Transkript
SYMPOSIUM
1. Symposium Facettenreiche Demenz
Aktuelle Erkenntnisse von der Diagnose zur Therapie
Am 1. Symposium Facettenreiche Demenz sprachen Experten über praxisnahe und praxisrelevante medizinische Themen aus dem Kreis der demenziellen Erkrankungen. Wie kann beispielsweise für eine gute Mundhygiene gesorgt werden? Oder wie sieht heute die moderne Behandlung demenziell erkrankter Menschen aus? Namhafte Experten aus der Schweiz gaben Antwort auf die brennenden Fragen.
Pflegende: Herr B. ist seit ein paar Tagen unruhig und gereizt? Könnte es sein, dass er Zahnschmerzen hat? Zahnarzt: Wann war Herr B. das letzte Mal in zahnärztlicher Kontrolle? Pflegende: Das muss mehr als drei Jahre zurückliegen. Zahnarzt: Ihre Frage zu beantworten, wird schwierig werden. 12 der 20 Zähne weisen kariöse Läsionen auf, und Herr B. kann uns nicht ohne Weiteres mitteilen, ob und wo er Schmerzen hat.
Entzündungsprozesse zunimmt. Denn orale Erkrankungen haben mögliche Wechselwirkungen: So beeinträchtigt die Parodontitis die Behandelbarkeit des Altersdiabetes, Zahnfleischentzündungen können Pneumonien begünstigen, Zahnverlust im Alter kann sogar die Gangsicherheit und die kognitive Leistungsfähigkeit beinträchtigen. Dabei wird das Problem zukünftig wahrscheinlich noch grösser werden, da die heutige Generation mehr Implantate trägt als früher. Werden sie aufgrund von Krankheit langfristig schlechter gepflegt, sind Infektionen bis zur Knochenstruktur möglich, so Prof. Besimo.
Zähne ziehen bei Demenzkranken?
I n der Schweiz leben gemäss Hochrechnungen mehr als 110 000 Menschen mit Demenz. In der Versorgung demenziell erkrankter Menschen hat sich in den letzten Jahren viel getan. Neue Wohnstrukturen werden erprobt, neue Medikamente erforscht. Die Zahn- und Mundgesundheit ist jedoch ein Stiefkind in der Betreuung von Menschen mit einer Demenz geblieben – obwohl die Thematik ein grosses Problem ist. Zahlen, Fakten und Massnahmen für die Zukunft stellte der Zahnexperte Prof. Christian E. Besimo, Seeklinik Brunnen, vor. Der Zahnmediziner betreut neben seiner Arbeit in der Praxis auch eine Institution mit demenziell erkrankten Menschen in der Zentralschweiz. In einer eigenen Studie zeigte sich, dass 60 Prozent der Bewohner, die eigene Zähne hatten, Karies aufwiesen. Eine Entzündung des Zahnfleisches lag zu 85 Prozent vor. Entzündungen der übrigen Mundschleimhäute traten bei 35 Prozent der Bewohner auf. Der letzte Zahnarztbesuch lag im Mittel 25 Monate und im Extremfall sogar 60 Monate zurück. Die Daten sind laut Prof. Besimo besonders alarmierend, weil die Bewohner von einer qualitativ hochstehenden Betreuung profitierten.
Die Daten geben aber auch zu denken, weil die Belastung des Gesamtorganismus durch orale
Was wäre zu tun, damit die oralen Entzündungsrisiken reduziert werden können? Nach Angaben des Zahnarztes sollte gleich bei der Diagnosestellung Demenz ein in der Behandlung von Demenzkranken erfahrenes Zahnarztteam einbezogen werden. Denn nur so lassen sich Erkrankungsrisiken frühzeitig erkennen und beispielsweise durch die Extraktion fraglicher Zähne oder, falls indiziert, durch prothetische Massnahmen reduzieren. Die Kaufähigkeit und die Beschwerdefreiheit im Mund bleiben während der stationären Behandlung so gewährleistet. Ein weiterer Vorteil: Durch die frühzeitigen Massnahmen kann sich der demenziell erkrankte Mensch noch an veränderte Mundsituationen gewöhnen.
Geht die Eigenständigkeit hingegen immer mehr zurück und kann der erkrankte Mensch die Zähne nicht mehr selbstständig pflegen, sollten ausreichend entzündungs- und karieshemmende Zahnpasten, -gels und Mundspüllösungen eingesetzt werden. Zuckerhaltige Nahrungsmittel sind, soweit möglich, auf die Zeiten zu beschränken, nach welchen eine Mund- und Zahnhygiene erfolgen kann. Täglich sollten zudem mit einer ultraweichen Zahnbürste die Zähne gepflegt werden, oder, wenn das nicht möglich ist, dann einmal pro Woche gründlich mit einer hochfluoridhaltigen Zahnpasta. Über Nacht sollten abnehmbare
Prothesen zur Desinfektion trocken gelagert werden. Schliesslich soll und muss sich laut Prof. Besimo das betreuende Zahnarztteam an die Situation des Demenzkranken anpassen. Aufgrund der stiefmütterlichen Behandlung von Zahn- und Mundgesundheit hat der Zahnarzt eine Arbeitsgemeinschaft für orale Medizin für das Alter (ARGE OMA, www.argeoma.ch) gegründet. Die neue Plattform möchte Wissen vermitteln und Unterstützung anbieten.
Aktuelle Erkenntnisse von der Diagnose zur Therapie 1983 setzten das National Institute of Neurological and Communicative Disorders and Stroke (NINCDS) und die Alzheimer’s Disease and Related Disorders Association (ADRDA) erstmals eine Expertengruppe ein, um die klinische Diagnose der Alzheimer-Krankheit zu beschreiben und entsprechende Kriterien zu entwickeln (1). Damals wurden verschiedene Grade der diagnostischen Sicherheit («mögliche» versus «wahrscheinliche» Alzheimer-Krankheit) angenommen, da am lebenden Organismus keine ausschliessende Diagnose möglich war.
Allerdings wurde in darauffolgenden Studien immer wieder eine Alzheimer-Pathologie ohne die begleitenden klinischen Merkmale der Alzheimer-Krankheit gefunden. Jack et al. (2) verwiesen erstmals auf Ergebnisse, die zeigten, dass eine Alzheimer-Pathologie – vor allem diffuse Amyloidplaques – vorliegen kann, ohne dass es klinische Symptome gibt. Ausserdem kann sich die Pathophysiologie einer Alzheimer-Demenz auch in klinisch sehr atypischen Formen präsentieren. Die damalige Verwirrung spiegelt auch heute noch das grosse Problem in der AlzheimerFrühdiagnostik wider: So durchläuft jede Person vor Erreichen der Demenz eine Phase des Mild Cognitive Impairment (MCI), doch bei einem relevanten Anteil betroffener Personen bleibt dieses stabil oder bildet sich gar wieder zurück. Auch die Hypothese, dass APOE4-Träger genetisch bedingt an der Alzheimer-Krankheit erkranken, lässt sich nicht in allen Fällen bestätigen. Es gibt Menschen, die trotz der genetischen Veranlagung keine Alzheimer-Krankheit entwickeln. Prof. Reto W. Kressig, Bereichsleiter Universitäre Altersmedizin und Chefarzt am Felix-PlatterSpital in Basel, ging mit dem Hintergrund der schwierigen Diagnostik auf die neue Forschung und die aktuellen Medikamente in der Demenzbehandlung ein.
&28 4/2016
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
SYMPOSIUM
So scheinen laut neuen Forschungsergebnissen Amyloid-beta42 und Tauproteine zentrale zerebrospinale Biomarker in der Entstehung der Alzheimer-Krankheit zu sein. Zu den neuen Biomarkern zählen auch Amyloid-beta-Oligomere und Synapsenmarker. Diagnostisch etabliert haben sich die Magnetresonanz und das Fluodesoxyglukose-PET. Da bis heute die Therapie nur symptomatisch möglich ist, verlagert sich die Forschung zunehmend auf therapeutische Ansätze, die sich auf das präklinische Stadium der Alzheimer-Krankheit konzentrieren. Präklinisch würde bedeuten, dass es Biomarker gibt, die bereits dann einen Hinweis geben, wenn die Betroffenen keine oder nur wenige Auffälligkeiten in der Kognition haben. Die spezifische Anti-Alzheimer-Therapie wäre dann eine Therapie, die Interventionen in Bezug auf die Lifestylefaktoren umfasst, aber auch medikamentöse Interventionen bereits im frühen Stadium der Erkrankung vor Symptomausbruch ermöglicht.
Meilenstein FINGER Als Meilenstein zu bewerten sind diesbezüglich die Ergebnisse der doppelblinden, randomisiert-kontrollierten FINGER-Studie aus Skandinavien. Die Studie FINGER (Finnish Geriatric Intervention Study to Prevent Cognitive Impairment and Disability [3]) zeigt, dass mit einer Kombination aus gesunder Ernährung, Bewegung, Kognitionstraining sowie einer engmaschigen Überwachung vaskulärer Risiken die Kognition älterer Menschen mit erhöhtem Demenzrisiko signifikant verbessert werden kann.
Nachdem die amyloidbezogenen Antikörpertherapien wegen Wirkungslosigkeit vorerst abgebrochen worden sind, geht die Forschung in dieser Richtung jetzt doch weiter, da man die vorhandenen Daten unter neuen Vorzeichen erneut auswertet und untersucht.
Der in Zürich entwickelte Beta-Amyloid-Antikörper zeigte in Phase I überraschende Ergebnisse: Mehr oder weniger dosisabhängig gingen einerseits die Ablagerungen im Gehirn nach 54 Wochen bei den 166 Alzheimer-Patienten signifikant zurück, andererseits verbesserte sich auch die Kognition. Eine soeben anlaufende grosse Phase-III-Studie, die voraussichtlich bis 2018 läuft, soll nun für Klarheit sorgen. Am weitesten fortgeschritten ist der Antikörper Solanezumab. Dabei handelt es sich, nach einer primär abgebrochenen Phase-III-Studie, um einen erneuten Anlauf mit einer Untergruppe von biomarkergestützen Hochrisikopatienten. Ergebnisse werden bis Anfang 2017 erwartet.
Axovant, ein neues symptomatisches Molekül, das auf den 5-HT6-Serotonin-Rezeptor zielt, zeigte in einer Studie als Add-on zu Donezepil positive Effekte, sodass mit einer baldigen
Markteinführung und einer Erweiterung der heutigen symptomatischen Therapieoptionen gerechnet werden kann.
Strenge Evidenz im Sinne einer möglichen Demenzprävention zeigen Mikronährstoffe wie Vitamin E, Folsäure und ungesättigte Fettsäuren. Auf dem Markt sind bereits diätetische Nahrungssupplemente zur unterstützenden Behandlung einer Alzheimer-Demenz im Frühstadium. Dazu gehört beispielsweise die Trinknahrung Souvenaid, die bei leichter AlzheimerDemenz eine diskrete Verbesserung in ausgewählten neuropsycholgischen Testungen zeigte. Die Kosten einer Souvenaidtherapie werden von der Krankenkasse nicht übernommen.
Nur moderate oder limitierte Evidenz zeigt sich bei Karotinoiden, Flavonoiden, Transfetten und Polyphenolen. Bei Fischöl fallen die Studienergebnisse widersprüchlich aus. Unbedingt dazu gehören würde laut Prof. Kressig aufgrund einer neu publizierten Studie (4) aber Vitamin D. Die Studie zeigt, dass bei Demenzkranken mit konsequent supplementiertem Vitamin-D-Spiegel die kognitive Leistung nach 1½ Jahren signifikant besser ist im Vergleich zu Demenzkranken mit niedrigem, nicht aufgefülltem Vitamin-D-Spiegel.
Die bisher zur Verfügung stehende Pharmakotherapie bei der Alzheimer-Demenz folgt einem Stufenplan: In den frühen Stadien und bei leichten kognitiven Beeinträchtigungen wird Ginkgoextrakt empfohlen (240 mg täglich). Bei weiter voranschreitender Demenz kommt im frühen Stadium ein Cholinesterasehemmer hinzu. Bei klinischer Verschlechterung der Demenz wird dieser in der Dosis erhöht. Liegt der Mini-Mental-Status im Erkrankungsverlauf unter 20, soll zusätzlich zu Ginkgo und dem Cholinesterasehemmer der NMDA-Antagonist Memantin gegeben werden. «Zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt und kombiniert, lässt sich mit dieser Kombination das Maximum erreichen», so Prof. Kressig.
Behandlung ist multifaktoriell Medikamente sind aber nicht alles in der Demenztherapie. Die Behandlung ist multifaktoriell und basiert laut Prof. Reto W. Kressig auf vier Säulen: Säule 1: Notwendig Notwendig ist die frühe Diagnose mit einem Assessment und einer Anpassung aller Massnahmen an den Patienten, aber auch an die Situation der Betreuer und an die Umgebung.
Säule 2: Nicht pharmakologische Interventionen Dazu zählt die Psychoedukation, die Verhaltensintervention, die Beratung, die Angabe von Unterstützungsnetzwerken, die Überwachung der Gesundheit, aber auch die Betreuung der Betreuer.
Säule 3: Pharmakologische Interventionen Dazu zählt die Elimination ungeeigneter (v.a. anticholinerger) Medikamente, die den Stadien angepasste Demenztherapie mit Ginkgo biloba und die Kombinationstherapie eines Cholinesterasehemmers mit Memantin sowie der vorsichtige und ausgewogene Gebrauch anderer demenzassoziierter Medikamente wie Antidepressiva, atypische Neuroleptika und so weiter.
Säule 4: Angehörige und Betreuer Bei Angehörigen und Betreuern ist die Aufrechterhaltung der therapeutischen Allianz massgeblich. «Geht es den Angehörigen und den Betreuern gut, dann geht es auch dem Demenzkranken gut», so das Fazit von Prof. Kressig. Wo möglich, ist die Pflegeroutine zu vereinfachen.
Bei den nicht pharmakologischen Massnahmen zeigen neue Daten, dass das Musikgedächtnis bis zum Lebensende erhalten bleibt. Schwer dementen Menschen ist es deshalb möglich, bis ans Lebensende Lieder mitzusingen oder Strophen aufzusagen, auch wenn die reine Sprachfähigkeit immer mehr zurückgeht. Mit demenziell Erkrankten sollte deshalb so oft wie möglich musiziert werden, und dies müsse auch nicht immer unbedingt Musik aus der eigenen Biografie sein. «Probieren Sie aus, was dem Betroffenen gefällt», rät Prof. Kressig.
Musik und Rhythmus sind auch wirkungsvolle
Aktivierungen bei der zunehmenden Gang-
unsicherheit der demenziell erkrankten Men-
schen. Insbesondere die Dalcroze-Rhythmik ist
eine sehr wirkungsvolle und gut untersuchte In-
tervention. Bei dieser von Emile Jaques-Dalcroze
zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Genf entwik-
kelten Musik- und Bewegungsintervention han-
delt es sich um körperliche Übungen mit
mehreren Bewegungsabläufen, die im Rhyth-
mus zu improvisiert gespielter Musik ausgeführt
werden. Nach einem sechsmonatigen Training
kam es in Studien zu einer besseren Gangregel-
mässigkeit unter Dual-Task und zu einer damit
verbundenen Sturzprävention um 54 Prozent
(http://seniorenrhythmik.ch). Zudem scheint die
Dalcroze-Rhythmik Spass zu machen, was durch
hohe Compliancewerte belegt wird.
G
Annegret Czernotta
Quelle: 1. Symposium Facettenreiche Demenz, 16. Juni 2016 in Aarau
Referenzen:
1. Jack C.R., Albert M.S. et al.: (2011) Introduction to the recommendations from the National Institute on Aging and the Alzheimer’s Association workgroup on diagnostic guidelines for Alzheimer’s disease. Alzheimer’s and Dementia, 7(3): 257–62.
2. Jack C.R. et al.: Hypothetical model of dynamic biomarkers of the Alzheimer`s pathological cascade. Lancet Neurol 2010; 9(1): 119–28.
3. Ngandu T. et al.: A 2 year multidomain intervention of diet, exercise, cognitive training, and vascular risk monitoring versus control to prevent cognitive decline in atrisk elderly people (FINGER): a randomised controlled trial. Lancet 2015; 385(9984): 2255–2263.
4. Annweiler C. et al.: Vitamin D in dementia prevention. Ann N.Y. Acad Sci 2016; 1367: 57–63.
&30 4/2016
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE