Transkript
FORTBILDUNG
Kinder und Jugendliche mit Schmerzen am Bewegungsapparat
Wann braucht der Orthopäde Hilfe?
Carol C. Hasler
Meist lassen sich Schmerzen am Bewegungsapparat bei Kindern und Jugendlichen gut erklären und therapieren. Je jünger das Kind, desto eher findet sich eine eindeutige, bildgebend belegte Diagnose mit einem morphologischen Korrelat und daraus abgeleitet eine klare Therapieempfehlung. Aus dieser Erfahrung resultiert allerdings auch eine seitens der Orthopäden somatisch kausal fixierte Haltung bei lang dauernden, sich nicht bessernden Schmerzzuständen und das Festhalten an orthopädisch orientierten Therapieansätzen wie repetitiver Physiotherapie und Operationen. Patienten und Eltern erwarten diese eindeutigen Kausalverkettungen und scheinbar logischen Handlungsstränge. Die Sensibilisierung auf chronische Schmerzen am Bewegungsapparat im Wachstum und das Aufzeigen von problemgerechten multimodalen Therapieansätzen fern des orthopädisch-mechanistischen Ansatzes sind bis anhin noch zu wenig verbreitet und daher vonnöten.
von Carol C. Hasler und Daniel Studer*
Einleitung
O rthopäden befassen sich mit Deformitäten der langen Röhrenknochen und der Wirbelsäule, Bewegungseinschränkungen und Instabilitäten von Gelenken sowie Knochentumoren. Schmerzen am Bewegungsapparat sind vor allem in der Pubertät häufig: die 1-Jahres-Prävalenz bewegt sich bei 11-Jährigen bei 16 Prozent, um bis ins Alter von 14 Jahren auf 24 Prozent anzusteigen. Klagen über multiple Schmerzlokalisationen sind häufig. Mädchen sind häufiger betroffen, assoziiert finden sich Schlaflosigkeit und Tagesmüdigkeit sowie als stärkster Risikofaktor anamnestisch frühere Schmerzepisoden (1). Schmerzen im Wachstumsalter lassen sich häufig auf eine klare Pathoanatomie oder eine biomechanisch bedingte Fehlbelastung zurückführen. Wir Orthopäden sind daher – zumindest was unser Fachgebiet und unsere Patienten betrifft – durch ein mechanistisches Verständnis geprägt. Bei Schmerzen wird nach klaren Ursachen wie Fehlbelastungen oder radiologisch sichtbaren Pathologien geforscht. Sofern solche gefunden werden, wird eine Kausalkette zum Schmerz konstruiert und dem Patienten entsprechend kommuniziert. Bildbefunde oder die einleuchtende Demonstration an anatomischen Modellen erlauben eine schnelle Darlegung dieser Gegebenheiten und auch eine direkte therapeutische Empfehlung, nicht selten in Form eines operativen Eingriffs. Umgekehrt besteht seitens der Patienten und Familien bei Konsultation eines Orthopäden im Umkehrschluss eben auch die Erwartungshaltung, dass ein klarer Befund erhoben wird und im Falle von Schmerzen dieser bildge-
* Universitätskinderspital beider Basel, Orthopädie
bend (wo genau sitzt mein Schmerz?) dargestellt oder klinisch demonstriert werden kann (z.B. eine Gelenkinstabilität). Die medizinische Laienpresse suggeriert zudem, dass mit den modernen Bildmodalitäten alles Pathologische inklusive des Schmerzes visualisiert werden kann. Aus der Erwachsenenmedizin ist allerdings hinlänglich bekannt, dass Bildgebung und Schmerz nicht immer gut korrelieren. Ein gutes Beispiel ist die alternde, degenerierende Wirbelsäule, wo ein äusserst schlechter Zusammenhang zwischen den häufig eindrücklichen radiologischen Befunden und der Funktion respektive dem Schmerz besteht (2).
Mit Schmerzen beim Kinderorthopäden – der Normalfall Mit einer konzisen, strukturierten Anamnese lassen sich schnell die wichtigsten Differenzialdiagnosen eingrenzen. Im Falle von klaren Red Flags (Kasten 1) muss gezielt und mit erweiterter Labor- und/oder bildgebender Diagnostik nach der Schmerzursache geforscht werden. Bei explizit nur unter Belastung auftretenden Schmerzen sind meist mechanische Ursachen beschwerdeführend. In der kinderorthopädischen Praxis machen sie, ähnlich wie bei den Erwachsenen, den grössten Anteil aus. Letztere beklagen allerdings mehrheitlich degenerative Veränderungen, während im Wachstumsalter der Morbus Osgood-Schlatter (Tuberositas tibiae, Knieschmerz), die Apophysitis calcanei (Fersenschmerz) sowie das femoropatellare Schmerzsyndrom am häufigsten sind, gefolgt von den allerdings viel selteneren kinderorthopädischen Klassikern Morbus Scheuermann, Morbus Perthes, Epiphysiolysis capitis femoris und Osteochondrosis dissecans. Infektionen und Tumoren sind vergleichsweise selten. In der Pubertät dominieren funktionelle, meist muskulär
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Kasten 1:
Patientencharakteristika, Anamnese, Symptome und Befunde, welche auf ein morphologisches Schmerzkorrelat hinweisen und im Wachstumsalter einer zeitnahen Labor- und/oder bildgebenden Abklärung bedürfen.
Allgemein
Gelenke Rückenschmerzen
Alter < 5 Jahre Fieber Akutes Trauma Ruhe-/Nachtschmerz Gewichtsverlust Beweglichkeitseinschränkung Fehlstellung Ausstrahlung in die Beine Neurologische Ausfälle Deformität verursachte Überlastungsschmerzen, vor allem im Rumpfbereich. Über lumbale Rückenschmerzen klagen immerhin etwa 20 Prozent der Jugendlichen, bei leistungsorientierten Sportlern mit mehr als 12 Trainingsstunden pro Woche erhöht sich diese Zahl auf über 40 Prozent (3, 4). Klinisch imponieren neben einem orthopädischen Normalbefund (globale Beweglichkeit, Form, sagittales Profil) lokale Druckdolenzen, Verhärtungen der Muskulatur (Triggerpunkte, Myogelosen) sowie erhöhter Muskeltonus und Muskelverkürzungen. Eine eindeutige Diagnose mit klarer Schmerzzuordnung ist also kinderorthopädischer Alltag. Damit kann auch der allgemeinen gesundheitspolitischen und -ökonomischen Strömung der differenzierten Codierung, dem Befolgen von Flussdiagrammen, Algorithmen, Patientenpfaden und Standardisierung (SOP, Standard Operative Procedere) Genüge getan werden, wo Normdiagnosen und -verläufe erfasst werden können (5). … es wird nicht besser – was nun? Falls ein morphologisch fassbares Korrelat vorliegt, der Schmerz aber trotz scheinbar adäquaten Therapiebemühungen über 3 Monate nicht bessert, wiederkehrt oder weiterhin jegliche Diagnostik trotz Schmerzpersistenz unauffällig ist, müssen folgende Situation bedacht werden: G falsche orthopädische Diagnose G falscher Therapieansatz G Schmerzverarbeitungsproblem. Spätestens in Situationen mit unerklärten, länger dauernden Schmerzzuständen muss obligat die Anamnese erweitert werden: G Einnahme von Schmerzmedikamenten, Drogen- abusus G Frage nach Bauch- und Kopfschmerzen G Familien-Schmerzanamnese, Berentungen G Schul- und Sportabstinenzen, Schulwechsel G Aufgabe von sozialen Kontakten, Mobbingsitua- tionen G Einschränkung der Alltagsaktivitäten G lang dauernde Entlastung mit Gehstöcken oder gar Rollstuhl G psychologische, psychiatrische (Vor-)Behandlungen (6). Das beharrliche Kolportieren der Erstdiagnose und das unverrückbare Festhalten am eingeschlagenen therapeutischen Weg ist leider keine Ausnahme. Chronisch repetitive Physiotherapie, beliebiger und ungezielter Wechsel der konservativen Strategien mit Therapietourismus und Einsatz multipler alternativer Ansätze, Aufsuchen von Gurus, langzeitige Befreiungen vom Schulsport, Schulabsenzen und chronische Entlastung an Gehstöcken oder gar im Rollstuhl sind Kapitulationsstrategien, welche eine Schmerzchronifizierung provozieren. Es ist selbstredend, dass damit ein Circulus vitiosus aus sozialer Isolierung, eine somatische Fixierung, Frustration, Depression und häufig auch Resignation sowie eine physische Dekonditionierung getriggert werden können. Für Patienten mit chronischen Schmerzen ist der Orthopäde, vor allem im Rahmen seiner Routinesprechstunden, aus mehreren nachgenannten Gründen nicht die Idealbesetzung. Es sollte daher sehr zeitnah die Überweisung und die persönliche Übergabe an ein spezialisiertes interdisziplinäres Schmerzteam erfolgen: G Denn die orthopädische Sprechstunde ist hochge- taktet mit relativ kurzen Konsultationszeiten und findet meist in einem unruhigen Poliklinikbetrieb statt. G Wir Orthopäden sind im medizinischen Kontext (bio-)mechanisch in linearen Ursache-Effekt-Wirkungs-Ketten sozialisiert worden. Denk- und Kommunikationsmuster bilden dies ab. G Vor allem im kinderorthopädischen Bereich fehlt es an Wissen und Erfahrung im Umgang mit Patienten mit chronischen Schmerzen, ausgenommen sind allenfalls die Tumorchirurgen. G Der orthopädische Patient, respektive seine Familie im Falle von Kindern, erwartet umgekehrt vom Orthopäden von Beginn an eine klare Diagnose und eine Ursache-Wirkungs-Erklärung, das heisst, das somatisch-mechanistische orthopädische Weltbild wird patientenseitig gespiegelt. Dies klingt vielleicht etwas klischeehaft, entspricht aber den Alltagserfahrungen. Konversationen wie «Zeigen sie mir den Schmerz auf dem MRI», «Jetzt will ich endlich wissen, was meine Tochter wirklich hat» untermalen dies. Diskussion Im Alter von 8 bis 16 Jahren beklagen 5 bis 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen hohe Schmerzintensitäten mit starker bis sehr starker Beeinträchtigung im Alltag (7). Auf die Schweiz umgerechnet (8,3 Millionen Einwohner1) sind somit zirka 35 000 Heranwachsende betroffen, in Deutschland (81,5 Millionen Einwohner) zehnmal mehr, das sind immense Zahlen mit zunehmender Tendenz (8). Schmerzen an Gelenken und Muskeln (v.a. Rückenschmerzen) sind nach Kopf- und Bauchschmerzen am häufigsten, nicht selten werden mehrere Schmerzlokalisationen genannt. Abgesehen von der unmittelbaren ökonomischen Bedeutung, beeinträchtigen chronische Schmerzen im Wachstums- 1 www.bfs.admin.ch &6 4/2017 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE FORTBILDUNG alter die psychosoziale Entwicklung und stellen ein Risiko dar, dass die Patienten Ihre Schmerzverarbei- tungsproblematik mit allen Implikationen (drohende Langzeitrenten, sozialer Rückzug, hohe Behandlungs- kosten, Medikamenten- und Suchtmittelabhängigkeit) ins Erwachsenenalter transportieren. Der frühen Erken- nung und der Zuführung an geeignete Institutionen oder Abteilungen kommt daher eine grosse Bedeutung zu (9). In der Zusammenschau aller genannten Faktoren muss sich der (bio-)mechanisch geschulte Kinderorthopäde bei Schmerzsituationen, welche länger dauern als er- wartet und welche trotz gezielter Therapiebemühun- gen auch nach 3 Monaten nicht eine signifikante Besserung zeigen, hinterfragen. Nach sicherem Aus- schluss einer erklärenden Diagnose, allenfalls auch nach Zuzug eines Fachkollegen (aus der Orthopädie, der Rheumatologie oder der Neurologie), muss die Arbeits- hypothese «chronisches Schmerzsyndrom» gestellt und mit der Familie und dem Patienten diskutiert werden. Dabei ist eine äusserst behutsame Kommunikation an- gebracht, zumal diese Situation in der Kindermedizin selten ist und weder vom Zuweiser noch von den Eltern antizipiert wird. Wir erklären vereinfacht schon früh, dass sich lang dauernde Schmerzen verselbstständigen kön- nen, indem die Nerven unabhängig und auch ohne Vorhandensein oder Persistenz eines primären Auslö- sers weiterhin Schmerzsignale senden können, deren Intensität nicht mit dem Reiz korreliert. Damit handelt es sich nicht um eine Warn- und Schutzfunktion des Körpers, sondern um ein eigenständiges Problem, bei dem wir als Orthopäden weder fachlich kompetent noch geeignet sind. Ganz im Gegenteil: Als Orthopäden riskieren wir mit dem isoliert somatischen, biomecha- nisch zentrierten Ansatz sogar eine weitere Chronifizie- rung. Entsprechende Erfahrungen haben wir früher mit intensiven mehrwöchigen orthopädischen Hospitalisa- tionen solcher Patienten gemacht, wo unter orthopä- discher Fallführung ein rein physiotherapeutischer Ansatz installiert wurde, meist ohne nachhaltigen Erfolg. Damit ist die Grundlage gelegt, in einem zweiten Schritt zu erklären, dass wir idealerweise eine Konsultation bei Schmerzspezialisten empfehlen. Wir bevorzugen eine persönliche Übergabe im Rahmen der ersten Konsulta- tion beim interdisziplinären Schmerzteam. G Korrespondenzadresse: Prof. Carol C. Hasler Universitätskinderspital beider Basel, Orthopädie Spitalstrasse 33, 4056 Basel carolclaudius.hasler@ukbb.ch Telefon 061-704 28 03 Literatur: 1. Picavet HS, Berentzen N, Scheuer N, Ostelo RW, Brunekreef B, Smit HA et al.: Musculoskeletal complaints while growing up from age 11 to age 14: the PIAMA birth cohort study. Pain. 2016; Dez.157(12): 2826–33. PubMed PMID: 27780179. 2. Burgstaller JM, Schuffler PJ, Buhmann JM, Andreisek G, Winklhofer S, Del Grande F et al.: Is There an Association Between Pain and Magnetic Resonance Imaging Parameters in Patients With Lumbar Spinal Stenosis? Spine. 2016 Sep; 41(17): E1053–62. PubMed PMID: 26953669. 3. Sato T, Hirano T, Ito T, Morita O, Kikuchi R, Endo N et al.: Back pain in adolescents with idiopathic scoliosis: epidemiological study for 43 630 pupils in Niigata City, Japan. European spine journal: official publication of the European Spine Society, the European Spinal Deformity Society, and the European Section of the Cervical Spine Research Society. 2011 Feb; 20(2): 274–9. PubMed PMID: 21165657. Pubmed Central PMCID: 3030705. Kasten 2: Fallbeispiel Bei einem 12-jährigen Mädchen zeigt sich trotz Korsett-Therapie eine progressive, rechtskonvexe, idiopathische thorakale Adoleszentenskoliose. Bei der sonst gesunden, voll schul- wie sportfähigen Patientin wird aufgrund der zunehmenden störenden Rumpfasymmetrie, des als signifikant eingestuften Risikos einer weiteren Progression nach Wachstumsabschluss, aufgrund immer wiederkehrender Rückenschmerzen und auf ausdrücklichen Wunsch der Patientin und der Familie eine selektive dorsale, instrumentierte Aufrichtespondylodese durchgeführt. Der Eingriff verläuft komplikationslos, und die Patientin kann nach 2 Wochen selbstständig mobilisiert, schmerzfrei und mit reizlosen Wundverhältnissen entlassen werden. Bei der 1-Jahres-Kontrolle präsentiert sie sich schmerzfrei und sportlich wieder uneingeschränkt aktiv. 1½ Jahre postoperativ erfolgt dann die Vorstellung mit Nackenschmerzen sowie thorakal paravertebralen Schmerzen nach Belastung, zum Beispiel nach anstrengenden Schultagen. Aufgrund jeweils nur kurz dauernder Besserung im Rahmen von insgesamt 36 ambulanten Physiotherapiesitzungen wird eine 7-tägige stationäre physiotherapeutische Intensivtherapie indiziert und bei wiederum nur temporärer Besserung nach 2 Monaten wiederholt. Danach zeigt sich bei der mittlerweile 16-jährigen Patientin ein wechselnder Verlauf trotz medizinischer Trainingstherapie, regelmässiger Einnahme von nicht steroidalen Antirheumatika sowie Einsatz von Rücken- und Sitzkeilkissen. Neu findet man klinisch eine Druck- und Klopfdolenz direkt über dem Stablager. Die Laborbefunde sind unauffällig, szintigrafisch zeigt sich eine leichte Anreicherung im Bereich der kranialen Hakenfixation. Unter der Hypothese «chronischer postoperativer Infekt» erfolgt 6 Jahre postoperativ die komplette Metallentfernung. Bei Nachweis einer signifikanten Keimzahl von Proprionibacterium acnes im Biofilm der Stäbe mittels Sonikation folgt eine mehrmonatige resistenzgerechte Antibiotikatherapie mit Rimactan und Penicillin. Die Wundheilung ist regelrecht, der Schmerz in seiner Intensität leicht gebessert, nun jedoch auch in Ruhe vorhanden. Weitere Bildgebungen und Laborbestimmungen sind unauffällig, sodass eine Überweisung in eine interdisziplinäre Schmerzsprechstunde erfolgt. In den 2 bis 3 folgenden Jahren werden verschiedene Schmerzspezialisten aufgesucht. Die Situation bessert sich kaum. Die Chronifizierung sei durch das orthopädische Grundproblem in Kombination mit einer innerfamiliären interkulturellen Problematik (Migrationshintergrund sehr religiöser islamischer Eltern in Kontrast mit der im westlichen, weltlichen Lebensstil sozialisierten Tochter) sowie eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten zu sehen. Anamnestisch besteht eine Vorgeschichte mit heftigen Konflikten mit der Lehrerschaft bis zur Kündigung einer Lehrerin. Als selbstkritischer Orthopäde fragt man sich retrospektiv, zu welchem Zeitpunkt Risikofaktoren der Chronifizierung hätten erfasst werden können und wann eine Überweisung in eine spezialisierte Schmerzsprechstunde hätte erfolgen sollen, respektive ob bei entsprechender initialer Erfassung der biopsychosozialen Situation und einer präoperativen Risikoprofilierung präventiv hätte vorgegangen werden können. Merkpunkte: G Schmerzen am Bewegungsapparat im Wachstum sind häufig. Ihnen liegt – je jünger der Patient, desto eher – meist ein behandelbares morphologisches Korrelat zugrunde. G Sogenannte funktionelle Schmerzen, die definitionsgemäss nicht auf eine klare Pathoanatomie zurückgeführt werden können, sind entweder naturgemäss selbstlimitierend oder sprechen in der Regel auf konservative Therapie, wie zum Beispiel physiotherapeutische Unterstützung, innert weniger Wochen an. G Bei Therapieresistenz, nach sicherem Ausschluss einer zugrunde liegenden Pathologie und einer Dauer von mehr als 3 Monaten muss von chronischen Schmerzen gesprochen werden. G Chronische Schmerzen rechtfertigen eine weitergehende Betreuung durch ein spezialisiertes interdisziplinäres Team. Der Orthopäde sollte in dieser Situation zur Verhinderung einer Somatisierung nicht mehr fallführend sein. 4/2017 PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE 7 FORTBILDUNG 4. Sato T, Ito T, Hirano T, Morita O, Kikuchi R, Endo N et al.: Low back pain in childhood and adolescence: assessment of sports activities. European spine journal: official publication of the European Spine Society, the European Spinal Deformity Society, and the European Section of the Cervical Spine Research Society. 2011 Jan; 20(1): 94–9. PubMed PMID: 20582557. Pubmed Central PMCID: 3036027. 5. Weinstein J: Where is the wisdom in healthcare?: the «wizard of oz»: heart, brain, and courage. Spine. 2010 Jan 01; 35(1): 1–3. PubMed PMID: 20042949. 6. Eckhoff C, Straume B, Kvernmo S: Multisite musculoskeletal pain in adolescence and later mental health disorders: a population-based registry study of Norwegian youth: the NAAHS cohort study. BMJ open. 2017 Feb 10;7(2):e012035. PubMed PMID: 28188150. Pubmed Central PMCID: 5306523. 7. Huguet A, Miro J, Nieto R: The inventory of parent/caregiver responses to the children’s pain experience (IRPEDNA): development and preliminary validation. Pain. 2008 Jan; 134(1-2): 128–39. PubMed PMID: 17509763. 8. Zernikow B, Hermann C: Chronic primary pain disorders in children and adolescents. Schmerz. 2015 Oct; 29(5): 516–21. PubMed PMID: 26289393. Chronische primäre Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen. 9. Zernikow B, Wager J, Hechler T, Hasan C, Rohr U, Dobe M et al.: Characteristics of highly impaired children with severe chronic pain: a 5year retrospective study on 2249 pediatric pain patients. BMC pediatrics. 2012 May 16; 12: 54. PubMed PMID: 22591492. Pubmed Central PMCID: 3404028. Chronische Schmerzen am Bewegungsapparat: «In diesem Bereich besteht ein grosses Bedürfnis» Der Beitrag «Wann braucht der Orthopäde Hilfe» zielt auf die bislang wenig bekannten chronischen Schmerzen am Bewegungsapparat bei Kindern und Jugendlichen. Im Interview spricht Prof. Carol Hasler, Chefarzt Orthopädie UKBB, über die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen und die neuen Behandlungsmöglichkeiten am UKBB für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen am Bewegungsapparat. Psychiatrie & Neurologie: Wie sieht der Ablauf in Ihrer Klinik bei längeren Verläufen aus? Wann und wie erfolgt die Besprechung mit weiteren Fachdisziplinen? Prof. Carol Hasler: Vereinfacht können wir in der Wirbelsäulensprechstunde drei mögliche Verläufe unterscheiden. Die Patienten werden abgeklärt, einer Therapie zugeführt und werden wieder gesund. Kinder und Jugendliche der zweiten Gruppe haben Erkrankungen, bei denen es einer Operation bedarf und die deshalb stationär aufgenommen werden. Nach dem Eingriff geht es ihnen in der Regel wieder gut. Bei der dritten Gruppe finden wir für die Schmerzen kein morphologisches Korrelat in der Bildgebung. Diese Patienten sprechen nicht auf Physiotherapie und so weiter an und haben teilweise mehrjährige Krankheitsverläufe ohne Besserung der Schmerzempfindung oder im Schmerzverlauf (siehe Beitrag S. 4). Früher haben wir diese Patienten als Reaktion noch intensiver und noch länger physiotherapeutisch behandelt. Häufig ohne durchschlagenden Erfolg. Heute überweisen wird sie in die Sprechstunde für chronische Schmerzen. Uns hilft dabei auch, dass wir in der Abklärung diesbezüglich gezielter nachfragen und abklären. Liegen beispielsweise aus der Familienanamnese Angaben vor, dass bereits die Eltern eine Schmerzanamnese haben oder eine IV-Rente aufgrund dieser Problematik beziehen, macht das hellhörig. Oder wenn eine Diskonkordanz in der Schmerzintensität und der Schmerzwahrnehmung vorliegt. Oder wenn das Kind in der Sprechstunde beispielsweise über starke Schmerzen klagt und auf einer Skala von 1 bis 10 eine 9 für starke Schmerzen angibt, aber in der Sprechstunde lachend von den starken Schmerzen erzählt. Zur Schmerzsprechstunde zählen unter anderem Anästhesisten, Psychologen und Schmerzspezialisten, die Zusammenarbeit erfolgt interdisziplinär. Wir organisieren die Überweisung so, dass wir mit dem Patienten und den Eltern die erste Schmerzsprechstunde für 2 bis 3 Minuten begleiten und so sanft in eine andere Behandlungseinheit überleiten können. Die Patienten sollen sich auf keinen Fall abgeschoben fühlen. Dann übernimmt das neue Behandlungsteam die weitere Betreuung. Hat sich in Bezug auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit ein Networking ergeben? Hasler: Mit dem Universitätsspital Basel bilden wir eine Triage, arbeiten beispielsweise eng mit der Anästhesie der Schmerzsprechstunde zusammen. Seit einigen Monaten können wir die jugendlichen Schmerzpatienten auch stationär aufnehmen. Unser Konzept ist angelehnt an dasjenige von Prof. Boris Zernikoff, Chefarzt an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln und Inhaber des Lehrstuhls für Kinderschmerztherapie und pädiatrische Palliativmedizin an der Universität Witten/Herdecke. Die Versorgung erfolgt dort multidisziplinär, und es wird weiter über die optimale Versorgung geforscht. Wir gehen davon aus, dass wir den Patienten mit unserer neuen Versorgung, die wir jetzt aufbauen, viel besser gerecht werden können. Hat die Thematik zu Diskussionen und Weiterbildungen auch bei Orthopäden und Rheumatologen geführt? Respektive sind eventuell schon Leitlinien oder Empfehlungen geplant? Hasler: Für Leitlinien oder Empfehlungen ist es noch zu früh. Wir sind eher dabei, die Informationen im pädiatrischen Bereich zu streuen, und thematisieren diese im Rahmen von Weiterbildungen. Im nächsten Jahr haben wir beispielsweise einen grossen Schweizer Kongress zu dieser Thematik geplant. Wir spüren, dass auch seitens der niedergelassenen Ärzte in diesem Bereich ein grosses Bedürfnis besteht. Sehr geehrter Herr Prof. Hasler, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Interview führte Annegret Czernotta. &8 4/2017 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE