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FORTBILDUNG
Therapie von Zwangsstörungen im Erwachsenenalter
Wiederkehrende Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen kennzeichnen das Erscheinungsbild der Zwangsstörung. Sie führen zu deutlichen Beeinträchtigungen im täglichen Leben und oft erheblichem Leiden bei den Betroffenen und auch den Angehörigen. Es besteht daher ohne Zweifel die Indikation für eine möglichst frühe, evidenzbasierte Therapie. Das ist in erster Linie die kognitive Verhaltenstherapie einschliesslich Exposition mit Reaktionsmanagement, in bestimmten Fällen, insbesondere bei komorbiden mittelgradigen oder schweren Depressionen, auch in Kombination mit einer Pharmakotherapie.
Steffi Weidt Aba Delsignore Michael Rufer
von Steffi Weidt, Aba Delsignore, Michael Rufer
W ährend Zwangsstörungen noch in den 1960er Jahren als praktisch nicht behandelbar galten, stehen heute sehr wirksame psychound pharmakotherapeutische Verfahren zur Verfügung. Die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement ist gemäss zahlreichen Studien, Leitlinien und Behandlungsempfehlungen die Methode der ersten Wahl (1, 2). Etwa zwei Drittel der Patienten profitieren von einer solchen Behandlung erheblich (Response) oder werden sogar ganz symptomfrei (Remission). Leider wird die kognitive Verhaltenstherapie in der Praxis jedoch viel zu selten angewandt. Eine aktuelle Studie zur Versorgung Zwangserkrankter mit kognitiver Verhaltenstherapie in Deutschland (3) fand zum einen eine Verzögerung von durchschnittlich sechs Jahren zwischen dem Ausbruch der Erkrankung und dem Beginn der ersten Behandlung. Zum anderen berichteten 63 Prozent der Patienten, dass sie keine kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition als Erstbehandlung erhalten hatten. Zwei Fünftel der Patienten war sogar nie entsprechend behandelt worden. Die Gründe dafür sind nicht vollständig geklärt und sicherlich vielfältig. Unter anderem spielen wahrscheinlich Informationsdefizite von Fachpersonen und Betroffenen eine Rolle.
Erscheinungsbild Wesentliche Kennzeichen der Zwangsstörung sind wiederkehrende Zwangsgedanken und -handlungen. Häufig treten diese gemeinsam auf. Sie werden in den meisten Fällen als ganz oder zumindest teilweise sinnlos erlebt, und es wird versucht, dagegen anzugehen. Zwangsgedanken beschäftigen den Betroffenen immer und immer wieder und werden üblicherweise als äusserst unangenehm erlebt. Zwangshandlungen werden
wiederholt ausgeführt, obwohl sie weder angenehm noch nützlich sind. Die Betroffenen erleben sie oft als Vorbeugung gegen ein objektiv sehr unwahrscheinliches Ereignis, das ihnen oder anderen schaden könnte. Zum Teil sind Zwangshandlungen aber auch nicht mit solchen Katastrophenbefürchtungen verbunden, sondern es treten Ekelgefühle oder ein diffuses Unbehagen auf, wenn sie nicht ausgeführt werden. Manche Betroffene berichten, dass sie ihre Handlungen in quälender Weise als «unvollständig» oder «nicht genau richtig» (not just right experiences) erleben und sie deswegen vielfach wiederholen müssen. Viele Patienten leiden zusätzlich unter komorbiden Achse-I-Störungen (am häufigsten Depressionen) und/ oder Persönlichkeitsstörungen. Durch eine genaue Exploration der Anamnese, der aktuellen Symptome und der damit verbundenen Befürchtungen und Erklärungen der Patienten sowie den Einsatz von Fragebögen und Interviews können Fehldiagnosen vermieden und Komorbiditäten erfasst werden (4).
Kognitive Verhaltenstherapie Ein Kernbestandteil der kognitiven Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen ist die Exposition mit Reaktionsmanagement. An dieser führt im Allgemeinen kein Weg vorbei, wenn deutliche und nachhaltige Erfolge erzielt werden sollen. Eine solche Exposition erfordert vom Therapeuten weit mehr, als den Patienten dazu zu ermutigen, seine Zwangshandlungen wegzulassen: Eine gezielte Vorbereitung, kompetente Durchführung und systematische Auswertung gemeinsam mit dem Patienten sind entscheidend für ihre Wirksamkeit.
Zur Vorbereitung der Exposition gehören: G die Vermittlung von Informationen über den Ablauf
der Exposition und das dahinter stehende Therapierational;
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G das Erstellen einer Hierarchie für die Zwänge und G eine konkrete (auch zeitliche) Planung der Übungen. Für die Durchführung der Exposition ist es im Allgemeinen empfehlenswert: G die Übungen als Therapeut anfangs zu begleiten; G sie in den Alltagssituationen des Betroffenen durch-
zuführen und G von der Schwierigkeit der Übungen her graduiert
vorzugehen. Bei der Auswertung der Expositionsübungen werden: G mittels kognitiver Interventionen die in den Übun-
gen gemachten Erfahrungen beurteilt; G vorherige Fehlinterpretationen entsprechend den
neuen Erkenntnissen korrigiert sowie G kognitive Neubewertungen gefördert und die wei-
tere Planung festgelegt. Auch wenn solche Expositionsübungen für den Therapieerfolg zentral sind und von der grossen Mehrzahl der Patienten im Nachhinein als wichtigster Bestandteil ihrer Therapie bewertet werden (3), sollten sie in ein therapeutisches Gesamtkonzept eingebettet werden. Wenn beispielsweise zuvor keine tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut wurde, wird der Therapeut bei schwierigen Expositionsübungen nicht in der Lage sein, seinen Patienten wirkungsvoll zu unterstützen. Darüber hinaus müssen weitere Aspekte berücksichtigt werden, die den Therapieprozess moderieren. Dies betrifft unter anderem die Veränderungsmotivation und Bereitschaft des Patienten, sich auf eine solche Therapie einzulassen, seine Ressourcen, aber auch die Erfahrungen und Kompetenzen des Therapeuten. Zwangsstörungen sind sehr heterogene Erkrankungen, nicht nur, was die vielfältigen Zwangssymptome und unterschiedlichen damit verbundenen Befürchtungen und Wahrnehmungen betrifft, sondern auch im Hinblick auf weitere Problembereiche. Beispielsweise können Zwänge ein Gefühl innerer Leere bis hin zu schweren Depressionen überdecken oder Defizite in der Beziehungsregulation zu nahen Bezugspersonen kompensieren. Um dieser Komplexität des Störungsbildes gerecht zu werden, werden zumindest bei den mittelgradigen und schweren Zwangserkrankungen in der Regel multimodale kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte angewandt. Diese können, in Ergänzung zum Expositions-Reaktionsmanagement und zu kognitiven Interventionen, weitere kognitiv-verhaltenstherapeutische, systemische, psychodynamische und/oder akzeptanz- beziehungsweise achtsamkeitbasierte Elemente umfassen. Die Auswahl der Bausteine erfolgt individuell auf der Basis einer sorgfältigen biografischen Analyse und Bildung von Hypothesen zu ursächlichen, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen für die Zwangssymptomatik und eventuelle Komorbiditäten. Auch die Art und Intensität des Einbezugs von Angehörigen in die Therapie sollte individuell festgelegt werden. Es gibt meistens gute Gründe, Angehörige systematisch in die Therapie einzubeziehen, sofern diese dazu bereit sind und die Patienten darin einwilligen (5, 6). Grundsätzlich sollte die Therapie Strategien zur Rückfallprophylaxe enthalten, und bei Verschlechterung oder Wiederauftreten von Symptomen nach Therapieende sollten Boostersitzungen (Wiederauffrischung von Therapieinhalten) angeboten werden.
Pharmakotherapie Nicht selektive (Clomipramin) und selektive SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI) sind bei Zwangsstörungen deutlich wirksamer als Plazebo. Aufgrund des im Mittel günstigeren Nebenwirkungsprofils werden SSRI gegenüber Clomipramin bevorzugt eingesetzt. Eine Monotherapie mit Medikamenten (ohne kognitive Verhaltenstherapie) ist leitliniengemäss nur dann indiziert, wenn: G eine kognitive Verhaltenstherapie abgelehnt wird
oder wegen der Schwere der Symptomatik nicht durchgeführt werden kann; G eine kognitive Verhaltenstherapie wegen langer Wartezeiten oder mangelnder Ressourcen nicht zur Verfügung steht; G damit die Bereitschaft des Patienten, sich auf eine kognitive Verhaltenstherapie einzulassen, durch eine Medikation erhöht werden kann (2). Die Pharmakotherapie zusätzlich zur kognitiven Verhaltenstherapie sollte in Erwägung gezogen werden, wenn spezifische Gründe für eine solche Kombination (anstelle der alleinigen kognitiven Verhaltenstherapie) vorliegen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn zusätzlich zur Zwangserkrankung eine komorbide mittelgradige oder schwere Depression besteht. Vorteile einer solchen kombinierten Therapie sind in den ersten Monaten der Therapie zu erwarten, im weiteren Verlauf ist dieser Effekt nicht mehr nachweisbar. Auch das Nichtansprechen eines Patienten auf eine alleinige kognitive Verhaltenstherapie kann eine zusätzliche Medikation begründen. Bei ausbleibendem oder unzureichendem Ansprechen auf eine Therapie mit SSRI oder Clomipramin kann als Augmentation zusätzlich ein Neuroleptikum (leitliniengemäss in erster Linie Risperidon oder Haloperidol [2]) eingesetzt werden (Abbildung). Bei Nichtansprechen auf eine solche Augmentation innerhalb von 6 Wochen sollte das Neuroleptikum wieder abgesetzt werden. Grundsätzlich ist die Dosierung der SSRI bei Zwangsstörungen im oberen zugelassenen Dosisbereich zu wählen (stufenweise Aufdosierung). Es muss mit einer relativ langen Dauer von mindestens 4 Wochen bis zum Wirkungseintritt und 8 bis 12 Wochen bis zum Wirkungsmaximum gerechnet werden. Das Absetzen sollte immer schrittweise erfolgen (auch wegen möglicher Absetzsymptome der serotonergen Antidepressiva), der richtige Zeitpunkt hierfür richtet sich insbesondere nach dem Verlauf der kognitiven Verhaltenstherapie. Falls eine solche nicht parallel stattgefunden hat, sollte sie zumindest vor dem Absetzen begonnen werden, da auf diese Weise die Rückfallrate beim Absetzen der Medikation reduziert werden kann (1, 2).
Ausblick Zukünftig werden technologiebasierte Therapie- und Selbsthilfeangebote (z.B. Internettherapien) dazu beitragen, dass kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze vermehrt genutzt werden. Auch wenn solche Interventionen im deutschsprachigen Raum noch nicht etabliert sind, zeigen erste Studien zur Zwangs- und Zwangsspektrumsstörung Erfolg versprechende Ergebnisse (7, 8), und es ist nicht zu bezweifeln, dass die Entwicklung solcher Ansätze in den nächsten Jahren voranschreiten wird.
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SSRI
Bei unzureichender Wirkung
Nach 4 Wochen
Dosiserhöhung des SSRI bis zur maximal tolerierten Dosis
Bei unzureichender Wirkung
Nach 12 Wochen
Wechsel auf einen anderen SSRI oder Clomipramin/Venlafaxin
nach 4 bis 6 Wochen
Augmentation mit einem
Neuroleptikum
Abbildung: Medikamentöses Behandlungsschema bei Zwangsstörungen SSRI: selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(Quelle: Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen, www.zwaenge.ch)
Experimentellen Charakter hat für die Therapie von Zwangsstörungen das neurochirurgische Verfahren der tiefen Hirnstimulation. Diese kommt nur als «letzte Wahl» bei schweren, therapieresistenten Zwangsstörungen in einer entsprechend spezialisierten Einrichtung infrage. Mit elektrischen Stimuli über Elektroden und einem unter der Haut verlegten Schrittmacher werden spezifische Hirnregionen in ihrer Aktivität moduliert (9). In den Studien und Fallberichten wird über ein im Schnitt zirka 50-prozentiges Ansprechen berichtet. Allerdings ist die Anzahl an publizierten durchgeführten Operationen noch gering.
Merkpunkte:
G Behandlungsmethode der ersten Wahl bei Zwangserkrankungen ist die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement.
G Expositionsübungen müssen systematisch vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet werden.
G Auch wenn Expositionsübungen für den Therapieerfolg zentral sind und von der grossen Mehrzahl der Patienten rückblickend als wichtigster Bestandteil ihrer Therapie bewertet werden, sollten sie in ein therapeutisches Gesamtkonzept eingebettet werden.
G Es gibt häufig gute Gründe, Angehörige in die Therapie einzubeziehen, sofern die betroffenen Patienten einwilligen.
G Eine medikamentöse Behandlung mit (selektiven) serotonergen Antidepressiva ist wirksam, sollte aber im Allgemeinen nicht als alleinige Therapie eingesetzt werden.
In der kognitiven Verhaltenstherapie für Zwangsstörun-
gen gibt es vielfältige Weiterentwicklungen, die in ers-
ten wissenschaftlichen Untersuchungen geprüft wur-
den, unter anderem spezialisierte Therapieprogramme
für Patienten mit Sammel- und Aufbewahrungszwän-
gen, metakognitive Therapieansätze, Acceptance and
Commitment Therapy (ACT), schematherapeutische
Konzepte, Danger Ideation Reduction Therapy (DIRT),
Inference-Based Approach (IBA) und die Assoziations-
spaltung als Zusatzintervention. In der Pharmakothera-
pie betrifft die Weiterentwicklung vor allem den Einsatz
von D-Cycloserin. D-Cycloserin ist eigentlich ein Anti-
biotikum, das zur Behandlung der Tuberkulose verwen-
det wird. Es spielt aber über die Beeinflussung von
NMDA-(N-Methyl-D-Aspartat-)Rezeptoren auch bei
Lern- und Gedächtnisprozessen eine Rolle und soll die
Lerneffekte von Expositionsübungen verstärken.
Die empirische Prüfung der Wirksamkeit dieser und wei-
terer Ansätze ist eine wichtige Aufgabe der Therapiefor-
schung in den nächsten Jahren. Wichtig ist, dass diese
an sich begrüssenswerte Vielfältigkeit der neuen Ent-
wicklungen in der Praxis nicht dazu führt, dass die ge-
mäss heutiger Evidenz wirksamste Behandlung, die
kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reak-
tionsmanagement, vernachlässigt wird. Im Gegenteil:
Ihre verstärkte Dissemination ist die gegenwärtig beste
Möglichkeit, um weitaus mehr zwangskranken Men-
schen entscheidend zu helfen.
G
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Michael Rufer
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
UniversitätsSpital Zürich
Culmannstrasse 8
8091 Zürich
Tel. 044-255 52 51
E-Mail: michael.rufer@usz.ch
Literatur:
1. Keck ME, Ropohl A, Bondolfi G, Constantin Brenni C, Hättenschwiler J, Hatzinger M, Hemmeter UM, Holsboer-Trachsler E, Kawohl W, Poppe C, Preisig M, Rennhard S, Seifritz E, Weidt S, Walitza S, Rufer M: Die Behandlung der Angsterkrankungen – Teil 2: Zwangsstörungen und posttraumatische Belastungsstörung. Schweizerisches MedizinForum 2013; 13: 337–344.
2. DGPPN (Hrsg.): S3-Leitlinie Zwangsstörungen 2013. https://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/ pdf/kurzversion-leitlinien/S3-Leitlinie_Zwangsst%C3%B6rungen_ lang.pdf
3. Voderholzer U, Schlegl S, Diedrich A, Külz AK, Thiel N, Hertenstein E, Schwartz C, Rufer M, Herbst N, Nissen C, Hillebrand T, Osen B, Stengler K, Jelinek L, Moritz S: (in press) Versorgung Zwangserkrankter mit kognitiver Verhaltenstherapie als Behandlungsmethode erster Wahl. Verhaltenstherapie.
4. Rufer M: Information, Psychotherapie und Medikamente: State of the Art der Therapie von Zwangsstörungen. InFo Neurologie & Psychiatrie 2012; 10: 12–15.
5. Rufer M, Fricke S: Der Zwang in meiner Nähe – Rat und Hilfe für Angehörige von zwangskranken Menschen. Huber, Bern, 2009.
6. Rufer M, Fricke S: Behandlung von Zwangserkrankungen: Angehörige miteinbeziehen. Hausarzt Praxis 2012; 14–15: 39–41.
7. Herbst N, Voderholzer U, Thiel N, Schaub R, Knaevelsrud C, Stracke S, Hertenstein E, Nissen C, Külz AK: No talking, just writing! Efficacy of an Internet-based cognitive behavioral therapy with exposure and response prevention in obsessive compulsive disorder. Psychotherapy and Psychosomatics 2014; 83: 165–75.
8. Weidt S, Klaghofer R, Kuenburg A, Bruehl AB, Delsignore A, Moritz S, Rufer M: (in press) Internet-based self-help for trichotillomania: A randomized controlled study comparing decoupling and progressive muscle relaxation. Psychotherapy and Psychosomatics.
9. Weidt S, Rufer M, Brühl A, Baumann-Vogel H, Delsignore A: Zwangsstörungen – wenn wiederholte Gedanken, Impulse und Handlungen Ausdruck einer Erkrankung sind. Praxis 2013; 102: 857–864.
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