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SERIE: NEUE ENTWICKLUNGEN IN DER SUCHTMEDIZIN TEIL 6
Liebe Leserin, lieber Leser Sucht ist eine komplexe Krankheit mit vielfältigen psychischen, physischen und sozialen Konsequenzen. Ärzten kommt in der Behandlung und Betreuung eine wichtige Rolle zu. In unserer Serie zu neuen Entwicklungen in der Suchtmedizin möchten wir Ihnen den aktuellen Forschungsstand in der Neurobiologie, der Pharmakotherapie und der Psychotherapie in ausgewählten suchtmedizinischen Krankheitsbildern aufzeigen. Die Serie wird fachlich von Prof. Dr. Marc Walter, Chefarzt und stellvertretender Klinikdirektor an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, begleitet, der Mitherausgeber von «Psychiatrie & Neurologie» ist.
Teil 6: Hilfe über das Netz: Die Zukunft der Versorgung von Sucht und Komorbidität?
Suchtprävention wird allgemein als wichtig anerkannt. Viele Betroffene mit schädlichem Suchtmittelkonsum und/oder psychischen Krisen erhalten weltweit aber oftmals nie eine fachgerechte Therapie – aus Mangel an Erreichbarkeit und Kapazität der Hilfen. Das Web ist heute insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene der entscheidende Zugang zur Kommunikation und in Zukunft auch zum Hilfesystem. Dort haben sich immer mehr Ressourcen entwickelt, die Teile eines integrierten Systems einer zukünftigen Versorgung oder psychosozialen Versorgung von Suchtkranken bilden könnten. Diese werden anhand internationaler und Schweizer Beispiele mit dem Ziel präsentiert, die Möglichkeiten auszuloten und die Diskussion über einen Paradigmenwechsel in der Versorgung anzuregen.
Michael Krausz
von Michael Krausz und Thomas Berger1
Herausforderungen Das Gesundheitssystem ist unter Druck. Die Ressourcen sind begrenzt, und der Bedarf steigt. Viele Strukturen und klinische Pfade sind historisch verständlich, aber nicht sinnvoll vor dem Hintergrund aktuellen Wissens. Darum ist es sinnvoll, sich über Alternativen zeitig Gedanken zu machen und diese proaktiv zu gestalten. Ein paar Beispiele: 1. Der Zugang zum Hilfesystem ist sehr begrenzt.
Selbst in der Schweiz, dem Land mit dem wohl innovativsten Suchthilfesystem, gibt es Restriktionen und Barrieren lokaler oder individueller Art. Oft ist es gerade für diejenigen, die besonders bedürftig sind, besonders schwierig, Unterstützung zu finden. 2. Der Konsum schädlicher Substanzen ist ein grosses Problem, gemessen an der Zahl der Betroffenen und der Schwere der Folgeprobleme. Kapazitäten sind begrenzt und werden oft nicht optimal genutzt.
1 Prof. Dr. med. Thomas Berger, Universität Bern
3. Wir sind häufig zu spät mit den Interventionen und verwenden das meiste Geld auf Krisenintervention. Junge Menschen sind die am schwersten zu erreichenden Patienten. Ein umfassendes System der Frühintervention oder gar der Prävention muss noch geschaffen werden.
4. Die Qualität der Versorgung ist von Angebot zu Angebot sehr unterschiedlich. Sie zu messen und zu verbessern, braucht ein einheitliches dynamisches System.
5. Der Einbezug von Peers und ihre Vernetzung mit professionellen Angeboten ist enorm wichtig, dazu bedarf es eines Kommunikations- und Zugangsnetzes.
6. Die Zahl der Fachleute sinkt in manchen Bereichen der Behandlung. So kann die Aufrechterhaltung des Substitutionsangebotes bald zu einem Problem werden, besonders in kleineren Gemeinden.
Wie können webbasierte Lösungen und E-MentalHealth (EMH) helfen, diesen Herausforderungen zu begegnen? Weil webbasierte Lösungen den bisherigen Dimensionen der Versorgung weitere hinzufügt und sich erstmals die Chance bietet, veränderte Behandlungspara-
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digmen in die Realität umzusetzen. Es geht also um den Paradigmenwechsel in Bezug auf das «Was» und das «Wie». Für das «Was» ist Patientenempowerment ein gutes Beispiel: sich frei von Stigma in die Lage zu versetzen, Risiken zu meistern. Für das «Wie» sind virtuelle Kliniken als zentrale Behandlungsangebote eine Möglichkeit, effektiv spezialisierte Hilfe zu leisten.
Hilfen über das Netz als Zukunft der Versorgung von Sucht und Komorbidität? Der Gebrauch mobiler Kommunikation ist neuer Standard, und das Internet wird universell genutzt. Die Art von Lösungen, die heute im Netz verfügbar sind, konzentrieren sich zum grossen Teil auf Informationsverbreitung und die Kommunikation zwischen Betroffenen und Beratern. Webseiten mit analogen Informationen ohne Anwendungen oder Interaktivität und Beratungsangebote per E-Mail machen die Masse aus. Interaktive Apps oder Webplattformen, die die Möglichkeiten der neuen Technologien und der Kommunikationsformen vollständig ausschöpfen, sind die Ausnahme. Vier Beispiele zeigen indes innovative Entwicklungen auf: G Das Schweizer Onlineportal zu Suchtfragen: Safe-
zone.ch ist ein vom Bundesamt für Gesundheit in Zusammenarbeit mit den Kantonen und mit auf Sucht spezialisierten Organisationen zur Verfügung gestelltes Onlineportal, welches ein thematisch breit ausgerichtetes Onlineberatungsangebot umfasst und gleichermassen Erwachsene, Jugendliche, Betroffene und Angehörige anspricht. Die zentral administrierte Webplattform bietet mit qualifizierten Fachpersonen aus den Bereichen Prävention, Beratung/Behandlung und Selbsthilfe zeitgemässe Onlineunterstützung unter anderem mit Mail-, Chat- und Forenberatungen sowie Onlineselbsttests und Onlineselbsthilfeprogrammen (www.safezone.ch). G Kontrollierter Konsum von Alkohol und Drogen: Mehrere Anwendungen des Schweizer Instituts für Sucht und Gesundheitsforschung (www.isfg.ch) zielen auf die Kontrolle des Konsums von Substanzen wie Kokain (Snow Control; Schaub et al., 2011) oder Cannabis (Can Reduce; Schaub et al., 2015). Es handelt es sich um gut gemachte Selbsthilfeprogramme, die mit oder ohne therapeutische Unterstützung angeboten werden. G Tabakentwöhnung: Die Zigarettenentwöhnung ist der am weitesten entwickelte Bereich in der Onlinehilfe bei der Überwindung von schädlichem Konsum psychotroper Substanzen und wird massiv auch aus der Krebsprävention (www.krebsliga.ch) gefördert. «Rauchfrei» (www.rauchfrei.at) bietet mit einer App konkrete Hilfestellungen bei Vorbereitung, Umsetzung und Aufrechterhaltung der Abstinenz sowie interaktive Unterstützungstools. In der Schweiz erlangte insbesondere die Smoke-Free-Buddy-App (www.smokefree.ch), die im Rahmen der Tabakpräventionskampagne SmokeFree vom Bundesamt für Gesundheit lanciert wurde, Bekanntheit. G Ambulante Nachsorge nach der Entwöhnungstherapie: Entwöhnungsbehandlungen finden häufig nicht am Lebensort statt, was die Nachsorge er-
schwert. An der Universität Greifswald wurden automatisiert Nachrichten auf die Handys der Patienten versendet, was von den Betroffenen als positiv verbucht wurde (Lucht et al., 2014, http://alcalc.oxfordjournals.org/content/50/2/188). G Online-Interventionen bei zugrunde liegenden oder komorbiden psychischen Störungen sind wichtig, denn Substanzkonsum kommt selten allein. Depressive Störungen, Angst- und Schlafstörungen und Trauma spielen eine zentrale Rolle. Die Erforschung und die Anwendung von Onlineinterventionen bei diesen häufigen psychischen Störungen hat in den letzten Jahren enormen Zuwachs erfahren. Insbesondere sogenannte angeleitete Selbsthilfeansätze haben sich in den letzten Jahren unter anderem bei Angststörungen und Depressionen als sehr effektiv erwiesen. Patienten arbeiten sich hier Schritt für Schritt durch mehrere Therapiemodule eines auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden basierenden Selbsthilfeprogramms und werden gleichzeitig von Coaches oder Therapeuten unterstützt (Berger, 2015). Da ein Teil der Intervention an ein Selbsthilfeprogramm delegiert wird, ist das Ausmass des therapeutischen Kontaktes im Vergleich zu Face-to-Face-Therapien reduziert. Verschiedene Metaanalysen zu den inzwischen über 100 kontrollierten Studien zeigen, dass mit solchen angeleiteten Programmen bei verschiedenen Störungen Behandlungseffekte erreicht werden, die mit der Wirkung von konventionellen Psychotherapien vergleichbar sind (Andersson, Cuijpers, Carlbring, Riper, & Hedman, 2014; Hedman, Ljotsson, & Lindefors, 2012). In der Schweiz ist unter anderem das Institut für Psychologie der Universität Bern ein aktiver Mitentwickler in diesem Bereich (www.online-therapy.ch; z.B. Berger et al., 2011ab; Berger et al., 2014; Berger et al., 2017).
Diskussion – «disruptive Innovation»? In der Entwicklung neuer Technologien ist die Entwicklungsstrategie essenziell für den Erfolg. Ein Schlüsselbegriff lautet diesbezüglich «disruptiv». In der Medizin wird das nicht anders sein, aber was kann das neben der weiteren Verlagerung des Informationsangebotes ins Netz heissen?
Hier zwei Beispiele: G Jugendliche in Risikosituationen durch Lifestyle-
beratung, Prävention und Frühintervention zu erreichen, ist eine besondere Herausforderung und ein ideales Forschungsfeld. Die am meisten unterversorgte Zielgruppe kommuniziert fast nur noch mobil! Eine Plattform für diese Arbeit würde ein ganzes System verändern und könnte Aufklärung, Onlineberatung, Psychotherapie und Früherkennung unter anderem integrieren. G Virtuelle Suchttherapie und Substitutionskliniken sind technisch schon heute möglich (Krausz et al., 2015). Sie sind das ideale Bindeglied zwischen direkter Interaktion und Onlineressourcen, schaffen Flexibilität und Kapazitäten. Insbesondere Australien und Neuseeland haben eine Strategie zur Implementierung und zur weiteren Entwicklung und berichten über sehr positive Erfahrungen.
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Schlussfolgerungen E-Mental-Health ist für die Zukunft der suchtmedizinischen Versorgung essenziell, weil sie Möglichkeiten eröffnet, den absehbaren und bestehenden Herausforderungen zum Beispiel der Suchtkrankenversorgung zu begegnen. Die technischen Voraussetzungen sind da, aber deren klinische Entwicklung und deren Implementierung sind die kritischen Schritte. Insgesamt hat die Schweiz mit ihren bereits bestehenden Angeboten gute Voraussetzungen, den positiven Beispielen wie Neuseeland zu folgen und international weiterhin eine Spitzenrolle in der klinischen Versorgung zu spielen. G
Korrespondenzadresse: Michael Krausz MD, PhD, FRCPC UBC-Providence Leadership Chair
for Addiction Research Professor of Psychiatry Director Addiction Psychiatry Institute of Mental Health at UBC David Strangway Building room 430 5950 University Boulevard
Vancouver, BC V6T 1Z3
E-Mail: mkrausz@mail.ubc.ca
Literatur:
1. Andersson, G., Cuijpers, P., Carlbring, P., Riper, H., Hedman, E.: Guided Internet-based vs. face-to-face cognitive behavior therapy for psychiatric and somatic disorders: a systematic review and meta-analysis. World Psychiatry 2014, 13(3), 288–295.
2. Berger, T., Urech, A., Krieger, T., Stolz, T., Schulz, A., Vincent, A., Moser, C.T., Moritz, S., Meyer, B.: Effects of a transdiagnostic unguided Internet intervention («velibra») for anxiety disorders in primary care: Results of a randomised controlled trial. Psychological Medicine 2017, 47, 67–80.
3. Berger, T. (2015). Internetbasierte Interventionen bei psychischen Störungen. Göttingen: Hogrefe.
4. Berger, T., Boettcher, J., Caspar, F.: Internet-Based Guided Self-Help for Several Anxiety Disorders: A Randomized Controlled Trial Comparing a Tailored With a Standardized Disorder-Specific Approach. Psychotherapy (Chic) 2014, 51, 207–219.
5. Berger, T., Caspar, F., Richardson, R., Kneubühler, B., Sutter, D., Andersson, G.: Internet-based treatment of social phobia: A randomized controlled trial comparing unguided with two types of guided selfhelp. Behaviour Research and Therapy 2011, 49, 158–169.
6. Berger, T., Haemmerli, K., Gubser, N., Andersson, G., Caspar, F.: Internet-based treatment of depression: A randomized controlled trial comparing guided with unguided self-help. Cognitive Behaviour Therapy 2011, 40, 251–266.
7. Hedman, E., Ljotsson, B., Lindefors, N.: Cognitive behavior therapy via the Internet: a systematic review of applications, clinical efficacy and cost-effectiveness. Expert Review of Pharmacoecononimcs & Outcomes Research 2012, 12(6), 745–764.
8. Krausz, M., Ward, J., Ramsey, D. (2015). From Telehealth to an Interactive Virtual Clinic. In D. Mucic & D. M. Hilty (Eds.), e-Mental Health (1st ed., pp. 289–310). Cham, Heidelberg, New York, Dordrecht, London: Springer International. http://doi.org/10.1007/978-3-319-20852-7
9. Lucht, MJ.; Hoffman, L., Haug, S., Meyer, C., Pussehl, D., Quellmalz, A., Klauer, T., Grabe, HJ., Freyberger, HJ., John, U., Schomerus, G.: Mobiltelefonische Interventionen nach Entzugsbehandlung alkoholabhängiger Patienten. Suchtmedizin in Forschung und Praxis 2014, 16(4): 181–186.
10. Schaub, M., Sullivan, R., Stark, L.: BMC Psychiatry 2011 Sep 25;11: 153. doi: 10.1186/1471-244X-11–153.
11. Schaub, MP., Wenger, A., Berg, O., Beck, T., Stark, L., Buehler, E., Haug, S.: A web-based self-help intervention with and without chat counseling to reduce cannabis use in problematic cannabis users: Threearm randomized controlled trial. Journal of Medical Internet Research 2015, 17(10). https://doi.org/10.2196/jmir.4860.
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