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FORTBILDUNG
Kognitive Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
Zwangsstörungen sind eine häufige und oftmals die Lebensqualität des Kindes und seiner Familie stark einschränkende psychische Erkrankung. Da Zwangsstörungen eine deutliche Tendenz zur Chronifizierung zeigen, ist eine frühzeitige Therapie wesentlich. Mit der kognitiven Verhaltenstherapie (KBT) steht ein wirksames Verfahren zur Behandlung der Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter zur Verfügung. Die Therapie enthält unterschiedliche Behandlungselemente, wobei die Expositionstherapie mit Reaktionsmanagement das zentrale Wirkelement darstellt. Gegebenenfalls wird die kognitive Verhaltenstherapie durch eine pharmakologische Behandlung ergänzt.
Gunilla Wewetzer Christoph Wewetzer
von Gunilla und Christoph Wewetzer
Einleitung
Z wangsstörungen bestehen aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Typischerweise kommen beide gemeinsam vor, es können aber auch ausschliesslich Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken vorliegen. Zwangsgedanken sind wiederkehrende, sich aufdrängende, quälende und nicht selten bedrohliche Gedanken, die ein extrem unangenehmes Gefühl unterschiedlicher Qualität auslösen (z.B. Angst, Ekel, Anspannung). Zur Reduktion des Gefühls werden bewusst Zwangshandlungen durchgeführt. Dies sind wiederholte, oftmals ritualisierte Handlungen, gegen deren Ausführung sich das Kind, der Jugendliche kaum oder gar nicht wehren kann, obwohl er eigentlich weiss, dass die Zwänge unsinnig oder übertrieben sind. Oftmals tritt zudem ein Vermeidungsverhalten von Zwang auslösenden Situationen auf.
Fallbeispiel Anna (14 Jahre) leidet seit drei Jahren unter einem zunehmenden Waschzwang. Es begann mit der Sorge, ihr Bett könnte verschmutzt, «kontaminiert» werden, weswegen sich niemand mehr auf ihr Bett setzen durfte. Sie entwickelte einen Waschzwang, der bis zu fünf Stunden am Tag einnahm. Nach dem Schulbesuch musste sie immer duschen, da sonst intensive Gefühle von Ekel und Angst vor Verschmutzung auftraten. Vor Betreten des eigenen Zimmers wechselte sie stets die Kleidung. Wenn sie Sorge hatte, dass zum Beispiel ihr Laptop «kontaminiert» sein könnte, musste sie ihn mit Wasser und Seife abwaschen. Das Betreten des Zimmers und der Schulbesuch waren ihr letztlich nicht mehr möglich. Anna zog sich immer mehr in sich zurück, vermied Kontakte mit Freunden und entwickelte eine depressive
Stimmungslage. Sie litt ausserdem unter einer sozialen Ängstlichkeit, mit grossen Ängsten, von anderen negativ bewertet zu werden. Auslösende Faktoren oder zurzeit belastende Ereignisse bestanden nicht.
Dieses Fallbeispiel zur Symptomatik der Zwangsstörung verdeutlicht den hohen Leidensdruck und die zunehmende Einschränkung von Alltagstätigkeiten bei den an Zwängen erkrankten Kindern und Jugendlichen.
Merkpunkt: Unbehandelte Zwangsstörungen zeigen eine deutliche Tendenz zur Chronifizierung. Umso wichtiger sind eine frühzeitige Diagnostik und die Durchführung einer effektiven Therapie.
Behandlungselemente der kognitiven Verhaltenstherapie Die kognitive Verhaltenstherapie (KBT) (ggf. ergänzt durch eine pharmakologische Behandlung) erhält in der S3-Leitlinie für Zwangsstörungen im Erwachsenenalter (1) den höchsten Evidenzgrad (A), als Therapie der ersten Wahl. In verschiedenen kontrollierten Studien (2) zeigt sich die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie auch für das Kindes- und Jugendalter. Die KBT besteht aus verschiedenen Behandlungselementen, die in den Therapieprozess integriert werden (Kasten 1).
Diagnostik und Therapieplanung Die ausführliche kinder- und jugendpsychiatrische und psychologische Diagnostik bildet die Grundlage für Diagnosestellung und Therapieplanung. Die diagnostische Untersuchung gibt Antworten auf folgende Fragen: G Welche Zwangsgedanken und -handlungen beste-
hen? Gibt es Vermeidungsverhalten und, wenn ja, in welchen Situationen? Wie stark sind Alltagstätigkei-
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ten eingeschränkt? Wie gross ist der Leidensdruck bei Kind und Familie? Sind die Eltern in die Ausführung von Zwangshandlungen eingebunden, und wenn ja, wie stark? G Bestehen komorbide Störungen? Bei Patienten mit einer Zwangsstörung sind komorbide Störungen eher die Regel als die Ausnahme. Neben häufig zu beobachtenden Depressionen und Angsterkrankungen können auch Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie Tic-Störungen bestehen. G Gibt es auslösende und/oder aufrechterhaltende Faktoren? Ein Waschzwang kann zum Beispiel durch eine Situation ausgelöst werden, in der starker Ekel empfunden wurde (z.B. Verunreinigung mit Erbrochenem). Solche konkreten, den Zwang auslösenden Ereignisse sind aber eher selten. Deutlich häufiger spielen aufrechterhaltende Faktoren eine Rolle. Erhält ein Kind zum Beispiel aufgrund seiner Zwänge mehr Beachtung durch die Eltern, kann diese vermehrte Zuwendung ein aufrechterhaltender Faktor für die Zwangsstörung sein. Das Erkennen solcher Faktoren ist für den Therapieprozess von grosser Bedeutung. G Welche Stärken und Ressourcen bestehen bei dem Kind und seiner Familie (z.B. Hobbys, Freunde)? Die diagnostische Untersuchung bestimmt den Schweregrad der Zwangsstörung und damit das Therapiesetting. Eine stationäre Behandlung ist immer dann zu empfehlen, wenn das Kind, der Jugendliche altersangemessenen Anforderungen (z.B. Schulbesuch, Freunde treffen usw.) nicht mehr nachkommen kann und/oder eine deutliche depressive Stimmungslage besteht. Bei einer starken Einbindung der Eltern in die Ausführung von Zwangshandlungen kann die zeitweilige Trennung durch die stationäre Aufnahme des Kindes zu einer Entlastung für Kind und Familie führen. Im Rahmen von gestuften zeitlichen Beurlaubungen können im Verlauf der stationären Therapie dann gelernte Strategien auf den häuslichen Bereich übertragen werden.
Merkpunkt: Bei einer ambulanten Therapie sollte immer wieder kritisch der Behandlungsfortschritt überprüft werden. Ist keine deutliche Reduktion der Zwänge zu erzielen, sollte nicht zu lange mit der Einleitung einer intensiveren stationären Therapie gewartet werden, um
nicht der Chronifizierung der Zwänge Vorschub zu leisten.
Psychoedukation Psychoedukation meint die ausführliche Informationsvermittlung hinsichtlich der Symptomatik, der Entstehungsbedingungen und Behandlungsmöglichkeiten der Zwangsstörung. Bei Erklärung der Symptomatik werden Zwänge bewusst als «Erkrankung», als etwas, das nicht zu einem selbst gehört, etikettiert. Eine Strategie, die diese innere Distanzierung von Zwängen fördert, ist die Externalisierung des Zwangs als ein Wesen (z.B. ein Kobold, kleines Monster oder Fabelwesen). Mit diesem «personalisierten Zwang» setzt sich das Kind oder der Jugendliche in Gesprächen oder Rollenspielen auseinander. Auf diese Weise lernt es, sich den «Befehlen» des Zwangs («Der Zwang befiehlt dir, deine Hände zu waschen») zu widersetzen. Gemeinsam mit dem Patienten und den Eltern wird ein multifaktorielles individuelles Erklärungsmodell entwickelt, welches psychologische, lebensgeschichtliche und biologische Faktoren integriert. Zu verstehen und zu akzeptieren, dass es nie nur eine Ursache gibt und dass auch biologische Faktoren eine Rolle spielen («Zwänge sind eine Erkrankung, die jeder bekommen kann»), trägt oft zu einer Entlastung des Patienten und der Familie bei, gerade dann, wenn die Erkrankung als eine Folge persönlicher Schuld angesehen wird. Das therapeutische Vorgehen wird auf transparente und altersangemessene Art vermittelt.
Merkpunkt: Die sachliche Informationsvermittlung über die Erkrankung korrigiert fehlerhafte Annahmen zu möglichen Ursachen und trägt zur Entlastung von Gefühlen der Scham und Schuld bei. Psychoedukation fördert die Therapiecompliance und ist ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung. Ratgeber für Kinder, Jugendliche und Eltern ergänzen sinnvoll die Psychoedukation durch den Therapeuten (3).
Kognitive Therapie Der Bewertung von Gedanken kommt ein entscheidender Faktor bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwängen zu. Aus diesem Grunde begleiten kognitive Strategien den gesamten Therapieprozess – von der Psychoedukation bis zur Rückfallprophylaxe. Die In-
Kasten 1:
Behandlungselemente der kognitiven Verhaltenstherapie
Therapiephase
1. Diagnose
2. Emotionale Stabilisierung 3. Intensivphase
4. Nachsorge/ Rückfallprophylaxe
Phasenspezifische Behandlungselemente Diagnostik Therapieplanung Psychoedukation
Exposition mit Reaktionsmanagement Individuelle Vertiefung gelernter Strategien
Phasenübergreifende Behandlungselemente
Familienzentrierte Interventionen Kognitive Therapie
Ergänzende Therapien
Medikamentöse Therapie
Training der Sozialkompetenz usw.
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tensität, mit der kognitive Strategien zur Anwendung kommen, ist von individuellen Faktoren wie dem Alter (weniger intensiv bei jüngeren Kindern), dem Ausprägungsgrad der Zwangsgedanken und dem Leidensdruck des Betroffenen abhängig. Zur Integration kognitiver Strategien in den Therapieprozess empfehlen wir folgendes Vorgehen (Kasten 2).
Erweiterte Psychoedukation: Der Patient wird angeleitet, seine bisherigen Strategien im Umgang mit Zwangsgedanken kritisch zu hinterfragen. Er erkennt, dass «Ablenkung von Gedanken» oder «Gedankenunterdrückung» allenfalls kurzfristig entlastet, aber längerfristig zu einem verstärkten Auftreten der Zwangsgedanken führt. Letzteres lässt sich durch den «paradoxen Effekt der Gedankenunterdrückung» erklären, wonach ein Gedanke umso öfter und heftiger auftritt, je mehr man versucht, ihn zu unterdrücken.
Strategien zur inneren Distanzierung: Menschen mit Zwängen sind sich eigentlich bewusst, dass die Inhalte ihrer Zwangsgedanken übertrieben oder unsinnig sind. Dies hilft ihnen aber nicht, die Gedanken als weniger quälend zu erleben. Kognitive Strategien, die darauf abzielen, den Inhalt der Gedanken zu verändern, sind für Patienten mit Zwängen weniger sinnvoll als zum Beispiel bei depressiv Erkrankten, die vom Inhalt ihrer Gedanken (z.B. «Ich bin unfähig.») überzeugt sind. Im zweiten kognitiven Modul werden daher Strategien vermittelt, die eine innere Distanz zum Inhalt der Gedanken fördern (z.B. in Form von Selbstinstruktionen: «Ein Gedanke ist keine Tatsache»).
Metakognitive Strategien: Menschen mit Zwängen neigen häufig zu Fehleinschätzungen («Denkfehlern») hinsichtlich der Funktion und Bedeutung von Gedanken («Denken über das Denken»). Im dritten kognitiven Modul wird der Patient angeleitet, seine individuellen Denkfehler zu erkennen und zu hinterfragen (4).
Beispiel für einen metakognitiven Denkfehler: Tom (13 Jahre) leidet unter dem aggressiven Zwangsgedanken, er könne seinen kleinen Bruder tödlich verletzen. Ein Gedanke, der grosse Angst und Schuldgefühle auslöst. Tom ist unsicher, ob dieser Gedanke nicht seine wahren Absichten zeige. Er denkt: «Wünsche ich vielleicht meinem Bruder den Tod, ohne es zu wissen?» Dieser Gedanke ist ein Beispiel für den Denkfehler «Gedanken-Persönlichkeits-Fusion», nach dem ein einzelner Gedanke die wirklichen Absichten eines Menschen offenbart. Im Rahmen metakognitiver Strategien kann dieser Denkfehler kritisch hinterfragt werden:
Kasten 2:
Therapiemodul: 1. Erweiterte Psychoedukation 2. Strategien zur inneren Distanzierung 3. Metakognitive Strategien 4. Umgang mit dysfunktionalen Grundeinstellungen
Therapiephase Emotionale Stabilisierung Emotionale Stabilisierung Beginn der Intensivphase Nachsorgephase
G Wenn ein einzelner Gedanke die tatsächlichen Absichten eines Menschen offenbaren würde, müssten Menschen, die sich in ihrem Beruf mit gewalttätigen Gedanken beschäftigen (z. B. Krimischriftsteller) eher aggressive Taten ausführen. Ist das so?
G Würde sich ein böser Mensch tatsächlich so viele Sorgen machen und so lange darüber nachgrübeln, bevor er jemanden verletzt oder gar tötet, wie du das tust?
Umgang mit dysfunktionalen Einstellungen: Menschen mit Zwängen neigen zu bestimmten Einstellungen oder Werthaltungen, die als nicht hilfreich oder dysfunktional bezeichnet werden, da sie sehr ausgeprägt sind und sich hemmend auf die Lebensgestaltung auswirken. Typische Einstellungen sind ein hohes Kontrollbedürfnis, ein starker Perfektionismus oder ein übertriebenes Verantwortungserleben. Patienten mit einem zum Beispiel hohen Verantwortungserleben fühlen sich für Dinge verantwortlich, die ausserhalb ihres Einflussbereiches liegen. Besonders wenn ihnen selbst oder einem Familienmitglied etwas Schlechtes widerfährt, führt diese Einstellung zur Entwicklung intensiver Schuldgefühle. Ein übertriebenes Verantwortungsgefühl kann auf diese Weise den «Nährboden» für die Entwicklung, Aufrechterhaltung oder das Wiedererstarken von Zwangsgedanken bilden. Mithilfe verschiedener therapeutischer Strategien lernt das Kind, der Jugendliche, die Inhalte seiner Einstellungen kritisch zu hinterfragen, hilfreiche Gedanken zu erarbeiten und einzuüben.
Merkpunkt: Kognitive Strategien, die die innere Distanzierung von Zwangsgedanken fördern, finden insbesondere vor Beginn der Expositionstherapie Anwendung. Ziel ist, die erlebte Bedrohung durch den Zwangsgedanken (z.B. Tod eines nahen Angehörigen) so weit abzuschwächen, dass das Kind, der Jugendliche den Mut findet, sich den Zwangsgedanken zu stellen, das heisst Expositionsübungen durchzuführen.
Exposition mit Reaktionsmanagement Die Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) ist das Kernelement der kognitiven Verhaltenstherapie. ERM bezeichnet eine therapeutische Strategie, bei der sich der Patient mit den von ihm gefürchteten Situationen oder Gegenständen konfrontiert, ohne Zwangshandlungen auszuführen oder aus der Situation zu «flüchten» (Vermeidungsverhalten). Die dadurch ausgelösten negativen Gedanken, Gefühle (z.B. Angst, Sorge, Ekel usw.) und körperlichen Symptome werden so lange bewusst zugelassen, bis diese von selber in ihrer Intensität abnehmen. Das Kind, der Jugendliche lernt, dass er das negative Gefühl «managen» kann, ohne Zwangs- und Vermeidungsverhalten auszuführen. Der dieser Intervention zugrunde liegende Wirkmechanismus ist noch nicht hinreichend sicher geklärt. Neben dem psychophysiologischen Vorgang der Habituation, der Gewöhnung an Angst, spielen sicherlich auch die Veränderung des «Furchtgedächtnisses» und das Erleben von Selbstwirksamkeit eine grosse Rolle. Zentrale Punkte der ERM sind: Erklärung der Behandlungsstrategie: Das Kind, der Jugendliche versteht, dass er die kurzfristige Entlastung
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durch die Zwänge aufgeben muss, um langfristig die Zwänge loszuwerden.
Erstellung einer Rangreihe von zwangauslösenden Situationen: Therapeut und Patient erstellen gemeinsam eine Rangreihe von Situationen nach ihrem Schwierigkeitsgrad (Stärke des durch die Situation ausgelösten Gefühls, auf einer Skala von 0 bis 100). Im Kinder- und Jugendbereich ist eine solche graduierte Expositionsbehandlung (ansteigender Schwierigkeitsgrad) grundsätzlich einem massierten Vorgehen («flooding») vorzuziehen. Letzteres birgt die Gefahr einer emotionalen Überforderung des Kindes und Jugendlichen und erhöht das Risiko eines Therapieabbruchs
Beispiel: Rangreihe von zwangauslösenden Situationen von Anna, 14 Jahre (Fallbeispiel, siehe oben). Die Expositionen finden sowohl auf der Station der Klinik (stationäre Behandlung) als auch im häuslichen Umfeld statt: 100 andere Personen setzen sich auf das Bett
(zu Hause) 98 mit Strassenkleidung, Schuhen aufs Bett legen
(zu Hause) 95 mit Strassenkleidung, Schuhen in das eigene
Zimmer gehen (zu Hause) 90 andere Personen setzen sich auf das Bett
(in der Klinik) 80 mit Strassenkleidung, Schuhen auf das Bett
(in der Klinik) legen 70 auf Sofa im Wohnzimmer legen (zu Hause) 68 auf Stühle im Esszimmer setzen (zu Hause) 60 Laptop mit «schmutzigen» Händen anfassen,
sich anschliessend an der Haut berühren 50 Laptop mit «schmutzigen» Händen anfassen 45 «verschmutzte» Gegenstände berühren
(in der Klinik), anschliessend die Haut berühren 40 «verschmutzte» Gegenstände berühren
(in der Klinik), zum Beispiel Stuhl 35 Bei Betreten des Zimmers (in der Klinik)
nicht die Kleidung wechseln 30 Türklinke anfassen.
Detaillierte Vorbereitung der einzelnen Übungen: Der Ablauf jeder Expositionsübung wird detailliert vorbesprochen. Übungen gegen den Willen des Einzelnen finden nie statt!
Therapeutenbegleitete Expositionsübungen: Expositionsübungen sollten einen möglichst hohen Bezug zu den realen Bedingungen haben. Daher ist eine Exposition in vivo (Exposition mit der zwangauslösenden Situation in der Realität) einer Exposition in sensu (Exposition mit der zwangauslösenden Situation in der gedanklichen Vorstellung) vorzuziehen. Die ersten Expositionen erfolgen in Begleitung des Therapeuten. Das Kind, der Jugendliche wird emotional unterstützt und angeleitet, sich immer wieder mit dem unangenehmen Gefühl zu konfrontieren und dieses nicht zu vermeiden (z.B. durch gedankliche Ablenkungen). Ein entscheidender Wirkfaktor ist die Durchführung von Expositionen «vor Ort», das heisst dort, wo die Zwänge im Alltag auftreten. Dies macht zumeist auch Expositionen im häuslichen Umfeld notwendig.
Expositionen im Selbstmanagement: Im Verlauf der Expositionstherapie übernimmt der Patient immer stärker die Verantwortung für die Auseinandersetzung mit den Zwang auslösenden Situationen, indem er Expositionen ohne Anwesenheit des Therapeuten durchführt. Expositionen, die ausschliesslich in Begleitung anderer durchgeführt werden, bergen das Risiko der Verantwortungsabgabe. So verlässt sich etwa ein Jugendlicher mit einem Kontrollzwang darauf, dass der Therapeut auf alles Wesentliche achtet und ihn keiner «Gefahr» aussetzt. Eine detaillierte Beschreibung der Expositionstherapie findet sich bei (5). Bei jüngeren Kindern kann das Computerspiel «Ricky und die Spinne» (6) angewandt werden, welches unter Verwendung kindgerechter Metaphern neben der Psychoedukation auch die Exposition mit Reaktionsmanagement anleitet.
Merkpunkt: So einfach das Grundprinzip der Expositionsbehandlung ist, so komplex ist die Planung und Durchführung. Die Durchführung der Expositionstherapie bedarf einer vertrauensvollen Therapeut-Patient-Beziehung.
Familienzentrierte Interventionen Der Einbezug der Familie in die Therapie ist gerade bei Kindern ein obligater Bestandteil der Therapie (siehe Beitrag Seite 4–6). In der Beratung von Angehörigen (7) sollte bedacht werden, dass die Eltern nicht selten ebenfalls psychiatrisch erkrankt sind, mit möglichen Auswirkungen auf das Familienklima und das Erziehungsverhalten.
Pharmakotherapie Die Kombination von verhaltenstherapeutischen und pharmakologischen Behandlungsstrategien hat sich in kontrollierten Untersuchungen als besonders wirksam erwiesen. Indikationskriterien für eine ergänzende pharmakologische Behandlung sind: G Ein hoher Ausprägungsgrad der Symptomatik (z.B.
kein Schulbesuch oder Verlassen des Hauses möglich). G Die Motivation für eine verhaltenstherapeutische Behandlung ist (noch) nicht ausreichend. Eine medikamentös erzielte Symptombesserung kann es dem Kind, Jugendlichen erst ermöglichen, sich auf die Psychotherapie einzulassen. G Es besteht eine komorbide, ausgeprägte depressive Störung. G Zwangsgedanken stehen im Vordergrund der Symptomatik. Studien im Erwachsenenbereich zeigen, dass eine Medikation dann besonders erfolgreich sein kann. G Die Zwangssymptomatik besteht bereits sehr lange (Chronifizierung). G Es sind weitere Familienangehörige an einer Zwangsstörung erkrankt, sodass von einer erhöhten genetischen Veranlagung ausgegangen werden kann. G Die kognitive Verhaltenstherapie führt zu keiner deutlichen Reduktion der Zwänge.
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Detaillierte Empfehlungen zur medikamentösen Behandlung finden sich bei (8).
Nachsorgephase Da die Rückfallgefahr bei Zwangsstörungen relativ gross ist, ist bei allen Patienten nach dem Abschluss der intensiven Therapiephase eine Nachsorgephase erforderlich. Inhalte der Nachsorgephase sind: G Bilanzierung des Therapieprozesses G Anbahnung von sozialen Kontakten und Freizeitak-
tivitäten, um die jetzt «zwangfreien Stunden» ausfüllen zu können. G Sensibilisierung für das Rückfallrisiko (z.B. schulischer Stress) G «Auffrischungssitzungen» (Wiederholung von einzelnen Expositionsübungen) G Veränderung familiärer Interaktionen (z.B. überfürsorgliche Haltung der Eltern während der Erkrankung) G (Ggf.) Medikationsüberprüfung.
Ergänzende Therapien Im Rahmen der Nachsorge gilt es, auch mögliche aufrechterhaltende Bedingungen zu fokussieren, die dem Patienten zu Beginn der Therapie oft nicht bewusst sind und erst im Verlauf der Therapie erarbeitet wurden. Langfristig kann die Behandlung der Zwangsstörung nur erfolgreich sein, wenn solche Faktoren erkannt und in den therapeutischen Prozess mit einbezogen werden.
Merkpunkt: Nach einer deutlichen Reduktion der Zwänge durch die kognitive Verhaltenstherapie sollte die Therapie nicht zu schnell beendet werden. Die Nachsorgephase bietet Gelegenheit, grundlegende intrapsychische und interpersonelle Probleme des Kindes oder Jugendlichen zu bearbeiten.
Zusammenfassung Die Behandlung der Zwangsstörung ist eine multimodal ausgerichtete, hochindividuelle Therapie, bei der verschiedene Behandlungselemente je nach Sympto-
matik, Schweregrad und Belastung des Patienten in
einen Therapieplan integriert werden. Im Rahmen der
Psychotherapie sollte nicht nur über die Zwänge «ge-
redet», sondern es sollten neue Erfahrungen im Um-
gang mit Emotionen erlebbar gemacht werden. Die
Methode der Wahl ist hierfür die Exposition mit Reak-
tionsmanagement, die sich in kontrollierten Therapie-
studien als hocheffektiv erwiesen hat. Sie ist das zentrale
und unverzichtbare Therapieelement. In der Praxis wird
leider nach wie vor ein grosser Anteil der Patienten nicht
oder nur unzureichend mit der Expositionstherapie be-
handelt.
G
Korrespondenzadresse:
Dipl.-Psych. Gunilla Wewetzer
Prof. Dr. med. Christoph Wewetzer
Kliniken der Stadt Köln GmbH Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie Florentine-Eichler-Strasse 1
D-51067 Köln
E-Mail: WewetzerC@kliniken-koeln.de
Bei beiden Autoren liegen keine Interessenkonflikte vor.
Literatur:
1. Kordon A, Lotz-Rambaldi W et al.: S3-Leitlinie Zwangsstörungen (AWMF Registernummer 038/017. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde; 2013.
2. Freeman J, Garcia A et al.: Evidence-base update for psychosocial treatments for pediatric obsessive-compulsive disorder. Journal of Clinical Child & Adolescent psychology, 2013; 0: 1–20.
3. Wewetzer G, Wewetzer Ch.: Ratgeber Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Hogrefe Verlag; 2014.
4. Moritz S; Hauschildt M.: Erfolgreich gegen Zwangsstörungen. Metakognitives Training – Denkfallen erkennen und entschärfen. Springer Verlag; 2011.
5. Wewetzer G; Wewetzer Ch.: Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Ein Therapiemanual. Hogrefe Verlag; 2012.
6. Brezinka V: Computer games supporting cognitive behavior therapy. Journal of Clinical Child Psychology and Psychiatry; 2014; 19: 100–110.
7. Rufer M und Fricke S: Der Zwang in meiner Nähe. Bern: Huber; 2009.
8. Wewetzer Ch; Walitza S.: Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter. In: M. Gerlach, C. Mehler-Wex, S. Walitza, A. Warnke & Ch. Wewetzer (Hrsg.). Neuro-Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter. Wien New York: Springer; 2009.
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