und damit für spezifische Empfehlungen und Behandlungsangebote.
Die neuen Diagnosekriterien der Alzheimer-Erkrankung Die Entdeckung und die Anwendung von Biomarkern der krankheitsspezifischen zerebralen Pathologien, zuerst in der Forschung, später zunehmend in klinischer Praxis, hat die Entwicklung neuer AD-Kriterien ermöglicht (8–10). Diese Kriterien räumen Biomarkern eine wichtige unterstützende Rolle in der Diagnostik ein. Im Gegensatz zu den früheren Kriterien wird damit der Nachweis der zerebralen Pathologie mit Biomarkern zur Ergänzung und Bestätigung der klinischen Diagnose eingeführt. Darüber hinaus berücksichtigen die neuen Kriterien die Tatsache, dass die Entwicklung der zerebralen Pathologie den Stadien der Demenz um viele Jahre vorausgeht und dass die Erkrankung klinisch von asymptomatischen Stadien über die leichte kognitive Störung bis zu Demenzstadien fortschreitet (11). Damit ist die formelle Diagnose oder der Ausschluss der Erkrankung früh im klinischen Krankheitsverlauf möglich, das heisst bereits im klinischen Stadium einer leichten kognitiven Störung (DSM-5, ICD-11).
Die etablierten Liquormarker neurodegenerativer Erkrankungen Zu den charakteristischen zerebralen Veränderungen der AD zählen extrazelluläre Ablagerungen von Amyloidpeptiden in Form von Plaques und die intraneuronale Anhäufung von hyperphosphoryliertem Tau-Protein (sogenannte neurofibrilläre Bündel), verbunden mit Synapsenverlust und neuronaler Degeneration. Verschiedene Methoden, die diese pathologischen Veränderungen indirekt nachweisen, stehen für die klinische Diagnostik zur Verfügung und können helfen, die Genauigkeit der ätiologischen Diagnose eines demenziellen Syndroms zu verbessern. Die strukturelle Bildgebung
kann eine regionale oder globale Hirnatrophie und vaskuläre Läsionen zeigen. Funktionelle Bildgebungsuntersuchungen des Gehirns wie FDG-PET (Fluordesoxyglukose-Positronenemissionstomografie) können einen Hypometabolismus der betroffenen Hirnregionen nachweisen (12). Amyloid- und Tau-PET zum regionalen Nachweis der jeweiligen Pathologien im Gehirn werden derzeit vor allem im Rahmen von Studien eingesetzt. Die molekularen Biomarker im Liquor cerebrospinalis, Amyloid-Beta 1-42 (Aβ1-42), Gesamt-Tau (Tau) und hyperphosphoryliertes Tau am Threonin 181 (P-tau181), reflektieren jeweils die zerebralen Amyloid-Ablagerungen, den neuronalen Zelluntergang und die neurofibrilläre Pathologie. Im Zusammenhang mit der Anhäufung dieser Proteine im Gehirn sinkt die Liquorkonzentration von Aβ1-42 um etwa 50 Prozent, während die Konzentrationen von Tau und P-tau bis zu 200 bis 300 Prozent der Normalwerte erreichen können. Es besteht eine signifikante interindividuelle Variabilität für alle drei Marker, vor allem aber für Aβ1-42. Besonders bei grenzwertigen Befunden und wenn die Ursache eines niedrigen Aβ142 unklar ist, kann als weiterer Marker der Quotient Aβ42/Aβ40 hilfreich sein, der ebenfalls die Aβ1-42Reduktion abbildet und deutlich weniger interindividuelle Variabilität aufweist. Diese Liquormarker gelten derzeit als die am besten validierten Biomarker der AD und erreichen eine sehr hohe diagnostische Genauigkeit. Liquor-Biomarkerprofile verbessern die Differenzialdiagnose bei Demenz und können Hinweise auf den Schweregrad der Erkrankung (vor allem Tau und P-tau) und auf die klinische Prognose liefern (5, 13). Die Liquormarker-Analyse ist derzeit der einzige in der Praxis verfügbare Ansatz, der gleichzeitig sowohl den Nachweis der zerebralen Amyloid-Pathologie als auch Hinweise auf neuronalen Zelluntergang und TauHyperphosphorylierung erbringen kann. Allerdings erlaubt dieser Ansatz keine Aussage über das Ausmass der Pathologie in einzelnen Gehirnregionen.
Indikationen und Durchführung der diagnostischen Lumbalpunktion zur Biomarkerbestimmung Liquormarker werden zur Unterstützung der Diagnostik in spezialisierten Zentren zur Abklärung kognitiver Störungen seit mehr als 20 Jahren verwendet. Sie sind Teil internationaler Konsensusempfehlungen und der schweizerischen Empfehlungen (14, 15). Hauptindikationen für eine Liquoruntersuchung sind: l Erstsymptomatik vor dem Erreichen des 65. Lebens-
jahrs l rasch progrediente kognitive Verschlechterung
sowie bei atypischen Verlaufsformen l bei Verdacht auf Frühstadium einer AD (einschliess-
lich der leichten kognitiven Störung) nach spezifisch diskutierter klinischer Indikation l Ausschluss von chronisch entzündlichen ZNS-Erkrankungen l Entlastungspunktion bei Verdacht auf Normaldruckhydrozephalus. Die Indikation für die Lumalpunktion zur Biomarkerbestimmung ist grundsätzlich nach sorgfältiger Chancen-Risiko-Abwägung zu treffen. Zu berücksichtigen sind dafür neben den medizinisch-biologischen auch
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die biografischen, psychologischen und lebenspraktischen Aspekte sowie die individuellen Präferenzen der Betroffenen. Eine adäquate Aufklärung des Patienten und der Angehörigen über Risiken und den erwarteten Nutzen dieser Untersuchung sowie über mögliche Alternativen ist erforderlich. Die diagnostische Lumbalpunktion kann im ambulanten Setting routinemässig durchgeführt werden, ist bei Beachtung von Kontraindikationen risikoarm und wird von den Patientinnen und Patienten meist gut vertragen (16–18).
Interpretation und Befundmitteilung Die Interpretation von Biomarkerbefunden sollte stets die Ergebnisse der anderen diagnostischen Schritte wie der Anamnese, der klinischen Untersuchung, der neuropsychologischen Diagnostik und der Bildgebung berücksichtigen. Biomarker können die diagnostische Sicherheit zwar deutlich erhöhen (19), falsch positive oder falsch negative Ergebnisse bleiben jedoch weiterhin möglich. Die Mitteilung der Ergebnisse und der weiteren Empfehlungen sollte im Zusammenhang erklärt und den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Betroffenen angepasst werden. Das weitere Vorgehen und allfällige Folgetermine sollten dabei ebenfalls vereinbart werden (15).
Neue Liquormarker-Kandidaten und Plasmamarker Obwohl die Liquormarker Aβ1-42, Tau und P-tau181 sowie Aβ1-42/Aβ1-40 als weitgehend etabliert gelten und Bestandteil der Diagnostik in spezialisierten Zentren in Europa und vielen Ländern weltweit sind, werden sie in der Schweiz in der Mehrheit der Fälle in der diagnostischen Abklärung nicht eingesetzt. Wesentliche Gründe sind, dass die Lumbalpunktion als invasiv angesehen wird, die Ausführung einiger Übung bedarf und sie im Gegensatz zur Blutabnahme nur ärztlich durchgeführt wird. FDG-PET und Amyloid-PET sind zwar gut etablierte Zusatzuntersuchungen, die alternativ oder komplementär zu den Liquormarkern verwendet werden können (12), ihr Einsatz ist jedoch durch die eingeschränkte Verfügbarkeit nuklearmedizinischer Untersuchungen und die hohen Kosten limitiert. Ein weiterer Grund ist, dass noch keine Behandlung verfügbar ist, die die Progredienz der AD dauerhaft aufhält, und dass deshalb im Falle einer AD-Diagnose derzeit keine kurativen Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden können. In den letzten Jahren wurden jedoch beachtliche Fortschritte gemacht, sowohl was die Biomarkerdiagnostik als auch was die Präventions- und Behandlungsansätze betrifft. Eine Vielzahl neuer molekularer BiomarkerKandidaten wird derzeit untersucht (13). Diese Marker sollten möglichst die etablierten Biomarker ergänzen, indem sie zusätzliche pathologische Prozesse abbilden und damit genauere diagnostische und prognostische Aussagen erlauben. Neurofilament-Leichtketten (neurofilament light chain, NfL) gelten als einer der am besten untersuchten neuen Liquormarker. NfL werden vor allem bei axonaler Schädigung unabhängig von der Ursache aus den Neuronen freigesetzt und sind mit Ausprägung und Progredienz der Symptome bei verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen assoziiert (20, 21). Aufgrund der fehlen-
den Krankheitsspezifizität sind NfL wenig für die Differenzialdiagnose geeignet. Da der Liquormarker aber auch im Blut gemessen werden kann, könnte er eingesetzt werden, um die Schwere der neuronalen Schädigung und die Veränderungen neurodegenerativer Prozesse über die Zeit abzubilden und die Wirkung von Interventionen zu monitorisieren (22). Als spezifischer Biomarker der Tau-Pathologie bei AD wurde vor allem die Liquorkonzentration von P-tau181 etabliert. Hyperphosphorylierungen finden sich auch an verschiedenen weiteren Stellen des Tau-Proteins bei AD. Entsprechend wurden weitere hyperphosphorylierte Tau-Formen als spezifische Marker der AD vorgeschlagen, darunter P-tau231 und P-tau217. In den letzten Jahren wurden bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung neuer Technologien und der Validierung von Biomarkern aus dem Blutplasma gemacht. Plasma Aβ42/40 ist beim Vorhandensein einer zerebralen Amyloid-Pathologie erniedrigt, allerdings relativ geringgradig. Damit ist die diagnostische Wertigkeit mit den gegenwärtig verfügbaren Bestimmungsmethoden im Blut eingeschränkt. Gegebenenfalls können andere Plasmamarker wie zum Beispiel «glial fibrillary acidic protein» (GFAP) (23) oder P-tau217 (24) das Vorhandensein zerebraler Amyloid-Pathologie genauer anzeigen. Im Plasma gemessene P-tau181, P-tau217 und P-tau231 zeigten in kürzlich publizierten Studien enge Assoziationen mit zerebralen Tau- und Amyloid-Pathologien. Diese Marker konnten gut AD von anderen neurodegenerativen Erkrankungen unterscheiden (21, 25). Besonders bei Patienten mit leichter kognitiver Störung könnten P-tau181 und P-tau217 allein oder in Kombination mit in klinischer Praxis leicht verfügbaren Parametern wie Alter und kognitiven Tests helfen, das Vorhandensein der zerebralen AD-Pathologie zu identifizieren und eine kognitive Verschlechterung mit hoher Genauigkeit vorherzusagen (19, 26). Zudem gibt es Hinweise dafür, dass die einzelnen Plasmamarker je nach Stadium der AD oder in Abhängigkeit vom Schweregrad der kognitiven Beeinträchtigung unterschiedlich gut die Entwicklung der zerebralen Pathologie abbilden und damit komplementär eingesetzt werden könnten. Auch bei asymptomatischen älteren Menschen sagten Plasmabiomarker in neuen Studien die Zunahme zerebraler Pathologien und die kognitive Verschlechterung vorher. Die Genauigkeit der Plasmamarker war in diesen Studien ähnlich gut wie jene der entsprechenden Liquormarker (27, 28). Einige Studien konnten zeigen, dass einzelne Plasmabiomarker der Alzheimer-Kernpathologie (Amyloid, Tau und neuronaler Zellschaden, ATN) in Kombination die beste Prädiktion einer kognitiven Verschlechterung ermöglichten (27). Ein weiterer Ansatz der Biomarkerforschung ist die simultane Untersuchung Hunderter bis Tausender molekularer Konzentrationsveränderungen im Liquor, im Blut oder in anderen Flüssigkeiten, um dabei neue Biomarker-Kandidaten zu entdecken (26, 29, 30). Über die Kernpathologie der AD hinaus könnten diese Biomarker in Kombination die individuelle Heterogenität pathologischer Prozesse künftig besser abbilden. Damit würden diese Kombinationen genauere Diagnosen, Prognosen und ein genaueres Monitoring erlauben und, darauf basierend, eine personalisierte Be-
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handlung und Beratung der Patientinnen und Patienten ermöglichen. Bevor die verschiedenen Biomarker-Kandidaten in der Diagnostik verwendet werden können, müssen sie jedoch zunächst in weiteren Studien und in verschiedenen Patientengruppen validiert werden. Für eine breite Implementierung und Verfügbarkeit werden ausserdem die Bestimmungsmethoden vereinfacht, der präanalytische Umgang mit den Proben standardisiert und Referenzbereiche definiert.
Individuelle Risikobestimmung, Prävention und frühe Intervention Derzeit kann eine Biomarker-Diagnostik beim Fehlen von Symptomen oder von objektiv in neuropsychologischen Tests nachweisbaren kognitiven Leistungseinbussen nicht generell empfohlen werden. Wesentliche Gründe dafür sind, dass der Nachweis zerebraler Pathologie mittels Biomarker noch keine genaue Prädiktion zum Zeitpunkt des Auftretens kognitiver Störungen erlaubt oder diese Biomarker bei asymptomatischen Personen noch nicht ausreichend validiert sind. Das gilt besonders in höherem Alter, wenn verschiedene zerebrale Pathologien häufig sind und gleichzeitig vorliegen können, ohne dass diese Pathologien jemals klinisch manifest und behandlungsbedürftig werden (9). Bei jüngeren Personen, insbesondere wenn subjektive kognitive Störungen vorliegen und die Betroffenen eine präzisere Diagnose und Prognose wünschen, können diese Biomarker im Einzelfall helfen, das Risiko einer kognitiven Verschlechterung besser einzuschätzen (31). Das kann eine entsprechend präzisere Beratung ermöglichen und Entscheidungen hinsichtlich einer weiteren gezielten Diagnostik und der angemessenen Frequenz und Art von Nachuntersuchungen erleichtern. Darüber hinaus könnten künftig Menschen mit hohem Risiko für eine kognitive Verschlechterung besonders von Präventionsprogrammen profitieren, die möglichst personalisiert, das heisst dem individuellen Risikoprofil angepasst sein sollten (32). Es ist zu erwarten, dass Blutmarker und andere nicht invasive und kostengünstige Biomarker validiert und in wenigen Jahren für eine breite Anwendung verfügbar sein werden. Diese werden nicht nur die Erforschung neuer präventiver und therapeutischer Ansätze in sehr frühen Stadien von Demenzerkrankungen erleichtern, sondern auch erhebliche Veränderungen bei der individuellen Risikobestimmung, der Prävention und der Früherkennung kognitiver Störungen in der älteren Bevölkerung einleiten. Einzelnen Studien konnten bereits zeigen, dass Algorithmen, die Plasma-Biomarker einbeziehen, eine sehr gute Präzision bei der Vorhersage der kognitiven Verschlechterung oder der Demenz erreichen (19). Mit erleichterter Verfügbarkeit und verbesserter diagnostischer und prognostischer Wertigkeit der Biomarker sollten die Indikationsstellung, die Interpretation der Ergebnisse und die darauf basierenden Empfehlungen auch in Zukunft durch Experten und im individuellen Gesamtkontext der Betroffenen erfolgen.
Zusammenfassung Die etablierten Liquormarker sind Bestandteil des diagnostischen Instrumentariums und erlauben eine frühere Diagnose der AD sowie eine präzisere Differenzial-
Merkpunkte:
● Liquormarker der Alzheimer-Kernpathologie sind etablierter Bestandteil des diagnostischen Instrumentariums der Memory Clinics in der Schweiz.
● Liquormarker erlauben präzisere und frühere Diagnosen und Prognosen bei kognitiven Störungen im Alter.
● Indikationsstellung, Auswertung und Beratung sollten stets den individuellen Kontext, sonstige Befunde und die Präferenzen der Patientinnen und Patienten berücksichtigen.
● Blutbiomarker könnten in wenigen Jahren für einen wesentlich erweiterten Einsatz zur Verfügung stehen.
Schlüsselwörter: kognitive Störungen, Diagnostik, Biomarker, Liquor cerebrospinalis, Memory Clinics, Alzheimer-Krankheit, Blutbiomarker
diagnose kognitiver Störungen im Alter. Besonders bei
atypischen oder unspezifischen klinischen Bildern, bei
rascher Progredienz der Symptome und bei relativ jun-
gen Patientinnen und Patienten können die etablierten
Liquormarker wesentliche differenzialdiagnostische
Hinweise liefern und damit Entscheidungen zu weiter-
führender Diagnostik, spezifischer Behandlung und Le-
bensplanung der Betroffenen erleichtern. Fortschritte
der letzten Jahre lassen hoffen, dass neue molekulare
Biomarker entdeckt und validiert werden, die einzeln
oder in Kombination die relevanten pathologischen
Prozesse besser abbilden. In naher Zukunft ist zu erwar-
ten, dass Blutbiomarker und andere kostengünstige
und leicht zugängliche Marker zur Verfügung stehen
und damit zu einem deutlich erweiterten Einsatz von
Biomarkern sowohl zur Risikobestimmung als auch zur
Diagnose und Prognose von kognitiven Störungen füh-
ren werden. Das wird zudem die Entwicklung wirksamer
und personalisiert anwendbarer Präventions- und Be-
handlungsansätze beschleunigen.
l
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Julius D. Popp Stv. Chefarzt und Leiter Zentrum für Alterspsychiatrische Versorgung Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstrasse 31 8032 Zürich
E-Mail: julius.popp@pukzh.ch
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