Transkript
FORTBILDUNG
Behandlung von Zwangserkrankungen: Zur Indikation eines stationären Settings
Charles Benoy Isabell Schumann
Die Frage nach konkreten und symptomnahen Kriterien zur Indikationsstellung einer Behandlung von Zwangserkrankungen im stationären gegenüber dem ambulanten Setting ist nicht einfach zu beantworten. Grund dafür ist vor allem, dass die Symptomatik vorwiegend im alltäglichen und häuslichen Umfeld auftritt und deshalb eine möglichst praxisnahe ambulante Behandlung im gewohnten Milieu des Patienten erfordern würde. Diverse störungsspezifische und -unspezifische Gründe können eine ambulante Therapie jedoch erschweren oder unmöglich machen, weshalb fall- und patientenbezogen eine Indikation für eine intensivere und umfänglichere stationäre Behandlung gegeben sein kann. Der Beitrag zeigt auf, welche Faktoren die ambulante Behandlung erschweren können, und erläutert möglichst klare und praxisnahe Indikationskriterien für ein stationäres Setting.
von Charles Benoy und Isabell Schumann
D ie gemeinsamen Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), für Zwangsstörungen (SGZ) und für Biologische Psychiatrie (SGBP) in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) geben in ihren Leitlinien keine direkten Angaben dazu, wann eine Indikation für eine stationäre beziehungsweise ambulante psychiatrischpsychotherapeutische Behandlung besteht (1). Auch empirischen Studien sind nur wenige Informationen zur Indikationsstellung eines stationären Settings zur Behandlung von Zwangserkrankungen zu entnehmen, was vorwiegend daran liegt, dass die Wirksamkeit stationärer Behandlung bei Zwangsstörungen nur unzureichend systematisch untersucht wurde (2). Die vereinzelten empirischen Untersuchungen stationärer Zwangsbehandlungen zeigen vergleichbare Effektstärken wie die Studien zu ambulanten Psychotherapien auf (vgl. [2], im Vergleich zu Warte-Kontrollgruppen). Die einzige uns bekannte Studie, welche die psychotherapeutische Wirksamkeit im stationären und ambulanten Setting einem direkten Vergleich unterzog, konnte gleichermassen keinen Unterschied im Therapieeffekt beider Settings feststellen (3). Bei genauerer Betrachtung ist jedoch anzumerken, dass sich die Populationen beider Vergleichsgruppen deutlich unterschieden: Die Zwangspatienten im stationären Setting wiesen eine höhere Chronifizierung (im Durchschnitt doppelt so lange Krankheitsgeschichte), eine ausgeprägtere Symptomatik und eine höhere Anzahl an Vorbehandlungen auf (3).
* lic. phil. Isabell Schumann Leitende Psychologin, Verhaltenstherapie-Stationär VTS Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Stationär vs. ambulant: Alltagsnähe und Kosten Die finanziellen Kosten einer stationären Behandlung von Zwangserkrankungen sind bis zu dreissig Mal höher als bei einer ambulanten Therapie (vgl. [3]). Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Faktoren ist aber vor allem die Alltagsnähe ein Hauptindikationsfaktor für eine ambulante Therapie. Die angstauslösenden Situationen sind im stationären Setting gegebenenfalls nicht oder nur schwer reproduzierbar, oder Patienten können sich, symptombedingt, nur schwer in ein stationäres Setting integrieren (4), was womöglich gar zu einer Exazerbation der Symptomatik führt (z.B. kann das enge Zusammenleben mit Mitpatienten bei ausgeprägten Kontaminationsängsten zu einer Verstärkung des Kontrollverhaltens führen). Die erste Schwelle, bei einer oftmals sehr schambehafteten Zwangssymptomatik, in eine ambulante Therapie ist oftmals spürbar niedriger, die Verhaltensbeobachtung und Diagnostik alltagsnäher, der Transfer der Therapieinhalte in den Alltag direkter und die Entfernung vom bekannten Alltag (wie z.B. der Berufstätigkeit) geringer als in einem stationären Setting. Des Weiteren gehen Erfolge ambulanter Therapien oftmals mit einem höheren Gewinn an wahrgenommener Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit einher (5). Im ambulanten therapeutischen Alltag kommt es jedoch wiederholt zu unzureichenden, nicht zufriedenstellenden oder fehlgeschlagenen Therapieversuchen in der Behandlung von Zwangsstörungen. Eine ambulante Betreuung kann in der Frequenz der therapeutischen Kontakte je nach Störungsbild unzureichend, die Handlungskompetenz des Patienten zur praktischen Übertragung der Therapieinhalte in Alltagssituationen zu gering oder das globale Funktionsniveau des Patienten zu stark eingeschränkt sein. Weitere Aspekte, die eine ambulante Betreuung erschweren oder bei wel-
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chen eine stationäre Behandlung gar indiziert ist, sind akute Suizidalität beziehungsweise die Notwendigkeit einer konstanten Beaufsichtigung, schwere und akute komorbide psychiatrische oder somatische Erkrankungen, die eine stationäre Behandlung benötigen (z.B. beim Vorliegen eines schweren depressiven Syndroms), oder der Mangel an familiärer beziehungsweise sozialer Unterstützung im häuslichen Umfeld (4).
Chronifizierungsgrad und stationäre Behandlung Daneben gibt es weitere, in Abhängigkeit des jeweiligen Störungsbildes zu evaluierende Indikationskriterien für eine stationäre Behandlung. Bei einem hohen Chronifizierungsgrad, mehrfach fehlgeschlagenen Versuchen ambulanter Therapie, massiven Verhaltensexzessen (u.a. im Rahmen der Zwangssymptomatik) oder bei der Notwendigkeit einer engmaschigeren therapeutischen Betreuung (höhere Behandlungsdichte und -frequenz) ist eine vorübergehende stationäre Aufnahme als indiziert anzusehen (2). Zudem kann eine Distanzierung vom häuslichen Umfeld die häufig hohe Funktionalität eines Zwanges im Alltag aufzeigen (2) (z.B. Aufmerksamkeit/Zuwendung, Sicherheitsvermittlung oder Vermeidung von Verantwortungsübernahme) und zusätzlich eine nötige Entlastung des stark mitbeeinträchtigten direkten Umfeldes möglich machen (z.B. durch die Miteinbindung in Zwangsrituale oder die notwendige Rücksichtnahme des direkten Umfeldes). Bestehen zusätzlich erhebliche akute körperliche und/ oder psychosoziale Folgeschäden, wie massive Hautverletzungen aufgrund eines Waschzwanges, oder die Gefahr einer sozialen Isolation oder Verwahrlosung, ist eine intensive stationäre Behandlung ausdrücklich in Erwägung zu ziehen (5). Im Stationsalltag kann zudem dem Leiden rasch über eine situationsbedingte veränderte Handlungsorientierung entgegengewirkt werden und im Kontakt mit anderen Patienten mit vergleichbarer Symptomatik die Motivation gesteigert sowie die Schambehaftung reduziert werden (5). Zusätzlich ist
oftmals eine Relativierung eigener Überzeugungen und Gedankeninhalte über den Kontakt zu Mitmenschen im stationären Setting zu beobachten. Ein erhöhter Aussendruck sowie die gleichzeitige Förderung sozialer Kompetenzen im Stationsalltag, zum Beispiel durch Gruppentherapien oder diverse Kontakte zu Stationspersonal und Mitpatienten, können einen positiven Effekt auf die Behandlung und die Veränderungsmotivation haben (5). Die in den Leitlinien zur Behandlung von Zwangsstörungen ausdrücklich empfohlenen Expositions- und Konfrontationsübungen (1) können zudem im stationären Setting hochfrequenter und ausgiebiger durchgeführt werden. Auf einer spezialisierten Abteilung hat es störungsspezifisch geschultes Personal für quantitative und qualitative Lege-artis-Konfrontationen, denen es zusätzlich möglich sein sollte, auch zeitlich ausgiebigere Konfrontationen zu begleiten (5). Dabei ist jedoch zu beachten, dass unterschiedliche Kontaktpersonen im stationären Rahmen keine unterschiedlichen Botschaften an den Betroffenen senden beziehungsweise keine heterogenen Einflüsse auf den Patienten einwirken. Schliesslich bleibt ebenfalls anzumerken, dass stationäre Therapieangebote oftmals für den Patienten transparenter sind und er somit eher weiss, was er erwarten kann. Schliesslich gibt es im stationären Rahmen zusätzlich zu störungsspezifischen Gruppentherapien diverse weitere adjuvante Therapieangebote, die grosse Auswirkungen auf einen positiven Therapieverlauf haben können (5). Ausserdem ist die pharmakologische Behandlung im stationären Behandlungsrahmen einfacher einzustellen, und das Monitoring sowie die Überwachung der medikamentösen Compliance sind leichter zu gestalten.
Akzeptanz- und Commitment-Therapie bei Zwang Seit 2012 behandeln wir auf einer nach Inhalten der Akzeptanz- und Commitment-Therapie orientierten verhaltenstherapeutischen Station (vgl. [6, 7]) störungsspezifisch Patienten mit vorwiegend therapieresisten-
Kasten:
Hauptvorteile der Behandlung einer Zwangsstörung im ambulanten und stationären Setting
Vorteile ambulanter Behandlung G Alltagsnähe G Niedrigere Schwelle G Weniger umständlich G Höhere Selbstwirksamkeit und -kontrolle G Transfer ins häusliche Umfeld G Keine Entfernung aus täglichem Leben wie unter
anderem der Berufstätigkeit G Wirtschaftlichkeit
Vorteile stationärer Behandlung G Umfängliche Supervision zum Beispiel im Fall
einer erhöhten Suizidalität G Engmaschige, hochfrequente Betreuung, wenn
nötig auch zeitlich länger, zum Beispiel bei Expositionsübungen G Bei komorbiden somatischen oder psychiatrischen Erkrankungen G Bei ausgeprägten Handlungsdefiziten oder Verhaltensexzessen G Distanzierung vom häuslichen Umfeld G Veränderung der Handlungsorientierung durch neues Umfeld G Gruppentherapien und adjuvante Therapieangebote G Kontinuierliche Verhaltensbeobachtung G Entlastung des sozialen Umfeldes
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ten und chronifizierten Zwangsstörungen. Dabei wird versucht, die Alltagnähe durch hochfrequente und begleitete Expositionen zu gewährleisten – wenn möglich direkt im Umfeld des Patienten. Dabei erweist sich die ambulante Therapie, sowohl in der Vor- als auch in der Nachbetreuung, als äusserst wichtig. Es wird versucht, im Kontakt mit der vorbehandelnden Fachperson und in ausführlichen Vorgesprächen, die intensive stationäre Therapie möglichst vorzubereiten, um möglichen Schwierigkeiten eines stationären Settings vorzubeugen sowie durch einen engen Kontakt zu den nachbehandelnden Fachpersonen eine möglichst gute Übertragung der Therapieerfolge in den Alltag der Patienten zu erreichen. Grundsätzlich ist nach dem jetzigen Wissensstand eine ambulante therapeutische Behandlung von Zwangsstörungen einer stationären Aufnahme vorzuziehen, wobei jedoch das Hauptargument der Praxisnähe unterschiedlich zu bewerten ist: Zum Beispiel konnte eine kürzlich veröffentlichte kanadische Studie keinen therapeutischen Gewinn der alltagsnächsten Behandlung im direkten Umfeld des Patienten im Vergleich zum gewöhnlichen ambulanten Setting in den therapeutischen Räumlichkeiten einer Praxis feststellen (8). Auf
Merksätze:
G Nach dem jetzigen Wissensstand ist eine ambulante therapeutische Behandlung von Zwangsstörungen einer stationären Aufnahme vorzuziehen.
G Die Alltagsnähe ist ein Hauptindikationsfaktor für eine ambulante Therapie.
G Bei einem hohen Chronifizierungsgrad, mehrfach fehlgeschlagenen ambulanten Therapieversuchen, massiven Verhaltensexzessen oder bei der Notwendigkeit einer engmaschigeren therapeutischen Betreuung ist jedoch eine vorübergehende stationäre Aufnahme als indiziert anzusehen.
jeden Fall gibt es klare Indikationen, wie zum Beispiel
akute Suizidalität, hohen Leidensdruck (des Patienten
und/oder des Umfeldes) oder fehlende Handlungskom-
petenzen, die eine vorübergehende intensive stationäre
Therapie erfordern. Die weiteren aufgeführten Kriterien,
wie unter anderem die Symptomausprägung oder der
Schweregrad der Zwangserkrankung, können nicht als
grundsätzliche Indikationsfaktoren gelten, sondern
müssen in Einbezug der einzelnen Umstände beim je-
weiligen Störungsbild genauer evaluiert werden, um
eine klare Indikation für eine stationäre Behandlung
stellen zu können. Zusammenfassend sind die Vorteile
der jeweiligen Settings hierfür überblickend nochmals
im Kasten dargestellt.
G
Korrespondenzadresse:
M. Sc. Charles Benoy
Psychologe,
Verhaltenstherapie-Stationär VTS &
Verhaltenstherapie-Ambulanz VTA
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
4012 Basel
E-Mail: Charles.Benoy@upkbs.ch
Literatur:
1. Keck M, Ropohl A, Bondolfi G, Constantin Brenni C, Hättenschwiler J, Hatzinger M, Hemmeter U, Holsboer-Trachsler E, Kawohl W, Poppe C, Preisig M, Rennhard S, Seifritz E, Weidt S, Walitza S, Rufer M: Die Behandlung der Angsterkrankungen Teil 2: Zwangsstörungen und posttraumatische Belastungsstörung. Schweiz Med Forum 2013; 13(17): 337–344.
2. Gönner S., Limbacher K., & Ecker W.: Stationäre kognitive Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen: Effektivität und Erfolgsprädiktoren in der Routineversorgung. Verhaltenstherapie 2012; 22: 17–26.
3. Hout M, Emmelkamp P, Kraaykamp H, & Griez E: Behavioral treatment of obsessive-compulsives: Inpatient vs. outpatient. Behaviour Research and Therapy 1988; 26(4): 331–332.
4. Abramowitz J, & Schwartz S: Treatments For Obsessive-Compulsive Disorder: Deciding What Method For Whom. Brief Treatment and Crisis Intervention 2003; 3: 261–273.
5. Bents H, Dirscherl T, & Weissenberger S. (1998): Zur Frage der Indikation ambulanter oder stationärer Psychotherapie bei Zwangsstörungen. In Psychotherapie der Zwangsstörungen (Ambühl, H. Hrsg., 1st ed., pp. 146–157). Stuttgart, New York: Georg Thieme Verlag.
6. Benoy C, Bader K & Schumann I.: Die Akzeptanz- und CommitmentTherapie: ein transdiagnostischer Ansatz. PSYCH Up2Date 2015. Thieme Verlag (In preparation).
7. Benoy C & Schumann I: Werte und Ziele in der Therapie von Patienten mit Zwangsstörungen. Leading Opinions Neurologie & Psychiatrie 2014; 6: p. 42–45.
8. Rowa K, Antony M., Summerfeldt L, Purdon C, Young L, & Swinson R: Office-based vs. home-based behavioral treatment for obsessivecompulsive disorder: A preliminary study. Behaviour Research and Therapy 2007; 45: 1883–1892.
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