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FORTBILDUNG
Spinale Muskelatrophie: Die Krankheit ändert alles und nichts
Dr. Nicole Gusset ist Präsidentin der nationalen Patientenorganisation SMA Schweiz. Die Betroffenen mit einer Spinalen Muskelatrophie (SMA) verlieren durch diese seltene Erkrankung ihre motorischen Funktionen. Ihr Ziel ist es, den deutschsprachigen Schweizer Betroffenen aktuelle Informationen aus der Forschung und der Therapieentwicklung zur Verfügung zu stellen. Zudem ist sie Kontaktstelle für Betroffene, Pharmaunternehmen, Behörden, Ärzte und Medien. Im Interview spricht sie über eigene Erfahrungen in der Patientenarbeit und als Mutter einer Tochter mit SMA.
Nicole Gusset
Psychiatrie & Neurologie:WasgehörtallesinIhrenAufgabenbereichalsPräsidentinvonSMASchweiz? Dr. Nicole Gusset: Wir sind ein sehr junger Verein und erst seit Januar 2016 eigenständig. Davor waren wir eine Patientengruppe unter dem Schirm der Schweizerischen Muskelgesellschaft, mit der wir aber weiterhin sehr eng zusammenarbeiten. Wir stehen in keiner Weise in Konkurrenz, sondern ergänzen unser Angebot. SMA Schweiz konzentriert sich vor allem auf SMA-spezifische Anliegen und Fragestellungen. Wir möchten eine Therapie für SMA auf den Schweizer Markt bringen und dass diese Therapie dann später weiterentwickelt wird. Dazu arbeiten wir eng mit verschiedenen Partnern zusammen. So stehen wir in regelmässigem Kontakt mit Pharmafirmen. International sind wir Teil und im Vorstand von SMA Europe, einer Dachorganisation für SMA-Vereinigungen in Europa. Mit unseren jährlichen Forschungsstipendien unterstützen wir auch die Grundlagenforschung zur SMA.
WiesiehtdieZusammenarbeitmitanderenBetroffenen undAngehörigenaus? Nicole Gusset: Wir stellen den Angehörigen eine Wissens- und Austauschplattform via Website und Facebook zur Verfügung, und wir vernetzen Betroffene. Da wir eine relativ junge Organisation sind, haben wir auch noch etliche Projekte in Planung: So wollen wir uns besser mit den Behörden und Politikern vernetzen, um über SMA aufzuklären und die Bedürfnisse der Betroffenen darzulegen, damit ein kompletteres Bild dieser Krankheit entsteht. Und wir setzen uns auch für die Zulassung neuer Medikamente ein. Zudem möchten wir Synergien nutzen und uns enger mit anderen Schweizer Patientenorganisationen verknüpfen. Im Dialog mit der Ärzteschaft möchten wir sensibilisieren, beispielsweise betreffend SMA generell. Wir möchten über die Bedürfnisse der Betroffenen und über
aktuelle Forschungsfortschritte informieren, dies mit Vorträgen oder Workshops an entsprechenden Ärzteveranstaltungen.
SindSieaucheineBeratungsstelle? Nicole Gusset: Wir haben mit anderen Betroffenen oft Gespräche und werden regelmässig auch aus dem Ausland kontaktiert, das ist dann aber eher im Sinne eines persönlichen Austausches. Selbst bieten wir zurzeit keine Beratung an, da dies von anderen Organisationen wie zum Beispiel der Muskelgesellschaft oder aber auch von medizinischen Zentren (Studienzentren, humangenetische Beratungsstellen) abgedeckt wird. Was wir uns aber vorstellen können, ist die Vernetzung von geografisch nahen Betroffenen, sodass ein Austausch stattfinden kann.
WashatsichinIhremLebendurchdieKrankheitIhrer Tochtergeändert? Nicole Gusset: Alles und nichts. Ich habe nach der Diagnose die schlimmsten Wochen in meinem Leben durchlebt, sah dann aber schliesslich ein, dass die Diagnose das Leben unserer Tochter nicht verändert hat: Sie war noch die gleiche wie zuvor. Nur meine eigene Vorstellung, wie mein Leben sein sollte, musste ich neu definieren. Das war in gewissem Sinne wie ein Abschiednehmen – aber ich habe gemerkt, dass mein Leben durch diesen Abschied nicht weniger schön geworden ist. Im Gegenteil: Ich denke, dass ich viele Sachen bewusster wahrnehme; das Leben hat an Tiefe gewonnen. Auch ist es durchaus so, dass sich die meisten Eltern von Wunschvorstellungen, wie das Leben ihrer Kinder sein soll, früher oder später verabschieden müssen, oder?
WieistdasLebenmitIhrervonSMAbetroffenenTochter? Nicole Gusset: Das fröhliche und aufgeschlossene
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Wesen unserer Tochter gibt mir Mut und Zuversicht. Ehrlich gesagt, vergesse ich oft, dass sie mit einer Behinderung lebt. Für sie selbst ist es eigentlich auch nie ein Thema, und wenn, dann kein zentrales. Victorias Leben ist nicht durch ihre SMA definiert oder bestimmt. Auch wenn SMA in meinem eigenen Leben seit der Diagnose sehr zentral ist, ist es mehr im Sinne von Engagement für die Organisation. Das Management der verschiedenen Arzt- und Therapietermine und der administrativen Arbeiten ist sehr zeitintensiv, dazu kommt
schwierig, da es wenig Informationen gibt. Auch ist die Begleitung im Sinne eines Informationsaustausches durch die Ärzte teilweise ungenügend. Nur wenige Ärzte kennen sich wirklich mit der spezifischen Krankheit aus und sind gleichzeitig auch am Puls der aktuellen Entwicklungen. Teilweise werden «veraltete» Empfehlungen ausgesprochen. (Physio-)Therapeuten haben oft keine anderen, ähnlichen Kinder und wissen daher zu wenig über die verschiedenen Krankheitsbilder. Eltern müssen sich vieles allein erkämpfen respektive Informationen mühsam zusammentragen; dies, obwohl viele Eltern mit den ganzen behördlichen Aspekten und der Pflege des Kindes vollkommen ausgelastet sind. Hier sehen wir denn auch eine zentrale Aufgabe unserer Organisation: Wir sind am Puls der wissenschaftlichen Entwicklung und können die Ärzte im Sinne einer Partnerschaft unterstützen. Beispielsweise durch Informationen an sie, aber auch an die Patienten.
Nicole Gusset mit ihrer Tochter Victoria, die von SMA betroffen ist.
der tägliche pflegerische und therapeutische Aufwand, wie zum Beispiel mehrfaches Umlagern in der Nacht. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir grundsätzlich ein «normales» Leben führen. Es ist unser Leben und schliesslich das einzige, das wir kennen!
WiesiehtderAlltagaus? Nicole Gusset: Unsere Tochter geht bei uns in Heimberg in den Kindergarten und ab diesen August in die reguläre Schule. Darauf freut sie sich unglaublich; sie ist sehr wissbegierig und intelligent. Glücklicherweise ist unsere Schule sehr offen, wenn es darum geht, Kinder im Rollstuhl in den Schulalltag zu integrieren – das ist, wie ich von anderen Eltern weiss, nicht immer so problemlos. Sie ist sehr gut im Klassenverband integriert, hat eine tolle Assistenz, die ihr bei Tätigkeiten hilft, bei denen ihr die Kraft fehlt. Auch habe ich das Gefühl, dass für die Kinder in ihrer Klasse Victoria eben Victoria ist und nicht das Mädchen im Rollstuhl. Das war mir ein Herzenswunsch – dass auch andere ihre geniale Persönlichkeit sehen und nicht nur ihre Behinderung! Ich hoffe, dass Victoria später einmal eine Lehre absolviert oder studiert. Ich wünsche mir, dass sie selbstständig und vor allem selbstbestimmt leben kann, dass sie vielleicht einmal eine eigene Familie hat.
HabenSiesichnachderGeburtjemals«schuldig»ander BehinderungIhrerTochtergefühlt? Nicole Gusset: Nein, nie.
Wasmachtessoschwierig,wenndasKindeineOrphanKrankheithat? Nicole Gusset: Die Zeit bis zur Diagnosestellung ist
WieistdiefinanzielleVersorgungderBetroffenenund derAngehörigengeregelt.IstdieUnterstützungausreichend? Nicole Gusset: Die Versorgung mit Hilfsmitteln ist ausreichend. Manchmal werden bestimmte Hilfsmittel jedoch nicht von der Invalidenversicherung (IV) getragen, obwohl die Kinder mit einer schweren Behinderung leben. Die IV übernimmt eben «nur» das Zweckmässige und nicht das Optimale, dadurch ergibt sich natürlich manchmal ein Spannungsfeld. Denn die in die Listen der IV aufgenommenen Therapien und Hilfsmittel reflektieren nicht immer den Stand des aktuellen Wissens. Und es kann bei seltenen Krankheiten lange dauern, bis eine spezielle Behandlungsmethode oder ein Gerät wissenschaftlich erwiesen funktioniert, da einfach die Studienpopulationen sehr klein sind. Hier dürften die Behörden durchaus grosszügiger sein. Speziell ärgerlich ist dies, wenn ein solches Hilfsmittel Folgeschäden wie zum Beispiel Skoliose oder Kontrakturen hinauszögern könnte. Glücklicherweise gibt es hier die Möglichkeit der Rechtsberatung, zum Beispiel durch Procap.
KonntenSienachderGeburtwiederzurArbeitgehen? Nicole Gusset: Zuerst nicht und dann Teilzeit. Die Eltern müssen meistens ihr Arbeitspensum über einen längeren Zeitraum reduzieren. Dies kann einschneidende Folgen für die finanzielle Situation einer Familie haben, wenn ein Gehalt ganz oder zu einem grossen Teil wegfällt. Die Hilflosenentschädigung fängt einen Teil davon ab, aber eben nur einen Teil. Denn das Geld wird auch oft für spezielle Therapiegeräte oder Therapien mit den Kindern gebraucht oder für die optimale Einrichtung eines Autos oder des Hauses. Auch bei Kindern mit sehr schweren Behinderungen wird zum Beispiel der Intensivpflegezuschlag nur sehr zögerlich ausgesprochen und erfordert von den Eltern eine minutengenaue Dokumentation der jeweiligen Tätigkeiten; eine zusätzliche Last, vor der viele Eltern aus Zeit- und Kenntnisgründen oft zurückschrecken.
GibtesMedikamentezurBehandlungderSMA? Nicole Gusset: Derzeit gibt es keine medikamentöse Behandlung. Es sieht aber so aus, dass sich das in den nächsten fünf bis zehn Jahren ändern könnte – auch
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dank dem unermüdlichen Einsatz von Patientenorganisationen, die mit Spendengeldern viele Forschungsprojekte initiiert und unterstützt haben und weiterhin unterstützen. Medikamente im Bereich von OrphanKrankheiten sind allerdings teuer, da eine aufwändige Forschungstätigkeit für eine kleine Population dahintersteckt. Zurzeit gibt es folgende Therapieansätze, die in der Forschung und teilweise auch schon in klinischen Versuchen bei SMA-Betroffenen getestet werden: 1) Ersetzen des SMN1-Gens durch Gentherapie; 2) Korrektur des SMN2-Gens, indem der Splicing-Mechanismus der SMN2-RNA angepasst wird; 3) Neuroprotektion; 4) Muskelaktivatoren. Ein Stillstand der Krankheit oder eine leichte Verbesserung der motorischen Funktionen der Betroffenen würde bereits eine unglaubliche Verbesserung der Situation bedeuten. Hier liegt aber ebenfalls ein weiteres Problem: Das Messen einer Verbesserung oder eines Stillstands der motorischen Funktionen ist bei SMA, die relativ langsam fortschreitet, schwierig aufzuzeigen. Es muss hier noch viel Arbeit geleistet werden, um die entsprechenden Behörden zu sensibilisieren, damit sie verstehen,was Resultate aus klinischen Versuchen bedeuten, die allenfalls für jemand, der sich nicht gut mit dem Krankheitsbild auskennt, nur klein erscheinen. Aber es bedeutet für den Betroffenen und seine Angehörigen viel, wenn der Arm nicht nur bis unter das Kinn gehoben werden kann, sondern dank des Medikaments bis zur Stirn: Denn selbstständiges Essen ist dann möglich!
WenneinEingriffimErbgutmöglichwäre?WürdenSie dasbefürworten? Nicole Gusset: Das ist ein kontroverses Thema. Ich würde zum Beispiel eine Gentherapie bei SMA-Kindern befürworten – das wird übrigens zurzeit in den USA gerade getestet (Sicherheitsversuche). Wäre es nicht wundervoll, wenn wir Kinder mit einer frühen Diagnose so therapieren könnten, sodass sie keine oder nur wenige Symptome zeigen würden?
WaswünschenSiesichfürdieZukunft? Nicole Gusset: Eine Zusammenarbeit der verschiedenen Interessenvertreter auf einer partnerschaftlichen gleichwertigen Ebene. Die Betroffenen selbst sollten verstehen, dass sie selbst viel bewirken können, indem sie ihre Bedürfnisse und Meinungen, zum Beispiel im Rahmen von Patientenorganisationen, kundtun. Zudem ist die Umsetzung des nationalen Konzepts für seltene Krankheiten wichtig. Unser Ziel ist es, dass künftig der Begriff SMA kein Stirnrunzeln mehr auslöst, sondern dass die Bevölkerung
SMA kennt, mindestens so, wie sie Multiple Sklerose
oder amyotrophe Lateralsklerose kennt. Zwar wissen
die meisten oft nicht genau, was es bedeutet, aber es
ist ihnen ein Begriff. Dazu müssen wir in den nächsten
Jahren aktive Öffentlichkeitsarbeit betreiben.
G
WeitereInformationen:
SMASchweiz
c/oDr.NicoleGusset
E-Mail:nicolegusset@sma-schweiz.ch
Internet:sma-schweiz.ch
FürSpenden: SMASchweiz 3627Heimberg RaiffeisenbankThunersee
3700Spiez IBANCH9480867000002853664
Kasten:
Einteilung der spinalen Muskelatrophie und ihre Ursache
Die Betroffenen, die mit einer spinalen Muskelatrophie leben, gehören zu einer klinisch heterogenen Gruppe: Teilweise werden sie komplett beatmet, teilweise ist nur das Gangbild betroffen. Bei allen ist jedoch ein progredienter Verlust der spinalen Motoneuronen feststellbar, wodurch es zu meist symmetrisch schlaffen Lähmungen mit daraus resultierenden Muskelatrophien kommt.
Einer Person mit SMA fehlt das SMN1-Gen (SMN = Survival Motor Neuron). Dieses Gen ist verantwortlich für die Produktion des SMN-Proteins, welches unter anderem für die Funktionalität der Motoneuronen zuständig ist. Das SMN2-Gen funktioniert bei SMA als Back-up, doch es stellt nur eine eingeschränkte Menge an SMN-Protein her. Der Mangel an SMN-Protein führt zum Untergang von Motoneuronen, wodurch Muskelzellen weniger oder keine Bewegungsimpulse erhalten und schliesslich atrophieren.
Autosomal-rezessive spinale Muskelatrophien werden nach phenotypischen Merkmalen in folgende Typen eingeteilt:
SMA Typ I (Werdnig-Hoffmann): Sitzen ist nie möglich, Erkrankungsbeginn erfolgt innerhalb der ersten 6 Lebensmonate, meist schwerer Verlauf.
SMA Typ II – intermediäre SMA: Freies Sitzen ist möglich, aber nicht selbstständiges Aufsitzen, Gehen ohne Hilfe ist nie möglich. Erkrankungsbeginn im ersten Lebensjahr, mittlerer Verlauf.
SMA Typ III (Kugelberg-Welander): Freier Gang und Stand sind möglich, Erkrankungsbeginn vor dem 3. Geburtstag, milder Verlauf.
SMA Typ IV: Erkrankungsbeginn im Erwachsenenalter, milder Verlauf.
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