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FORTBILDUNG
Opportunistische Infektionen und andere seltene Nebenwirkungen im Rahmen einer immunmodulierenden Therapie bei Multipler Sklerose
Die Therapie der Multiplen Sklerose (MS) hat sich in den letzten zwei Dekaden grundsätzlich mit der steigenden Verfügbarkeit hochwirksamer Therapieoptionen verändert. Damit einhergehend wandelte sich auch das Spektrum potenzieller therapieassoziierter Nebenwirkungen. Einerseits bestehen substanzspezifische Nebenwirkungen, andererseits muss bei zunehmenden immunsuppressiven Effekten prinzipiell auch mit einer Zunahme opportunistischer Infektionen oder maligner Erkrankungen gerechnet werden. Im Folgenden werden aktuell diskutierte, seltene Nebenwirkungen im Rahmen einer immunmodulierenden Therapie der Multiplen Sklerose zusammengefasst. Der Fokus liegt hierbei auf schwerwiegenden Ereignissen und solchen, die durch geeignete TherapiemonitoringMechanismen vorzeitig erkannt, therapiert und bestenfalls verhindert werden können.
Tim Sinnecker
von Tim Sinnecker1, 2, 3
Progrediente multifokale Leukenzephalopathie
D ie progrediente multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine opportunistische Infektion des Gehirns, die durch das Polyomavirus John Cunningham (JC, benannt nach dem ersten Betroffenen mit Virusnachweis) ausgelöst wird (1). Die PML zählt zu den «acquired immune deficiency syndrome»-(AIDS-)definierenden Erkrankungen und fiel zunächst bei behandelten Onkologiepatienten mit Immunsuppression sowie bei HIV-Infizierten auf – beides Erkrankungsspektren mit schwerwiegendem bis letalem Verlauf, sollte die Immunkompetenz nicht restituiert werden. Zunehmend ist die PML auch bei immunmoduliert-behandelten Patienten zu beobachten. Der Verlauf einer PML kann sich in diesem Falle bildgebend und klinisch von z. B. demjenigen einer HIV-assoziierten PML unterscheiden, da Ausmass und Dynamik der Immunrekonstitution anders sind (2). Die Therapie mit Natalizumab stellt im Kontext der MS den grössten Risikofaktor für das Auftreten einer PML dar (3). Post-Marketing-Erhebungen zeigen, dass etwa 4,2 von 1000 MS-Patienten unter einer Therapie mit Natalizumab eine PML entwickelt haben (4). Bei Patienten mit > 18-monatiger Therapie und einem JCVAntikörper-Index > 1,5 kann das Risiko auf bis zu 1: 113 steigen (5).
1 Neurologic Clinic and Policlinic, Departments of Medicine, University Hospital Basel and University of Basel, Basel, Switzerland 2 qbig, Department of Medicine and Biomedical Engineering, University Hospital Basel and University of Basel, Basel, Switzerland 3 Medical Image Analysis Center Basel AG, Basel, Switzerland
Unter einer Therapie mit Fingolimod wurde eine Fallserie mit 15 PML-Fällen im Jahr 2018 ohne kürzlich zurückliegende Natalizumabtherapie publiziert (6). Unter einer Therapie mit Dimethylfumarat wurde eine Fallserie mit 19 PML-Fällen, darunter 5 MS-Patienten (1 Patient mit Natalizumabvortherapie), im Jahr 2017 veröffentlicht (7). Für beide Therapien wird anhand der aktuellen Daten ein sehr geringes PML-Risiko von kleiner als 1: 10 000 vermutet (8). Darüber hinaus sind wenige Einzelfallberichte einer PML unter einer Therapie mit Alemtuzumab, Rituximab und Leflunomid bei Nicht-MSPatienten bekannt (8). In der Folge wurden vor allem in Bezug auf eine Therapie mit Natalizumab Methoden zur Risikostratifizierung sowie MRI-(Magnetresonanz-Imaging-)basierten Früherkennung entwickelt (5). Es ist anzumerken, dass diese Strategien aufgrund der geringen Inzidenz auf retrospektive (Register-)Daten gründen und bis jetzt nicht prospektiv validiert sind (9).
PML früh detektieren Zahlreiche Überlegungen sprechen jedoch dafür, die PML möglichst frühzeitig zu detektieren: Zunächst scheint eine Früherkennung von asymptomatischen PML-Läsionen mit einem günstigeren klinischen Outcome und einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit einherzugehen (10). Ferner deuten Einzelfallberichte sowie retrospektive Daten darauf hin, dass häufig ein Zeitfenster von etwa 3 bis 4 Monaten besteht, bis eine PML-Läsion symptomatisch wird (10). Die MRI-basierte Früherkennung zielt somit darauf ab, eine PML innerhalb dieses Zeitintervalls im präsymptomatischen Stadium zu detektieren. Dabei macht man sich die hohe Sensitivität des MRI gegenüber einer PML zunutze (11). Im Gegensatz zum MRI ist die Sensitivität der Liquoranalyse von der Grösse der PML-Läsion abhängig (12).
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Demzufolge ist von einer PML-Dunkelziffer aus liquornegativen, klinisch-asymptomatischen PML-Läsionen, welche nur auf MRI-Aufnahmen darstellbar sind, auszugehen.
Empfehlungen von Regulierungsbehörden Entsprechend den aktuellen Empfehlungen von Biogen Switzerland AG in Absprache mit Swissmedic sowie den Empfehlungen der European Medicines Agency (EMA) sollte bei Patienten mit hohem PML-Risiko unter Therapie mit Natalizumab das MRI-Kontrollintervall 3 bis 6 Monate betragen und zumindest eine FLAIRSequenz, eine T2-gewichtete Sequenz und eine diffusionsgewichtete Sequenz enthalten (13). Das Protokoll sollte im Falle eines akuten PML-Verdachts um eine kontrastmittelgestützte T1-gewichtete Sequenz erweitert werden (13). Darüber hinaus bestehen Empfehlungen der MAGNIMSStudiengruppe (14) sowie einer irisch-britischen Expertengruppe (5), welche ein Kontrollintervall von 3 bis 4 Monaten bei hohem und ein Intervall von 12 Monaten bei geringem PML-Risiko vorschlagen. Im Allgemeinen sollte eine Carry-Over-PML beim Wechsel von Natalizumab auf eine andere Therapie durch ein MRI zum Zeitpunkt des Therapiewechsels sowie durch weitere regelmässige MRI-Verlaufskontrollen für bis zu 12 Monate ausgeschlossen werden (14).
Diagnose der PML Im Allgemeinen basiert die PML-Diagnose neben klinischen Charakteristika (neue fokal-neurologische Defizite, häufig mit Symptomen einer Enzephalopathie einhergehend) auf dem laborchemischen Nachweis von JC-Virus mittels PCR (Polymerase-Kettenreaktion) im Liquor durch ein geeignetes Referenzlabor (15). Es bestehen in Abhängigkeit von der angewandten Methode zum Teil erhebliche Unterschiede in der Sensitivität der PCR-Analyse. Selbst bei den hoch sensitiven PCR-Verfahren sind liquornegative Befunde beschrieben, bei welchen der definitive Virusnachweis erst im Verlauf oder durch Biopsie gelang (15–17). MR-morphologisch präsentiert sich die PML-Läsion meist als unscharf gegenüber der weissen Hirnsubstanz abgegrenzt und flau-hyperintens auf T2-gewichteten Aufnahmen (18). Auch wenn eine PML-Läsion prinzipiell als singuläre Läsion infratentoriell in den Basalganglien oder im Marklager auftreten kann, besteht meist eine frontoparietale Lokalisation mit Einbezug der UFasern, wodurch der Eindruck einer scharfen Abgrenzung gegenüber dem Kortex entsteht (wenngleich es sich bei der PML durchaus auch um eine kortikale Erkrankung handelt). Eine 3-D-T2-gewichtete FLAIR- oder axiale T2-gewichtete FLAIR- sowie diffusionsgewichtete Sequenzen mit mindestens 3 mm Schichtdicke sind am sensitivsten, um diese flammenartig konfigurierten oder punktförmigen Läsionen frühzeitig zu detektieren. Letztere sind zudem hoch-spezifisch für eine PML (18, 19). Diffusionsgewichtete Sequenzen zeigen bereits frühzeitig ein hyperintenses Signal, welches mit der Aktivität der PML korrelierte und durch anschwellende und untergehende Oligodendrozyten erklärt wird. Es findet sich ein ringförmig hyperintenses DWI-Signal (DWI = diffusion weighted imaging, diffusionsgewichtete Bil-
der) am Rande expandierender PML-Läsionen und ggf. ein hypointenses DWI-Signal im Zentrum der PML-Läsion als Ausdruck der Destruktion. Zusätzlich können T2-gewichtete Sequenzen mikrozystische Anteile innerhalb der Läsion aufzeigen. Die raumfordernde Wirkung ist jedoch im Verhältnis zur Läsionsausdehnung gering, Hämorrhagien treten nur vereinzelt auf (18). 30 bis 50 Prozent der mit Natalizumab assoziierten PMLLäsionen weisen im Gegensatz zur typischerweise nicht kontrastmittelaufnehmenden HIV-assoziierten PML-Läsion bereits bei Erstdiagnose eine häufig irreguläre bzw. unregelmässige, zum Teil fleckförmige Kontrastmittelaufnahme am Rande der Läsion auf (20). Diese Befunde werden meist im Sinne eines Immunrekonstitutionssyndroms (IRIS) interpretiert. Die für eine PML hoch spezifischen (21) und zumeist zahlreichen punktförmig kontrastmittelaufnehmenden Läsionen sind in ihrem Ursprung noch unvollständig verstanden. Diskutiert werden neben einem IRIS (22) auch eine frühe Immunreaktion im perivaskulären Raum oder eine aktive Virusreplikation (23–25).
Therapie und Prognose der PML Es gibt keine etablierte PML-spezifische Therapie mit nachgewiesener Wirksamkeit (26). Bis anhin basieren therapeutische Empfehlungen zur PML auf Einzelfallberichten oder kleineren Fallserien. Daten aus randomisierten, kontrollierten Studien sind nicht vorhanden. Zur Wiederherstellung einer adäquaten Immunantwort wird die auslösende immunmodulierende Therapie abgesetzt. Es hat sich als schwierig erwiesen, die hierdurch ggf. induzierten, überschiessenden Immunantworten (IRIS) gut balanciert zu therapieren. Im Falle einer zu aggressiven Therapie eines vermuteten IRIS kann sich die PML rasch ausbreiten, im Falle einer zu milden oder zögerlichen Therapie kann die überschiessende Immunantwort (IRIS) hingegen destruktiv wirken. Leider zeigt der histopathologische Vergleich, dass das MRI nur sehr bedingt geeignet ist, um zwischen aktiver PML und/ oder IRIS zu differenzieren (27). Bei Patienten unter Therapie mit Natalizumab wird oft eine Immunadsorption oder eine Plasmapherese angewendet (28). Eine abschliessende Empfehlung hierzu gibt es bisher nicht, da auch Fälle klinischer Verschlechterung infolge eines IRIS unter Plasmapherese bekannt sind (20). Es wurden meist auf der Basis von in-vitro-Beobachtungen zahlreiche direkt antiviral wirkende Therapieansätze diskutiert (29). Eine klinische Wirksamkeit konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Unter den getesteten Substanzen finden sich für andere Indikationen zugelassene Medikamente wie Mirtazapin (30) (5HT2aRezeptor als möglicher JCV-Infektionsweg) oder Mefloquin (31). Die Prognose der mit Natalizumab assoziierten PML ist im Vergleich zur HIV-assoziierten PML günstiger, wobei das Spektrum der klinischen Behinderung bei den Überlebenden von geringfügig bis schwerwiegend reichen kann (2). Ob die Prognose einer PML, wenn diese unter anderen immunmodulierenden MS-Therapeutika auftritt, hiervon abweicht, müssen zukünftige Verlaufsbeobachtungen zeigen (6, 32).
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Reaktivierung oder Neuinfektion anderer Infektionskrankheiten Zahlreiche MS-Therapeutika sind vorwiegend mit einem erhöhten Risiko für meist leicht bzw. unkritisch verlaufende Infektionskrankheiten wie Atem- oder Harnwegsinfekte assoziiert. Dennoch sind neben der PML in Einzelfällen auch andere schwerwiegende bis letale Infektionskrankheiten unter der Anwendung von immunmodulierenden MS-Therapien beschrieben worden (33). Im Folgenden kann hierzu nur ein Überblick gegeben werden. In jedem Fall müssen die für das jeweilige Medikament vorgegebenen Screening- und ggf. Prophylaxemethoden vor bzw. unter Therapie beachtet werden. Im Zweifel sollte eine infektiologische Rücksprache erfolgen. Eine (latente) Tuberkulose kann vor allem bei Therapien, welche die zelluläre Immunantwort beeinflussen, aktiviert werden. Gezielt und allein B-Zell-depletierende Therapien scheinen eher weniger kritisch zu sein (33). Im Gegensatz hierzu sind Fälle einer Tuberkulosereaktivierung bzw. -infektion unter Alemtuzumab und Teriflunomid beschrieben (34, 35). Bezüglich der Reaktivierung einer Hepatitis-B-Infektion bergen B-Zell-depletierende Therapien (36), einschliesslich Alemtuzumab, das höchste Risiko unter den verfügbaren MS-Therapeutika. Die Therapie mit Alemtuzumab birgt neben Einzelfällen einer Pneumocystispneumonie oder einer Listerienmeningitis ein relevantes Risiko für eine Herpes-simplex-Infektion (34). Auch unter einer Therapie mit Fingolimod sind vereinzelt schwere Herpesvirusinfektionen (37) einschliesslich Herpes zoster sowie einer Herpessimplex-Enzephalitis, zum Teil in Zusammenhang mit der Gabe von Kortikosteroiden, bekannt. Ebenfalls wurden Einzelfälle von Cryptococcus-Infektionen einschliesslich einer Cryptococcus-Meningitis sowie einer zerebralen Toxoplasmose unter Fingolimod beschrieben (33). Vermehrte Fälle von Herpes zoster wurden auch im Kontext von Cladribin beschrieben (38, 39). Zu der möglichen Auswirkung von verschiedenen Kombinationen von immunmodulierenden MS-Therapien auf die Infektanfälligkeit liegen bisher nur unzureichende Daten vor. Insbesondere die systematische und langfristige Beobachtung innerhalb von Kohortenstudien hat das Potenzial, diesbezüglich neue Erkenntnisse zu generieren.
Nicht infektiöse/potenziell schwerwiegende Nebenwirkungen Der folgende Absatz umfasst eine Auswahl aktuell diskutierter Nebenwirkungen immunmodulierender Therapien. Für eine umfassende Information auch zu anderen Präparaten empfiehlt es sich, den aktuellen Veröffentlichungen von Swissmedic Beachtung zu schenken. Fingolimod zeichnet sich durch ein insgesamt gutes Sicherheitsprofil aus, dennoch sind Nebenwirkungen wie ein Makulaödem und Fälle von einem Basalzellkarzinom bekannt (40). Es scheint ein erhöhtes angeborenes Fehlbildungsrisiko unter Fingolimodexposition zu bestehen (41). Fälle von polymorphen ventrikulären Arrhythmien sind beschrieben worden und haben zur Einschränkung der Zulassung bei Patienten mit gewissen kardialen Vorerkrankungen geführt (42).
Abbildung: MR-morphologische Veränderungen im Rahmen einer progredienten multifokalen Leukenzephalopathie (PML)
Abgebildet sind beispielhaft 3-Tesla-MRI-Befunde bei Fingolimod-assoziierter PML im Kontext einer Multiplen Sklerose. Charakteristisch sind «flammenartig» auslaufende Läsionen mit Einbezug der U-Fasern auf der T2-gewichteten FLAIR-Sequenz (A, Pfeile). Die Abgrenzung gegenüber der weissen Substanz kann zum Teil unscharf sein. Die Läsionen haben oft ein inhomogenes Binnensignal, welches auf einer T2-gewichteten Sequenz in der Regel deutlicher zum Ausdruck kommt (B). Auf diffusionsgewichteten Bildern (DWI) imponiert meist ein hyperintenses Signal am Rand einer PML-verdächtigen Läsion als Zeichen der Aktivität (C, D, weisse Pfeile) und ein hypointenses Signal im Zentrum als Folge der zunehmenden Destruktion (C, D, dunkler Pfeil). Am Rand einer PML-Läsion findet sich gelegentlich eine unregelmässige Kontrastmittelaufnahme (E, Pfeil), welche oft als Zeichen einer überschiessenden Immunantwort (IRIS) interpretiert wird. Im direkten histopathologischen Vergleich wurden MR-morphologische Veränderungen zum Teil als unspezifisch gegenüber einer Differenzierung zwischen IRIS und aktiver PML diskutiert (27). (Abbildung Tim Sinnecker)
In einer Phase-III-Zulassungsstudie von Cladribin (CLARITY) wurden im Vergleich zu Plazebo mehr Neoplasien in den Cladribintherapiearmen beschrieben (38), was zunächst zu einer Verzögerung der Zulassung geführt hat (43, 44). Eine Metaanalyse sowie eine zusammenfassende Analyse von allen Phase-III-Studien und einer Registerdatenbank haben kein erhöhtes Risiko für Malignome unter einer Therapie mit Cladribin beschrieben (39, 45). Hinsichtlich der Therapie mit Alemtuzumab ist bereits aus den Zulassungsstudien das gehäufte Auftreten von sekundären Autoimmunerkrankungen in einem relevanten Anteil der Patienten (20–30%) bekannt (34). Hierunter wurden bereits frühzeitig schwere Erkrankungen wie die immunvermittelte thrombozytopenische Purpura (ITP) mit Hämorrhagien und potenziell letalem Ausgang identifiziert (46). Kürzlich wurden auch Fallberichte mit autoimmuner Hepatitis und hämophagozytischer Lymphohistiozytose bekannt, welche prinzipiell tödlich verlaufen können (47). Ebenfalls sind Fälle von pulmonalen alveolären Blutungen, Myokardinfarkt oder ischämischen sowie hämorrhagischen Schlaganfall wenige Tage nach Applikation von Alemtuzumab aufgetreten (47). Darüber hinaus wurden zuletzt vermehrte Fälle mit dem Auftreten zahlreicher neuer autoimmunentzündlicher ZNS-Läsionen beschrieben (48). Die Ereignisse waren meist zirka 4 bis 6 Monate nach Beginn einer Therapie mit Alemtuzumab beobachtet worden und sprachen zum Teil auf eine Behandlung mit Plasmapherese und Rituximab an (49). Bei einigen Patienten wurden in der FACS-Analyse (FACS = fluorescence-activated cess scan-
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ning, Durchflusszytometrie) anhaltend supprimierte TZellen bei normalisierter B-Zell-Zahl beobachtet (49). In der Zusammenschau wird derzeit eine B-Zell-vermittelte autoimmune Meningoenzephalitis zum Teil kritisch diskutiert (49). Auch bei dem monoklonalen Antikörper Daclizumab wurden schwere Nebenwirkungen erst im Post-Marke-
Merkpunkte:
● In Abhängigkeit vom PML-Risiko wird unter einer Therapie mit Natalizumab eine standardisierte MR-Untersuchung empfohlen, welche sich als sensitiv für die Früherkennung einer PML im möglichst subklinischen Stadium gezeigt hat. Im Falle unklarer Befunde sollte eine Zweitmeinung eines Referenzzentrums eingeholt werden.
● Bei mehreren MS-Therapeutika haben sich erst im Rahmen der Anwendungsbeobachtung (postmarketing surveillance, PMS) Erkenntnisse über potenziell kritische bis letale Nebenwirkungen ergeben, welche in diesem Ausmass nicht zwingend aus den Zulassungsstudien ableitbar waren.
● Das unterstreicht die Bedeutung der Aufmerksamkeit der behandelnden Ärzte gegenüber möglicher unerwarteter Ereignisse sowie die systematische Beobachtung innerhalb von Kohortenstudien im Sinne der Pharmakovigilanz.
ting-Setting festgestellt, welche in diesem Ausmass nicht in den Zulassungsstudien erkennbar waren. Das hat dazu geführt, dass Daclizumab weltweit im März 2018 vom Markt genommen wurde und nicht mehr für die Therapie der Multiplen Sklerose zur Verfügung steht (50). Hierunter sind Fälle von autoimmunbedingtem Leberversagen (50). Ebenfalls sind Fälle einer autoimmunvermittelten Meningoenzephalitis unter Therapie mit Daclizumab, meist in Kombination mit einer «drug reaction with eosinophilia and systemic symptoms» (DRESS), berichtet worden (50–52). Bei zwei dieser Fälle konnte eine NMDA-Rezeptor-Enzephalitis gesichert werden (51).
Fazit
Der behandelnde Arzt sollte neben den empfohlenen
Vorsorge- und Verlaufsuntersuchungen im Rahmen der
MS-Therapie trotz der oft guten Sicherheitsprofile auf-
merksam gegenüber unerwarteten Ereignissen bleiben.
Sollte der Verdacht auf eine PML im Kontext unklarer kli-
nischer oder paraklinischer Befunde bestehen, ist die
rechtzeitige Kontaktaufnahme mit einem erfahrenen
Referenzzentrum sinnvoll, da die Betroffenen von einer
frühen PML-Diagnose profitieren.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. Tim Sinnecker
Klinik für Neurologie
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel
E-Mail: tim.sinnecker@usb.ch
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2/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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