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CGRP: «Weniger Nebenwirkungen als in der Behandlung mit Plazebo»
FORTBILDUNG
PD Dr. med. Andreas Gantenbein ist Chefarzt Neurologie bei RehaClinic Region Aargau und Präsident der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft. Im Interview gibt er Auskunft über seine Erfahrungen mit den neuen CGRP-Antikörpern.
Wie suchen Sie die Patienten für die Behandlung mit den neuen CGRP-Antikörpern aus? PD Dr. Andreas Gantenbein: In der Schweiz ist die Indikation aufgrund der hohen Kosten stark eingeschränkt. Die Betroffenen müssen mindestens acht Migränetage pro Monat haben, und das, ohne auf andere prophylaktische Medikamente anzusprechen. Eine weitere Voraussetzung ist zudem, dass die Migräne mindestens seit einem Jahr besteht und diese über drei Monate in einem Kopfschmerztagebuch dokumentiert wurde.
Was ist das Ziel der Behandlung? Gantenbein: Die neuen CGRP-Antikörper sind wirksam. Mehrere Studien haben das belegt und auch gezeigt, dass diese gut verträglich sind (1–5). Grundsätzlich sind sie bei allen Migränepatienten anwendbar, wobei uns Daten aus Langzeitbehandlungen, d. h. über fünf Jahre, fehlen. Primäres Ziel ist eine Reduktion der Migräne um 50 Prozent nach sechs Monaten. Wird dieses Ziel erreicht, übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Leider werden relevante Kriterien wie Stärke, Dauer und Akutmedikation nicht berücksichtigt, was bei der Migräne und hinsichtlich Lebensqualität genauso wichtig ist.
Wer profitiert nicht von den Migräneprophylaktika? Gantenbein: Sowohl Studien als auch die Praxis zeigen, dass 20 bis 30 Prozent der Migränepatienten nicht ausreichend darauf ansprechen. Wir wissen nicht, warum. Einerseits erscheint mir wichtig, dass die Migräne behandelt wird und nicht andere Kopfschmerzarten. Andererseits sprechen Menschen wahrscheinlich auch unterschiedlich auf die verschiedenen Biologika an. Vielleicht aufgrund der Genetik, aber das wissen wir noch nicht. In anderen Ländern kann unter den drei bisher zugelassenen Substanzen gewechselt werden. In der Schweiz ist das leider nicht möglich. Es könnte also sein,
Andreas Gantenbein
dass ein Patient auf ein Präparat anspricht, aber auf das andere nicht. Wir kennen das auch aus der Behandlung der rheumatoiden Arthritis oder der Multiplen Sklerose.
Wie sieht es mit den Nebenwirkungen und insbesondere auch mit den Langzeitnebenwirkungen aus, und sind CGRP-Rezeptor-Antagonisten wirksamer als andere traditionelle Migräneprophylaktika? Gantenbein: Verträglichkeit und Sicherheit sind in den Studien sehr gut. Wir beobachteten sogar mehr Nebenwirkungen in der Plazebo- als in der Verumgruppe. Dadurch ist die Compliance sehr gut, und die Drop-outRaten waren in den Studien gering. Beim Darm beobachteten wir beispielsweise, dass eine Obstipation etwas häufiger vorkommt, aber wahrscheinlich auch nicht viel häufiger als generell bei Migräne oder in der Allgemeinbevölkerung. Bei der Lunge haben wir bisher keine Hinweise auf negative Nebenwirkungen. In Bezug auf die Hypertonie lagen bislang nur ungünstige Zusammenhänge aus Tierversuchen vor. Kürzlich wurden in der US-amerikanischen Fachinfo zu Aimovig® aber erstmals Warnungen zur Hypertonie aufgenommen. Dort heisst es, dass bei
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
behandelten Patienten mit einer neu auftretenden Hypertonie oder bei einer Verschlechterung der Hypertonie ein Absetzen überdacht werden muss, wenn keine andere Ursache für die Hypertonie gefunden werden kann. In den meisten Fällen trat die Hypertonie innerhalb der ersten sieben Tage nach Behandlung auf (7). Insgesamt konnten wir aber noch nicht genügend Erfahrung sammeln. Deshalb werden Register geführt und bei neuen Medikamenten natürlich auch Ereignisse im Pharmakovigilanz-System erfasst. Wichtig und interessant wären Head-to-Head-Vergleiche der drei Antikörper, aber die gibt es noch nicht.
Inwiefern unterscheiden sich die zugelassenen CGRPAntagonisten? Gantenbein: Wir haben, wie bereits erwähnt, keine Head-to-Head-Vergleiche. Allgemein erscheint die Wirksamkeit vergleichbar, auch die Verträglichkeit und die Sicherheit. Unterschiede zeigen sich aber in der Applikationsart, und das macht es für die Patienten allenfalls interessant. Erenumab wird mit einer Dosis von 70 mg gestartet und kann dann auf 140 mg erhöht werden. Bei Galcanezumab gibt es eine doppelte Loading-Dosis, danach eine monatliche Einfachdosis. Fremanezumab kann monatlich und dreimonatlich verabreicht werden. Das heisst, bei der Applikation alle drei Monate werden drei Spritzen gegeben. Auch bei der hohen Dosierung hat es wenig Nebenwirkungen. Ich denke, diese feinen Unterschiede können in der aktuellen Situation die Entscheidung für einen der Antikörper im Gespräch mit dem Patienten beeinflussen.
Was zeigt sich in Bezug auf die Wirksamkeit? Gantenbein: Ich habe bislang rund 50 Patienten mit den Antikörpern behandelt. Nach sechs Monaten sprechen rund drei Viertel der Patienten ausreichend auf die Behandlung an. Ein Drittel davon sehr gut.
Diskutiert wird der hohe Preis. Ist diese Therapie gerecht-
fertigt?
Gantenbein: Das gute Ansprechen der Patienten ist
sehr erfreulich. Es gibt den Betroffenen ein Gefühl der
Freiheit zurück und der Kontrolle über das eigene
Leben. Ich denke, die Kosten sind dann gerechtfertigt,
da viele Migränepatienten auch wieder voll arbeiten
können. Aufgrund der Kontrollmechanismen und Über-
prüfung der Qualität sind diese Antikörper aber schwe-
ren Migränefällen vorbehalten. Die Verordnung liegt
beim Neurologen und/oder beim Kopfschmerzspezia-
listen. Ich denke, das unterstützt eine anhaltend gute
Selektion der Patienten.
G
Korrespondenzadresse:
PD Dr. med. Andreas R. Gantenbein
Chefarzt Neurologie
Präsident Schweizerische Kopfwehgesellschaft
RehaClinic Bad Zurzach
Quellenstrasse 34
5330 Bad Zurzach
E-Mail: a.gantenbein@rehaclinic.ch
Referenzen: 1. Goadsby PJ, Reuter U, Hallström Y, Broessner G, Bonner JH, Zhang F
et al.: A Controlled Trial of Erenumab for Episodic Migraine. N Engl J Med. 2017; 377(22): 2123–2132. 2. Dodick DW, Silberstein SD, Bigal ME, Yeung PP, Goadsby PJ, Blankenbiller T et al.: Effect of Fremanezumab Compared With Placebo for Prevention of Episodic Migraine: A Randomized Clinical Trial. JAMA. 2018; 319(19): 1999–2008. 3. Skljarevski V, Matharu M, Millen BA, Ossipov MH, Kim BK, Yang JY: Efficacy and safety of galcanezumab for the prevention of episodic migraine: Results of the EVOLVE-2 Phase 3 randomized controlled clinical trial. Cephalalgia. 2018; 38(8): 1442–1454. 4. Dodick D et al.: Safety and efficacy of ALD403, an antibody to calcitonin gene-related peptide, for the prevention of frequent episodic migraine: a randomised, double-blind, placebo-controlled, exploratory phase 2 trial. Lancet Neurology. 2014; 13: 1100–1107. 5. Brandes JL, Saper JR, Diamond M, Couch JR, Lewis DW, Schmitt J et al.: MIGR-002 Study Group. Topiramate for migraine prevention: a randomized controlled trial. JAMA. 2004; 291(8): 965–973. 6. www.compendium.ch 7. https://www.pi.amgen.com/~/media/amgen/repositorysites/piamgen-com/aimovig/aimovig_pi_hcp_english.ashx (letzter Zugriff am 7.5.2020).
Kasten:
CGRP-Rezeptor-Antagonisten
Die Blockade des Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) ist eine spezifische Therapie in der Behandlung der episodischen, aber auch der chronischen Migräne. CGRP besteht aus 37 Aminosäuren und kommt in einer α- und β-Unterform vor. CGRP wird sowohl in zentralen als auch peripheren Neuronen gebildet und gilt als einer der stärksten Vasodilatatoren. Monoklonale Antikörper nutzen das CGRPSystem als Mechanismus und beugen Migräneanfällen spezifisch vor. Vier Substanzen wurden untersucht, wobei drei an den Liganden CGRP binden (Eptinezumab, Fremanezumab, Galcanezumab) und eine an den CGRP-Rezeptor (Erenumab). Eptinezumab befindet sich noch in der Entwicklungsphase und ist in der Schweiz nicht zugelassen. Es wird in Studien intravenös verabreicht. Fremanezumab (Ajovy®): Die Fertigspiritze wird monatlich (225 mg) oder alle drei Monate (675 mg) subkutan appliziert (6). Galcanezumab (Emgality®): Die empfohlene Dosis beträgt 120 mg als subkutane Injektion einmal monatlich. Zu Beginn der Behandlung ist eine einmalige Anfangsdosis von 240 mg (2 Injektionen) zu verabreichen (6). Erenumab (Aimovig®): Empfohlen wird eine Dosis von 70 mg als subkutane Injektion einmal monatlich. Bei Patienten, die auf diese Dosierung eine ungenügende Wirkung zeigen, kann die Dosierung auf 140 mg einmal monatlich gesteigert werden, solange dadurch eine bessere Wirkung nachweisbar ist (6).
Sehr geehrter Herr PD Dr. med. Andreas Gantenbein, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das telefonische Interview führte Annegret Czernotta.
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