Transkript
trans* und Sexualität: Vielfalt erlaubt – aber auch gelebt?
FORTBILDUNG
Sexuelle Vielfalt ist seit den Achtzigerjahren ein zentrales Thema in der Sexual- und Genderforschung. Über die Pluralisierung des Sexuellen, die Ausbildung und die Sichtbarkeit einer bis anhin unbekannten Vielfalt legitimer sexueller Lebens- und Erlebniswelten herrscht weitgehend Konsens. Weniger Konsens besteht jedoch hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Umfang und in welchen Formen sexuelle Vielfalt tatsächlich gelebt wird beziehungsweise gelebt werden kann. Klassische Outcome-Studien bezüglich des Gesundheitsempfindens von trans*Personen greifen zu kurz. Denn trans*Menschen sehen sich nicht bloss vor die Aufgabe gestellt, wieder oder erstmals mit ihrem Körper und ihrer Sexualität im Einklang zu leben, sie sind zudem gesellschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt, die ihre Existenz nicht vorsehen.
Myshelle Baeriswyl
von Myshelle Baeriswyl
D ie sexuelle Praxis ist gemäss den deutschen Forschern Lewandowski und Koppetsch durch eine hierarchische, dichotome Geschlechterordnung, durch das Primat der Paarbeziehung, das Regime der Heterosexualität und heteronormative Geschlechterfantasmen geprägt und strukturiert (1). Die Einschreibung von Geschlechtsidentitäten und sexuellem Begehren geschieht vor allem über den Körper, über die gesellschaftliche Zurichtung von Körperhaltungen, Aussehen und Körpersprache, die als weiblich oder männlich beziehungsweise als sexuell attraktiv für das jeweils andere (oder gleiche) Geschlecht angesehen werden. Sexualität ist ein Machtdispositiv (2). Im heteronormativen System der Zweigeschlechtlichkeit ist der Körper immer schon geschlechtlich vordefiniert, sexuelles Begehren auf einen weiblichen oder männlichen Körper gerichtet. Das gilt auch für homosexuelles Begehren. Geschlechtsidentität, Geschlechtskörper und sexuelles Begehren sind dabei eng verknüpft. trans*Menschen, vor allem diejenigen, die geschlechtsangleichende Eingriffe vornehmen, sehen sich somit nicht bloss vor die Aufgabe gestellt, wieder oder erstmals mit ihrem Körper und ihrer Sexualität im Einklang zu leben, sie sind zudem gesellschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt, die ihre Existenz nicht vorsehen oder gar leugnen. «In unserer heutigen Gesellschaft», sagt die Berliner Professorin für Ethnologie, Birgitt Röttger-Rössler, «gibt es keinen sozialen Raum für Individuen, die zwischen den Geschlechtern stehen» (3).
Outcome und Outside Wie wirken sich geschlechtsangleichende Massnahmen auf Wohlbefinden und Sexualität aus? Wie hat sich die Sexualität verändert (4)? Besteht das Risiko einer Retransition? Wurde eine ausreichende Vaginatiefe erreicht (5)? Wie ist die Zufriedenheit mit der Penoidkonstruktion? Hat sich die sexuelle Orientierung verändert? Outcomestudien bezüglich des «Gesundheitsempfindens von trans*Personen» sind problematisch: Methodologisch sind die Stichproben meist zu klein, Begriffe und Kon-
zepte oft nicht oder sehr unterschiedlich definiert und die Resultate nicht auf andere Länder übertragbar (vgl. Richter-Appelts Fazit ihrer vor Kurzem publizierten Metaanalyse) (6). Zudem klammern sie kulturelle Setzungen, soziale Strukturen und gesellschaftliche Bedingungen in der Regel aus, ja sind selbst zutiefst geprägt von heteronormativen, genderbinären Werthaltungen: Vaginatiefe? Längst nicht alle trans*Menschen wünschen sich medizinische Massnahmen und fallen entsprechend aus solchen Untersuchungsdesigns heraus (7). Aber vor allem umfassen Outcomestudien in der Regel einen relativ kurzen Zeitraum nach den Eingriffen. Doch für trans*Menschen formt sich gemäss Güldenring «der alltägliche Umgang in dieser Welt schleichend. In den meisten Fällen wird erst später realisiert, dass die Aussenseiterrolle zeitlebens weiter bestehen wird. Diese Erkenntnis muss geleistet werden, um eine selbstsichere Position in einer transsexuellen Identität zu finden» (8).
Gesundheitsrisiken und Gewalt trans*Personen haben oft erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem – bei weit höheren gesundheitlichen Risiken, zum Beispiel, sich mit HIV anzustecken. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2013 sind in den USA 22 Prozent der trans*Frauen HIV-positiv, die Hälfte davon Afroamerikaner. Weltweit sind es 19 Prozent. trans*Menschen haben ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 49-fach erhöhtes Expositionsrisiko. Die Gründe sind vielfältig: häufig wechselnde Sexualpartner, Sex ohne Kondom oder medizinische Prävention, Hormon- oder Drogeninjektionen mit geteilten Spritzen, Sexwork, psychische Probleme, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, hoher Substanzmissbrauch, Mangel an familiärer Unterstützung und vor allem Gewalt (9). Gemäss dem Trans Murder Monitoring Project von Transgender Europe sind im Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2016 weltweit 2343 Morde an Transsexuellen in 69 Ländern dokumentiert worden, 1834 allein in Zentral- und Südamerika. In Europa sind es 44 in der Türkei und 34 in Italien (10). Dabei dürften es aufgrund der hohen Dunkelziffer weit mehr sein.
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Denn die geschlechtersensible Gewaltforschung steckt laut Pohlkamp (11) noch in den Kinderschuhen. So werden viele Gewalttaten an trans*Frauen, die amtlich noch als männlich dokumentiert sind, gar nicht als solche erfasst. Die meisten Opfer weltweit sind trans*Sexworkerinnen of color. In der Schweiz leben trans*Menschen vergleichsweise sicherer, kämpfen aber mit ähnlichen Problemen.
Sexwork und Pornoindustrie Vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, ist die Sexindustrie für viele trans*Frauen weltweit die einzige Erwerbsquelle – und oft die letzte. «Männer, die Sex mit trans*Frauen suchen, sind oft deren Mörder», sagt Olya, eine türkische trans*Sexworkerin. «Wenn sie Sex hatten, fühlen sie sich verlegen. Es passt nicht in ihre Männlichkeit. Sie werden aggressiv und töten die Sexworkerin» (12). Trans*Sexworker_innen sind mehr Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt als andere (13). Und wie alle sexuellen Minderheiten unterliegen sie einem höheren Grad der Fetischisierung und Marginalisierung – auch im hochpreisigen Escort-Bereich und in der Pornoindustrie. «Die Erwachsenenindustrie behandelt Pornos, in denen Transgender auftreten, als Nische, oft kategorisiert mit abwertenden Begriffen wie ‹Tranny›, ‹Ladyboys› und ‹Shemale›. Trotzdem sind diese Kategorien unglaublich populär. GameLink, ein Onlineporno-Provider, verzeichnet seit Jahren Zuwachsraten in diesem Bereich von 14 Prozent und macht mittlerweile 10 Prozent des Gesamtumsatzes mit trans*Pornos. (14) Auf dem hart umkämpften Markt der Lüste sind trans*Pornos der vorläufig letzte Kick – vor allem für heterosexuelle Männer. Aber für Mainstream-Pornostars ist es ein Tabu, ja karrierezerstörend, mit trans*Pornostars zu arbeiten» (15).
Irritationen und Erosionen Coming-outs sowie soziale und körperliche Transitionen stellen nicht nur für trans*Menschen selbst eine grosse Belastung dar, sondern auch für ihr soziales Umfeld: für Freunde, Familie und insbesondere ihre bisherige (Sexual-)Partner_innen. In einem berührenden Artikel schildert eine Frau, wie sich ihre Sexualität zu ändern begann, als ihr Mann zu ihrer Frau wurde. «Als mein Ehepartner sich als Transgender outete und später transitionierte, stellte sich mein Leben auf den Kopf. Es änderte sich so vieles, aber was ich nicht vorhersah, waren die Fragen und die öffentliche Kontrolle bezüglich meiner Sexualität. Ich habe mich immer als heterosexuell verstanden, aber mit einer trans*Frau verheiratet zu bleiben, veränderte dieses Selbstverständnis. Bei ihr zu bleiben, verstiess gegen alles, was uns die Gesellschaft über Sexualität und Gender lehrt. Ich wurde in eine Welt einer unbekannten Sexualität gestossen» (16). Nicht minder drastisch die Schilderungen einer anderen Frau, wie sich ihr gegenüber das soziale Umfeld veränderte: «Es war unglaublich, als mein Partner seinen Transitionsprozess begann, fragten mich Menschen gerade, was ihnen in den Sinn kam. Freunde, Familie und Bekannte hatten keine Hemmungen, höchst persönliche Fragen zu stellen. Als meine Frau noch das andere Geschlecht war, fragte mich niemand nach ihren Genitalien und was sie plante, damit zu machen. Die häufigste Frage war: Funktioniert er noch? Was für eine unhöfliche Frage. Ich bin mir sicher, würde ich bei ihnen dasselbe fragen, riskierte ich
seltsame Blicke. Wie können Menschen das plötzlich nicht mehr als Eindringen in meine Privatsphäre sehen» (17)? Wen wunderts, dass selbst langjährige Beziehungen an diesem Umfeld zerbrechen. Das soziale Umfeld ist mit Coming-out und Transition allzu oft komplett überfordert. Der Verlust des angestammten Freundeskreises, des Jobs (18), der Familie und des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin ist für viele trans*Menschen deshalb eine Realität. Glück hat, wessen Partner_in die Transition mitträgt und wenn die Beziehung der Belastung standhält. Doch für viele trans*Menschen ist Einsamkeit der Preis, den sie für ihr Coming-out bezahlen, ungeachtet ihrer als positiv erlebten körperlichen Transition.
Kontaktsuche und Beschämung Wenn Coming-out und Transition zur Erosion der bisherigen (Intim-)Beziehungen führen, landen nicht wenige trans*Personen auf der Suche nach neuen (Sexual-)Partner_innen auf Datingplattformen (19). Dabei erleben viele, wenn sie sich als trans* outen, dass sie durch die vorformatierten binären Begehrensmuster hetero, homo oder bi durchfallen. Beispielsweise Addison, eine 23-jährige trans*Frau: «Ich war kaum eine Woche auf Tinder, als mir der Administrator meldete, mein Profil werde überprüft und deshalb vorerst geschlossen. Um bei Matches transparent zu sein, machte ich meine Geschlechtsidentität klar. Auch um bei allfälligen Treffen keine Überraschungen zu erleben. Die Antworten variierten von Irritation, Reduktion auf meine Genitalien, statt mich kennenlernen zu wollen, bis zu massiven Abwertungen» (20). Diese Erfahrungen hat auch Schreibende gemacht, ungezählte Male. Auch auf der kostenpflichtigen Datingplattform Gayparship, Frau sucht Frau, einer von Parship geführten, aber öffentlich nicht beworbenen Kontaktplattform für lesbische Frauen: «Ihr seid doch alle krank.» «O mein Gott, du bist trans?» «Bist du wenigstens operiert?» «Ich kann dir nicht garantieren, dass ich nicht zuweilen eine Möse brauche.» «Ein hübsches Zwischending, aber nie eine Frau.» «Sorry, nicht in der jetzigen Lebensphase.» «Wieso schreibst du das nicht im Profil?» «Sorry, ich hab kein Coming-out gemacht, um wieder mit einem Mann ...» «Ich suche eine richtige Frau.» «Echt? Ich hätte es nicht gemerkt.» «Dann warst du ein Mann?» «Sicher ein schwieriger Weg, aber ich suche keine weiteren Belastungen.» ... Keine guten Voraussetzungen für eine Kontaktaufnahme, geschweige denn eine Beziehung. Viele dieser lesbischen Cis-Frauen verstehen trans*Frauen als ehemalige Männer und essenzialisieren Geschlecht als biologisch. Dasselbe machen auch viele Cis-Männer, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Auf der schwulen Datingplattform Planet Romeo tummeln sich nicht nur ungezählte sich als heterosexuell verstehende Cis-Männer, sondern auch viele trans*Frauen. Die einen privat, andere kommerziell. Nimmt man Profilbesuche und Anfragen für sexuelle Kontakte, sind trans*Frauen äusserst begehrt – allerdings bloss für sexuelle Abenteuer. Und gross ist die Zahl der Männer, die sich dabei ihrer Heterosexualität (rück-)versichern müssen: «Ich bin nicht schwul!»
Begehren und Stigma Mögen trans*Menschen, vor allem trans*Frauen, in Pornos und für Sexdates begehrt sein, sie in der Öffentlich-
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keit zu daten oder gar eine Beziehung mit ihnen zu führen, ist noch immer ein Tabu. «Du bist eine attraktive Frau, aber sorry, ich kann keine Beziehung mit dir haben, ich bin Kantonspolizist.» Und falls es doch zu einer Beziehungsaufnahme kommt, reagieren oft Freund_innen oder Verwandtschaft der Partnerin oder des Partners mit Abwehr: «Ein Mann, der sich zur Frau macht? Nein, so was geht nicht.» Woher diese Abwehr, diese Abwertungen? In einem Artikel im «Sydney Morning Herald» schrieb Elizabeth Duck-Chong: «Es gibt wenige Untersuchungen, wie Menschen Transgender wahrnehmen, allgemein oder als potenzielle Partner_innen, aber ein kurzer Blick in Kommentarspalten oder Blogs zeigt, dass die Gesellschaft eine grosse Zahl falscher Vorstellungen über uns hat, meist herrührend von einem binären und unkorrekten Blick auf den Körper. Das führt dazu, dass sie meinen, trans*Menschen hätten etwas zu verstecken (und damit etwas zu offenbaren). In vielen Komödien wird das eingesetzt, um für Lacher zu sorgen» (21). In einem anderen Online-Artikel schrieb Sara C.: «Als trans*Frau zu daten (online oder real), bedeutet oft, gegen einen starken Strom von unangebrachten, fetischisierenden, entmenschlichenden und manchmal verletzenden Nachrichten oder Fragen über meine Genitalien zu kämpfen. Noch komplizierter wird es, wenn eine trans*Frau versucht, einen heterosexuellen CisMann zu daten. Das kann schnell dazu führen, dass diese erklären, nicht gay zu sein, meist mit Beschimpfungen und abwertenden Äusserungen darüber, dass ich mich als Frau sehe» (22). In einer heteronormativen, auf dem Primat der Zweigeschlechtlichkeit basierenden Gesellschaft werden trans*Frauen als (ehemalige) Männer konzipiert, und trans*Männer als (ehemalige) Frauen. Die Folgen für die Partner_innensuche sind, wie beschrieben, fatal. Heterosexuelle Cis-Männer, die trans*Frauen daten, unterliegen einer hohen Stigmatisierung. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2016 gaben 65 Prozent an, sie würden nie eine Beziehung mit einer trans*Person eingehen, 12 Prozent sagten, sie seien dafür offen, 23 Prozent konnten sich nicht entscheiden (23). In «Blick online» fragte ein Mann unter dem Titel «Ist eine Transe schwul»: «Ich habe in einem Magazin das Inserat einer Transe gesehen, die Sex anbietet. Mich interessiert das. Ein Kollege meinte nun, so eine Transe sei ein Mann und es sei deshalb nur eine Schwulenbeziehung möglich. Ist eine Transe nun schwul? Müsste sie sich nicht eine Frau suchen für Sex» (24)?
Angst und Panik Heterosexuelle Cis-Männer, die trans*Frauen begehren, stehen unter hohem Rechtfertigungsdruck und Legitimationszwang. Das wissen auch ihre Datingpartner_ innen. In einem Artikel mit der Frage «Why straight men kill the trans woman they love» beschreibt die trans*Schauspielerin und trans*Aktivistin Jen Richards ihre ambivalente Gefühlslage beim Daten heterosexueller Cis-Männer: «Was ich suche, ist Bestätigung meiner Weiblichkeit. Aber niemand ist ängstlicher bezüglich der eigenen Sexualität als heterosexuelle Cis-Männer, und niemand fürchtet es mehr, als gay bezeichnet zu werden. Das gilt vor allem für Erstdater. Ihnen zu begegnen, ist, wie eine jederzeit explodierende Granate zu behandeln. Ich liebe diese Intensität.»
Gleichzeitig weiss sie aber auch um das Risiko, dass diese Granate jederzeit explodieren kann. «Ich weiss, wie die Geschichte endet, wenn mein lebloser Körper später gefunden und er verhaftet wird. Er wird sagen, ich hätte ihm verschwiegen, trans* zu sein. Er habe erst entdeckt, dass ich eigentlich ‹ein Mann› sei, als er mit mir im Bett gelegen habe. Da habe er panisch reagiert, und das Nächste, was er gemerkt habe, war, dass ich plötzlich nicht mehr geatmet habe. Wenn der Fall dann vor Gericht kommt, werden die Anwälte mit ‹Transpanik› argumentieren, eine legitime Verteidigung in 49 Staaten der USA. Und die einzige Person, die dem widersprechen könnte, also ich, kann es nicht mehr. Und dann wird die Geschichte erzählt, dass ein Mann sich als Frau verkleidete, um einen anderen Mann zu betrügen. Unsere Gesellschaft hat entschieden, dass solche Enttäuschungen Morde rechtfertigen» (25). Als trans*Frau heterosexuelle Cis-Männer zu daten, ist ein emotionaler Hochseilakt ohne Netz. In der Regel bleibt es ein einmaliges Sexdate, selten kommt es zu einer Beziehungsaufnahme, und wenn: dann ist es meist versteckt, privat, aber nicht öffentlich. Im schlimmsten Fall aber kommt es zu Gewalt und Übergriffen. Meist aus Scham und Reue.
Scham und Unsichtbarkeit
trans*Personen werden systematisch durch Vorurteile
und gesellschaftliche Geschlechternormen beschämt
und in der Öffentlichkeit auf Körper, Intimität und Se-
xualität und damit auf Bereiche jenseits der allgemein
gültigen Schamgrenzen reduziert (vgl. die Debatte um
die Bathroombills in den USA). Coming-outs werden als
Freifahrtschein verstanden, Fragen jenseits allgemein
akzeptierter Schamgrenzen zu stellen («Bist du schon
operiert?», «Wie ist denn dein ‹richtiger› Name?», «Wie
geht das dann eigentlich mit dem Sex?»). Coming-outs
und Transitionen sind stets auch Beschämungssituatio-
nen für trans*Personen (26).
Um solche Beschämungssituationen zu vermeiden, ver-
suchen trans*Personen, sich anzupassen. In der trans*-
Community gibt es dafür den Begriff des Passings:
«Passing in the transgender community means to be
able to walk down the street and pass for cis (non
trans)» (27). Passing meint immer Cis-Passing: nicht
mehr als trans* wahrgenommen zu werden. Keine Spur
eines einstigen Transitionsverfahrens darf vorhanden
sein. Es gibt keinen Platz für trans*Frauen mit Bartstop-
peln oder Ausbuchtungen im Bikinihöschen und auch
keinen für trans*Männer mit zierlichen Händen oder
breiten Hüften. «Ich habe nichts gegen trans*», sagte
mir einst ein Arzt, «das Problem ist, ihnen sieht mans
an.»
Die Eingangsfrage, ob und in welchem Umfang und in
welchen Formen sexuelle Vielfalt gelebt wird bezie-
hungsweise gelebt werden kann, beantwortet sich
somit exemplarisch entlang der Situation von trans*-
Menschen, insbesondere trans*Frauen: fetischisiert, stig-
matisiert, sexualisiert, diskriminiert, pornografisiert, be-
schimpft, gemobbt, entlassen, verprügelt, verspottet,
ausgelacht, ermordet, beschämt oder unsichtbar ge-
macht, so sind wir von gelebter Vielfalt noch Lichtjahre
entfernt.
G
Korrespondenzadresse: Dr. phil. Myshelle Baeriswyl Psychologin und Sexualpädagogin Geschäftsleiterin Fachstelle für AIDSund Sexualfragen Tellstrasse 4, Postfach 8 9000 St. Gallen E-Mail: myshelle.baeriswyl@ahsga.ch
Quellen: Zur Thematik trans* und Sexualität existiert, zumal im deutschen Sprachraum, kaum wissenschaftliche Literatur. Im Netz kursieren jedoch eine Fülle von Artikeln, Texten und Selbstzeugnissen von trans*Menschen, vor allem trans*Frauen. Der Artikel rekurriert deshalb meist auf sie aus der trans*Binnenperspektive. Webzugriffe Sept./Okt. 2017
Die Übersetzungen und Zusammenfassungen der englischen Texte erfolgten durch die Autorin.
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Literatur:
1. Vgl. Lewandoswki S, Koppetsch C (2015). Sexuelle Vielfalt und die Unordnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität. Bielefeld: Transcript.
2. Vgl. Foucault M (1983). Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt: Suhrkamp.
3. Röttger-Rössler B (1997). Männer, Frauen und andere Geschlechter. Zur Relativierung der Zweigeschlechtlichkeit in aussereuropäischen Kulturen. In: Völger G (Hrsg.) (1997). Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich (S. 101–108). Band II. Köln: Rautenstrauch-Joest-Museum.
4. Tourjée D: Transfrauen erzählen, wie die Hormonersatztherapie ihre Sexualität verändert hat. Vice Boradly, 16.3.2016. https://broadly. vice.com/de/article/jpy7g7/transfrauen-erzaehlen-wie-die-hormonersatztherapie-ihre-sexualitaet-veraendert-hat
5. Roche J: Ich wurde zur Frau, doch meine Vagina ist nicht das, was ich erwartet habe. Refinery29, 18.2.2017 http://www.refinery29.de/transgender-frau-vagina
6. Richter-Appelt H: Von der Transition zur Trans*_Gesundheit. In: Nieder TO & Strauss B (2017). Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans*-Gesundheit: Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung, 2017; S. 91–100 (noch unveröffentlicht).
7. Landman K: Making primary care trans-friendly. The Atlantic. 21.4.2017. https://www.theatlantic.com/health/archive/2017/04/trans-medicine/523731/
8. Güldenring A: In: Psychotherapie im Dialog, Fachzeitschrift für Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Stuttgart: Thieme, 2009.
9. Transgender people, HIV and AIDS. Avert – Global information about HIV and AIDS 4.7.2017. https://www.avert.org/professionals/hiv-social-issues/key-affected-populations/transgender; HIV among transgender people. Centers for Disease Control and Prevention. 3.8.2017. https://www.cdc.gov/hiv/group/gender/transgender/index.html
10. http://transrespect.org/wp-content/uploads/2017/03/TvT_TMM_ TDoV2017_Tables_EN.pdf
11. Pohlkamp I (2014). Gender Bashing. Diskriminierung und Gewalt an den Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit. Münster. Unrast.
12. Tali D: What I’ve learned trying not to get kille das a transgender sexworker. Vice, 19.5.2016. https://www.vice.com/en_us/article/ nnkwwk/most-dangerous-place-transgender-europe-turkeydidem-tali
13. Kivanc J: Wie es ist, als Transmann Sexarbeit zu machen. Vice, 13.2.2016 https://www.vice.com/de/article/qbm9wv/transgendersexarbeiter-592
14. Clark-Flory T: Trans porn stars take on the mainstream in groundbreaking shoot. Vocativ, 7.6.2017 http://www.vocativ.com/435209/transgender-porn-stars-groundbreaking-shoot/
15. Morris Ch: Transgender porn quickly growing up in popularity. CNBC, 27.8.2015. https://www.cnbc.com/2015/08/27/transgender-pornquickly-growing-in-popularity.html
16. Crose A: How my sexuality changed after my husband became my wife. 14.11.2016. https://theestablishment.co/how-my-sexualitychanged-after-my-husband-became-my-wife-adbf080e655c
17. Nigro UA: What I miss about our lives after transition. Transgender Universe. 14.9.2016. http://transgenderuniverse.com/2016/09/14/ what-i-miss-about-our-lives-after-transition/
18. Mendyka M (2014). Transsexuellen droht häufiger Arbeitslosigkeit. Queer.de, 12.5.2014 http://www.queer.de/detail.php?article_ id=21548
19. Tannehill B: What are the ethics of transgender dating? LGBTQ Nation, Bilerico Report, 19.12.2016. https://www.lgbtqnation.com/ 2016/12/ethics-transgender-dating/
20. Hatch J: Digital love in the time of transphobia. Huffington Post, 4.1.2017. http://www.huffingtonpost.com/entry/digital-love-in-thetime-of-transphobia_us_5714e9ffe4b06f35cb700125
21. Duck-Chong E: If it’s still taboo to date transgender people, how far have we really come? Sidney Morning Herald, 3.11.2016. http://www.smh.com.au/lifestyle/life-and-relationships/sex-andrelationships/if-its-still-taboo-to-date-transgender-people-how-farhave-we-really-come-20161102-gsglzv.html
22. Sara C: When you say I would never date a trans person, it’s transphobic. Here’s why. Medium, 20.8.2017. https://medium.com/@QSE/ when-you-say-i-would-never-date-a-trans-person-its-transphobichere-s-why-aa6fdcf59aca
23. Adamandeve.com. Would you be open to dating someone transgendered? Cision. PR Newswire, 4.8.2016. http://www.prnewswire. com/news-releases/adamandevecom-asks-would-you-be-open-todating-someone-transgendered-300309316.html
24. Fux C: Ist eine Transe schwul? Blick online, 2017. https:// www.blick.ch/life/liebe/beratung/fux-ueber-sex-ist-eine-transeschwul-id4781380.html
25. Richards J: Why straight men kill the trans women they love. Newnownext, 23.5.2017. http://www.newnownext.com/whystraight-men-kill-the-trans-women-they-love/05/2017/ ?xrs=synd_twitter_nnn&utm_content=buffer0d0cd&utm_medium=social&utm_source=twitter.com&utm_campaign=buffer
26. Butchblog. Scham, Schuld und Transition. 14.6.2016. https://femmebutchvision.wordpress.com/2016/06/14/scham-schuld-und-transition/
27. Roche J What «passing» in the transgender-community really means. Refinery 29, 18.10.2106. http://www.refinery29.uk/passing-privilegejuno-roche
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