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FORTBILDUNG
Behandlung von spezifischen Phobien in der virtuellen Welt
Dorothée Bentz
Die Expositionstherapie ist das verhaltenstherapeutische Standardverfahren zur Behandlung von spezifischen Phobien und weist eine hohe Wirksamkeit auf (1, 2). Dennoch gibt es eine erhebliche Anzahl von Betroffenen, die keine Behandlung aufsuchen oder eine bereits begonnene Behandlung abbrechen (1, 3). Eine Alternative zur Exposition mit realen Objekten und Situationen (Exposition in vivo) stellt die Exposition in virtueller Realität (Exposition in virtuo) dar. Das Verfahren wird von Patienten gut angenommen und zeigt vergleichbare Wirksamkeitsnachweise wie die Exposition in vivo (4).
von Dorothée Bentz
V irtuelle Realität (engl. virtual reality, VR) ist eine computerbasierte Technologie, mit deren Hilfe therapierelevante Situationen wirklichkeitsnah dargestellt werden können. Während der Exposition in virtuo setzen sich Patienten den bisher vermiedenen Situationen oder Objekten aus, erleben belastende Emotionen wie Furcht und lernen, durch die Exposition ihr Vermeidungsverhalten abzubauen. Derzeit existieren diverse Szenarien zur Behandlung von spezifischen Phobien (z.B. Höhensituationen zur Behandlung von Höhenphobie, Szenarien mit virtuellen Spinnen zur Behandlung von Spinnenphobie). Die jeweiligen Szenarien enthalten phobische Stimuli mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad (z.B. Hochhaus mit unterschiedlich hohen begehbaren Etagen), wobei häufig diverse Kontextvariablen (z.B. viele zusätzliche Menschen vs. keine Menschen in der Situation) variierbar sind (siehe Abbildung). Die Startposition in der VR kann, je nach Ausmass und individueller Ausgestaltung der Phobie und dem Stadium der Therapie, an die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden (siehe Kasten 1). Damit Patienten in der virtuellen Realität Emotionen wie Furcht erfahren können, ist das Erleben eines Mindestmasses an Präsenz unerlässlich. Unter Präsenz versteht man in diesem Zusammenhang die subjektive Wahrnehmung, sich in der computergenerierten Welt zu befinden, auch wenn man sich physisch an einem anderen Ort aufhält. Idealerweise fühlen und verhalten sich die Patienten so, als ob sie sich in der virtuellen Welt befinden würden, und geben dies auch an. Das Erleben von Präsenz wird durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren aufseiten der Patienten (u.a. die Ausprägung der phobischen Angst) und der VR-Technologie (z.B. Einsatz von Soundeffekten) bedingt (Kasten 2) (5, 6). Ein Mindestmass an Präsenzerleben ist eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für eine erfolgreiche Expositionstherapie in der VR.
Behandlungsvorteile in virtueller Realität Die Behandlungsmöglichkeit von spezifischen Phobien in VR stellt eine Alternative für Personen dar, deren Ver-
meidungsverhalten und Furcht derart ausgeprägt sind, dass sie sich nicht vorstellen können, eine Exposition in vivo zu beginnen. Es gibt Hinweise dafür, dass die Hemmschwelle zur Behandlung in virtuo geringer ist und von Patienten bevorzugt wird (3). Die Akzeptanz des Verfahrens ist hoch und geht mit einer vergleichbar geringen Anzahl von Therapieabbrüchen im Vergleich zu Exposition in vivo einher (3, 4). Darüber hinaus bietet VR die Möglichkeit, im Therapiesetting schwer herstellbare Situationen zu schaffen und zu kontrollieren (z.B. stürmische Wetterbedingungen bei einer Höhenexposition) sowie Situationen ohne hohen Vorbereitungs-, Zeit- und Kostenaufwand für Therapeut und Patient virtuell aufzusuchen. Ausserdem können einzelne Situationen beliebig wiederholt und an den Patienten individuell angepasst werden, ohne dass der Therapeut oder der Patient mit ungeplanten Ereignissen rechnen muss (z.B. Begegnen eines Bekannten). Insgesamt hat der Patient die Möglichkeit, sich seinen phobischen Ängsten in einem geschützten Rahmen unter kontrollierten Bedingungen auszusetzen (6).
Ablauf einer Expositionstherapie in VR Das Vorgehen einer Exposition in virtuo entspricht dem Vorgehen einer Exposition in vivo. Bevor der Patient beginnt, sich den furchtauslösenden Stimuli in VR auszusetzen, erarbeitet der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten eine Furchthierarchie, indem er die Situationen, die er derzeit vermeidet oder nur unter grosser Furcht aushält, mittels der Subjective Units of Discomfort (SUDS) auf einer Skala von 0 bis 100 einschätzt. Wobei 0 für den Patienten mit keinerlei Furcht einhergeht und 100 der am grössten vorstellbaren Furcht entspricht. Die zentrale Aufgabe des Therapeuten ist es – wie bei der Exposition in vivo –, dem Patienten das Rationale von Expositionstherapien, nämlich das Verhalten, sich den furchtauslösenden Stimuli wiederholt auszusetzen, näherzubringen und während der Exposition den Patienten beim Abbau des Vermeidungsverhaltens zu unterstützen und ihn dafür zu verstärken. Hinzu kommt bei der Exposition in virtuo, dass der Therapeut den Patienten mit der VR-Technologie vertraut macht. Während der Therapie befindet sich der Therapeut im gleichen realen Raum wie der Patient, kann mit ihm verbal interagieren und über einen zweiten Bild-
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Abbildung: Ausschnitte aus einem VR-Szenario zur Behandlung von Akrophobie.
Der Patient kann sich im Hochhaus frei bewegen. Die Exposition erfolgt individualisiert und gestuft auf ver-
schiedenen Höhenniveaus und in diversen Situationen (z.B. Lift, Fenster, Dachterrasse). Einzelne Expositions-
stufen lassen sich beliebig oft wiederholen.
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schirm den Ausschnitt der VR sehen, welcher aktuell im Blickfeld des Patienten ist. Das Ausmass der Exposition kann an die Furcht des Patienten angepasst werden, indem in regelmässigen Abständen die Furcht mittels SUDS durch den Patienten eingeschätzt wird. Mittels eines spezifischen Protokollbogens können das Ausmass der Furcht von 0 bis 100 sowie die jeweilige Situation, in der diese auftrat, protokolliert und die Exposition an den individuellen Patienten angepasst werden (7).
Kasten 1:
Technisches Set-up für eine Expositionstherapie in virtueller Realität
Neben entsprechender Hardware, bestehend aus einem Computer mit leistungsstarker Grafikkarte als VR-/Bildgenerator, einem Steuer- und Kontrollsystem und einer auf dem Kopf des Patienten befestigten Videobrille (Head Mounted Display, HMD) als Anzeigesystem mit integriertem Tracking der Kopfbewegungen wird auch eine entsprechende Software mit therapierelevanten Szenarien benötigt. Diese Software bieten die Firmen Virtually Better (http://www.virtuallybetter.com), Virtual Reality Medical Center (http://www.vrphobia.com) oder im deutschsprachigen Raum auch VTplus (https://www.vtplus.eu) an. Zur Verfügung stehen Standardszenarien zur Behandlung von spezifischen Phobien in VR wie Höhen-, Flug- oder Spinnenphobie, aber auch die Entwicklung spezifischer Szenarien ist möglich. Der Patient interagiert mit Eingabegeräten wie Gamepad, Joystick, Controller.
Wirksamkeit der Expositionstherapie in VR Die erste kontrollierte Studie zur Behandlung von spezifischen Phobien in VR wurde bereits vor 20 Jahren durchgeführt. Inzwischen gibt es zahlreiche Studien zur Behandlung von spezifischen Phobien in VR, welche zeigen, dass durch Exposition in virtuo die phobische Angst reduziert werden kann und dass sich dies auch in einer Reduktion des Vermeidungsverhaltens in realen Alltagssituationen widerspiegelt (4). In den deutschen S3-Leitlinien zur Behandlung von Angststörungen wird die Behandlung von spezifischen Phobien mit VR empfohlen, wenn keine Exposition in vivo verfügbar ist. Inzwischen liegt eine gute Evidenzlage vor, um spezifische Phobien wie Spinnen-, Flug- und Höhenphobie mit Exposition in virtuo zu behandeln (8).
Kontraindikationen, Nebenwirkungen, Grenzen der VR Es bestehen spezifische Kontraindikationen für die Behandlung in VR, die zur Sicherheit des Patienten vor der Aufnahme der Therapie abgeklärt werden müssen. Darunter fallen unter anderem körperliche Kontraindikationen wie Migräne, Anfallserkrankungen (z.B. Epilepsie), Beeinträchtigung des Sehens und Hörens und Gleichgewichtsstörungen sowie psychische Kontraindikationen wie starke Furcht vor engen Räumen (Klaustrophobie) (6). Fehlendes Erleben von Präsenz ist einer der Hauptgründe
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für Therapieabbrüche und dafür, dass eine Exposition in virtuo nicht aufgenommen wird. Sie ist damit ebenfalls als eine klare Kontraindikation für eine Exposition in virtuo zu sehen. Es gibt Hinweise, dass mangelndes Präsenzerleben während der Therapie auch mit einer geringen Ausprägung der Furcht vor Therapiebeginn zusammenhängt (9). Dies spricht dafür, dass Exposition in virtuo nicht für Patienten geeignet ist, die eine gering ausgeprägte spezifische Phobie aufweisen. Des Weiteren muss der Patient über mögliche Nebenwirkungen informiert werden. Durch das Eintauchen in die VR kann es zu Simulations- oder Simulatorübelkeit, auch Cybersickness genannt, kommen, die mit Symptomen wie Übelkeit, Schwindel und Kopfweh der Kinetose ähnelt, jedoch auch andere Symptome aufweist wie zum Beispiel Desorientierung des Patienten (6). Die Symptome beginnen meist während der Exposition, nehmen nach 10 bis 20 Minuten in der VR zu und hören in der Regel kurz nach dem Verlassen der VR wieder auf (10). Um diese Symptome zu minimieren, ist eine Therapiedauer für maximal 20 bis 30 Minuten anzusetzen beziehungsweise nach dieser Zeit eine kurze Pause zu machen. Auch eine langsame Angewöhnung an die VR-Technologie und das Durchführen der Therapie im Sitzen sowie das Vermeiden schneller Kopfbewegungen und eine entsprechende Instruktion an den Patienten können das Erleben von Cybersickness vermindern. Darüber hinaus vermindert der Einsatz neuer, verbesserter HMD mit guter Bildschirmqualität die Cybersickness, da ein gutes Tracking der Kopfposition im realen Raum möglich ist sowie eine geringere Zeitverzögerung bezüglich der Veränderung des Sichtfelds infolge der Kopfbewegung des Patienten (11). Trotzdem kann ein gewisser Anteil von Personen eine ausgeprägte Cybersickness erleben. Für diese Subgruppe ist dieses Verfahren nicht ratsam.
Fazit für die Praxis
Die Behandlung von spezifischen Phobien in VR stellt
eine Alternative zu den konventionellen Expositionsver-
fahren dar, vor allem für Patienten, die eine Exposition
in vivo ablehnen oder bei denen Expositionssituationen
in vivo schwer oder nur mit hohem finanziellem Auf-
wand herstellbar sind. Derzeit existieren wissenschaft-
lich evaluierte VR-Szenarien zur Behandlung von
Phobien. Weitere Einsatzbereiche werden fortlaufend
entwickelt und untersucht. Gesunkene Anschaffungs-
kosten des benötigten Equipments zur Generierung der
VR, eine kontinuierliche Weiterentwicklung der VR-Tech-
nologie und eine daraus resultierende Benutzerfreund-
lichkeit für Therapeuten erleichtern den Einsatz in der
klinischen Praxis.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Dorothée Bentz
Leitung Labor für virtuelle Realität und Psychophysiologie
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
4002 Basel
E-Mail: Dorothee.Bentz@upkbs.ch
Literatur:
1. Choy Y, Fyer AJ, Lipsitz JD: Treatment of specific phobia in adults. Clin Psychol Rev 2007; 27: 266–286.
2. Wolitzky-Taylor KB, Horowitz JD, Powers MB, Telch MJ: Psychological approaches in the treatment of specific phobias: a meta-analysis. Clin Psychol Rev 2008; 28: 1021–1037.
Kasten 2:
Faktoren, welche das Präsenzerleben in VR begünstigen
Minimierung technologieabhängiger Störfaktoren: G Beseitigung von störenden Licht- und Geräuschquellen (z.B. durch Kopfhörer,
die Aussengeräusche senken) G Head Mounted Display an Kopfform anpassen
Einsatz zusätzlicher sensorischer Reize: G Akustisch: z.B. Windgeräusche in Höhensituation über Kopfhörer einspielen G Haptisch: z.B. Geländer zum Drüberlehnen in Höhensituation G Sensorisch: z.B. Windsimulation G Olfaktorisch: z.B. Geruch von Blut bei Blut-Spritzen-Verletzungsphobie
Therapeutenverhalten: G Therapeut sollte sich so verhalten/kommunizieren, als ob er mit dem Patienten
in der virtuellen Welt wäre.
Realitätsnahe Interaktionsmöglichkeiten: G Möglichkeiten zur Interaktion mit der virtuellen Umgebung, z.B. der virtuelle
Knopf, um den Lift zu betätigen G Einsatz eines Datenhandschuhs (data glove), der mittels Bewegungssensoren
Handbewegungen des Patienten überträgt
3. Garcia-Palacios A, Bottela C, Hoffman H, Fabregat S: Comparing acceptance and refusal rates of virtual reality exposure vs. in vivo exposure by patients with specific phobias. Cyberpsychol Behav 2007; 10: 722–724.
4. Morina N, Ijntema H, Meyenbröker K, Emmelkamp PM: Can virtual reality exposure therapy gains be generalized to real-life. A metaanalysis of studies applying behavioral assessments. Behav Res Ther 2015; 74: 18–24.
5. Witmer BG, Singer MJ: Measuring presence in virtual environments: A questionnaire. Presence: Teleoperators and Virtual Environments 1998; 7: 225–240.
6. Gorini A, Riva G: Virtual reality in anxiety disorders: the past and the furture. Expert Rev Neurother 2008; 8: 215–233.
7. Bentz D, Pfaltz M, Wilhelm FH 2011. Therapie in Virtueller Realität. Meinlschmidt G, Schneider S, Margraf J (Ed.). Lehrbuch für Verhaltenstherapie: Materialien für die Psychotherapie. Berlin: Springer.
8. Bandelow B, Lichte TH, Rudolf S, Wiltink J, Beutel M (Hrsg.): S3-Leitlinie Angststörungen. Springer.
9. Ling Y, Nefs HT, Morina N, Heynderickx I, Brinkman WP: A meta-analysis on the relationship between self-reported presence and anxiety in virtual reality exposure therapy for anxiety disorders. PloS one 2014; 9: e96144.
10. Regan EC, Price KR: The frequency of occurrence and severity of sideeffects of immersion virtual reality. Aviat Space Environ Med, 1994; 65: 527–350.
11. Davis S, Nesbitt K, Nalivaiko E: A systematic review of cybersickness. Proceedings of the 2014 Conference on Interactive Entertainment. 2014; 1–9.
Merkpunkte:
G Während der Expositionstherapie in virtuo exponieren sich Patienten in speziell dafür evaluierten virtuellen Szenarien mit virtuellen Objekten oder Situationen, die Furcht oder Angst auslösen.
G Expositionstherapie in virtuo eignet sich besonders gut für Patienten, die eine Exposition in vivo ablehnen oder bei denen furchtauslösende Situationen schwer oder nur mit hohem finanziellem Aufwand herstellbar sind.
G Das Vorgehen in der Expositionstherapie in virtuo entspricht der Expositionstherapie in vivo.
G Expositionstherapien in virtueller Realität werden gut akzeptiert und zeigen vergleichbare Wirksamkeit wie Expositionstherapien in vivo zur Behandlung von spezifischen Phobien zum Abbau von Furcht und Vermeidungsverhalten.
G Es gibt Kontraindikationen (z.B. Migräne) und Nebenwirkungen (z.B. Cybersickness) der Behandlung in virtuo, die abgeklärt und erfasst werden müssen.
G Cybersickness tritt häufig im vom Patienten tolerierbaren Rahmen auf, kann aber auch zum Therapieabbruch führen. Durch spezifische Massnahmen lässt sie sich reduzieren.
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