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SYMPOSIUM
4. Internationale Tagung für Versicherungsrecht und Versicherungspsychiatrie
Die Bedeutung von Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung bei der Begutachtung
Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen sind in der versicherungsrechtlichen Begutachtung ein schwieriges Thema. Denn oftmals ist versicherungsrechtlich nicht die Diagnose entscheidend, sondern die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit. Nationale und internationale Experten orientierten die Teilnehmer an der «4. Internationalen Tagung für Versicherungsrecht und Versicherungspsychiatrie» unter anderem über die Psychodiagnostik oder den Miteinbezug der Strukturachse in der versicherungsrechtlichen und -medizinischen Begutachtung. Die gut besuchte Fachtagung war eine gemeinsame Fortbildung der Rehaklinik Bellikon, der Universitären Psychiatrischen Kliniken UPK Basel und der Psychiatrischen Universitätsklinik PUK Zürich.
Psychodiagnostik von Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen in der Begutachtung «Seit rund 100 Jahren versuchen wir die Persönlichkeit und seit zirka 30 Jahren auch Persönlichkeitsstörungen mittels psychologischer Untersuchungsinstrumente zu erfassen», sagte Prof. Rolf-Dieter Stieglitz von der Fakultät für Psychologie sowie den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. «Heute existieren gleich mehrere konkurrierende Verfahren, die zudem unterschiedlich sind in ihrer Konzeptualisierung.» Die längste Tradition hat das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R) mit seinen 12 Skalen. Es ist einfach handhabbar, liefert eine gute Beschreibung der Persönlichkeit aus normalpsychologsicher Perspektive, ist im Rahmen der Begutachtung meist jedoch weniger aussagekräftig. Ein weiterer Ansatz ist das Fünf-Faktoren-Modell (FFM), bei dem es sich um ein Modell der Persönlichkeitspsychologie handelt, das fünf oft replizierte Hauptdimensionen der Persönlichkeit postuliert. Demnach lässt sich jeder Mensch auf den folgenden Skalen beschreiben: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit. Auf der Grundlage des Big-FiveModells wurde das NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI) entwickelt, dem heute international gebräuchlichen Persönlichkeitstest für Jugendliche und Erwachsene. Auch weitere Verfahren wie das DSM-IV-orientierte Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar (PSSI), das Verhaltens- und Erlebnisinventar (VEI) oder der Münchner Persönlichkeitstest (MPT), wobei Letzterer vor allem prämorbide Aspekte der Persönlichkeit zu erfassen ver-
sucht, sind interessante Verfahren – gerade in der Begutachtungssituation. «Alle Verfahren haben als Selbstbeurteilungsverfahren den Vorteil einer Normierung und zeigen die relative Position einer Person im Vergleich zu einer Referenzperson an», sagte Prof. Stieglitz. Persönlichkeitstests eignen sich jedoch nicht, um eine Persönlichkeitsstörung z.B. nach ICD10 oder DSM-5 zu diagnostizieren. Hier bedarf es spezieller Instrumente, vor allem diagnos-
Durch das Programm führte Dr. Gerhard Ebner, medizinischer Leiter am Zentrum für Begutachtung an der Rehaklinik in Bellikon (im Bild rechts), der mit Prof. Harald J. Freyberger, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald am HELIOS Hanseklinikum Stralsund, über Diagnosesysteme diskutierte.
tischer Interviews, oder einer «sehr guten klinischen Erfahrung und eines Trainings in der Gesprächsführung», so Stieglitz. Der Universitätsprofessor schlägt zur Diagnosestellung einen zweistufigen diagnostischen Prozess vor, bei dem der Patient mittels Selbstbeurteilung oder eines kurzen Interviews gescreent wird. In einem zweiten Schritt erfolgt dann die systematische Erfassung. Abschliessend hielt er fest, dass Persönlichkeitsstörungen eine der am schwersten zu diagnostizierenden psychischen Störungen darstellen und die Diagnose in der Praxis oft falsch oder zu schnell gestellt wird. «Teils wird die Diagnose auch vom Vorgänger unkritisch übernommen», so Prof. Stieglitz. Zudem bestünden oft Überschneidungen auf Kriterienebene zwischen den einzelnen Subtypen, «was zu einer teils absurd hohen Komorbidität führen kann».
Der Miteinbezug der Strukturachse in der Begutachtung OPD steht für Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Das Diagnosesystem wurde von Prof. Harald J. Freyberger, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald am HELIOS Hanseklinikum Stralsund dargestellt. OPD ist ein psychodynamisches Diagnosesystem, welches vorwiegend für psychoanalytisch und tiefenpsychologisch arbeitende Psychotherapeuten konzipiert ist. Das diagnostische Manual ist als Ergänzung zu den bestehenden psychiatrischen Diagnosemanualen (dem DSM-IV und dem ICD-10) zu sehen, das mit dem Ziel entwickelt wurde, ein verlässliches und valides diagnostisches Instrumentarium zur Verfügung stellen zu können. Damit stellt OPD eine Alternative zu den rein auf Deskription und Phänomenologie basierenden internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV dar. Durch die Operationalisierung, das heisst Messbarmachung der wesentlichen Variablen für psychodynamische Theorien, wird eine bessere Objektivität, Reliabilität und Validität der Diagnose möglich. Damit versucht die OPD den Gütekriterien psychodiagnostischer Verfahren gerecht zu werden. «OPD ist aber keine Psychoanalyse», sagte Universitäts-Professor Harald Freyberger einschränkend, «OPD hat als Kern vielmehr die Objekt-Beziehungs-Psychologie.» Die Erhebungsbögen enthalten insgesamt über 40 Einschätzungsskalen und frei formu-
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lierbare Felder. Achse 1 umfasst das Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, Achse 2 umfasst habituelle und dysfunktionale Beziehungsmuster, Achse 3 umfasst lebensbestimmende und Aktualkonflikte, Achse 4 umfasst die Struktur und Achse 5 umfasst psychische und psychosomatische Störungen nach ICD-10. Aus der Sicht niedergelassener Psychotherapeuten ist OPD oft zu zeitaufwändig, um routinemässig breite Anwendung zu finden. «Mittlerweile wurden aber trotzdem mehr als 50 000 Exemplare des Handbuchs verkauft», hielt Prof. Freyberger fest. Das Diagnoseverfahren findet demnach doch breite Anwendung. Zusammenfassend hielt der Experte deshalb fest, dass OPD heute ein klinisch brauchbares Instrument ist, das in der Routineversorgung und der Rehabilitation breit eingesetzt wird und akzeptable Daten zur Reliabilität und den verschiedenen Formen der Validität liefert. Allerdings sei OPD mit einem hohen Lernaufwand verbunden, da drei Seminare mit zumindest 6-monatigen Intervallen für die Schulung notwendig sind.
Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen aus juristischer Sicht Mit Spannung wurde der Vortrag von Hans Jakob Mosimann, Richter am Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich/Winterthur und Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur, erwartet. Es gibt eher weniger Urteile des Bundesgerichts, in denen eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung (am ehesten F 60, F61, F62 und F68; kaum andere) erwähnt wird. Noch seltener fänden sich dazu nähere Ausführungen, sagte Mosimann einleitend. Einen Grund sieht der Richter darin, dass für die Rechtsprechung nicht die Diagnose entscheidend ist, sondern die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit. Diese Sichtweise veranschaulichte Mosimann anhand ausgewählter Fälle: Laut einer medizinischen Beurteilung bestand beispielsweise eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (F61.0), eine andere medizinische Beurteilung verneinte sie mit Hinweis auf die erfolgreiche Lebensbewältigung. Das Gericht befand, die Diagnose sei nicht entscheidend, eine relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit sei nicht ausgewiesen. Ebenso fand das Gericht bei oder trotz einer diagnostizierten narzisstischen Persönlichkeitsstörung (F60.8) keine (nicht überwindbare) Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Demgegenüber wurde bei einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F60.3) des impulsiven Typs sowie Verdacht auf anhaltende somatoforme Schmerzstörung die attestierte volle Arbeitsunfähigkeit vom Gericht bestätigt.
Hans Jakob Mosimann wies darauf hin, dass Persönlichkeitsstörungen praktisch nie als einzige Diagnose in den vom Bundesgericht beurteilten Fällen vorkommen und der Fokus immer auf den Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit liegt. Das ist bei psychischen Leiden, wo ein Nicht-mehr-können-Wollen anders beurteilt wird als ein Nicht-mehr-wollen-Können, besonders schwierig zu entscheiden.
Persönlichkeitsstörungen bei nicht authentischer Symptom-, Beschwerde- und Leistungsfähigkeit Wie können Psychiater versicherungspsychiatrisch abklären, ob die Arbeitsunfähigkeit neurologisch bedingt ist und ein somatisches Korrelat besitzt oder der Patient eine Krankheit nur vortäuscht? Das Spannungsfeld des «Malingering», der «Täuschung», stellte Dr. Gerhard Ebner, medizinischer Leiter am Zentrum für Begutachtung an der Rehaklinik in Bellikon vor. «Malingering» beinhaltet Symptome, die einer falschen Ursache zugeschrieben werden, einer absichtlichen und übertriebenen oder vorgetäuschten Simulation. «Malingering» grenzt sich von Begriffen wie Konversionsstörungen ab, die beispielsweise nicht willentlich beeinflusst werden können und psychischen Störungen zugeordnet werden. Vergleicht man internationale Prävalenzraten für «Malingering», dann liegen diese in der Schweiz bei durchschnittlich 54 Prozent nach Hals-Wirbelsäulen-Distorsion und/oder einer MTBI (Mild Traumatic Brain Injury) im Rahmen eines Rechtsverfahrens. In Deutschland liegt die Prävalenzrate bei durchschnittlich 61 Prozent mit HWS-Distorsion im Rahmen von Rechtsbegehren. Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung sind aber nicht «erfolgreicher» beim «Malingering», so Dr. Ebner. Vielmehr täuschen laut Studien rund drei Viertel aller hospitalisierten Patienten, bei Collegestudenten sind es 48 bis 90 Prozent. Malingering kann deshalb auch als Anpassungsleistung einer nicht-schlechten Person aufgrund schlechter Umstände angesehen werden. «Malingering zu erkennen, kann dann vielleicht darauf hinweisen, dass ein Patient Unterstützung benötigt», so Dr. Ebner.
Versicherungsmedizinische Begutachtung: Worauf kommt es an? Worauf es aus Sicht der Persönlichkeitspsychologie bei der versicherungsmedizinischen Begutachtung ankommt, erklärte Prof. Dr. Julius Kuhl, Professor für differenzielle Psychologie und experimentelle Persönlichkeitspsychologie an der Universität Osnabrück. Mögliche Fragen der Persönlichkeitspsychologie umfassen beispielsweise folgende Punkte: G Welche Arbeitsplatzbedingungen entschei-
den über den Verlauf? G Wie lassen sich Wollen und Können unter-
scheiden?
G Welche psychischen Funktionen sind kon-
trollierbar und damit veränderbar?
Er stellte die wichtigsten Persönlichkeitstheo-
rien und seinen daraus abgeleiteten integra-
tiven Ansatz der Theorie der Persönlichkeits-
System-Interaktionen (PSI) vor; dieser be-
schreibt die verschiedenen – aus den Persön-
lichkeitstheorien abgeleiteten Funktionsprofile
– auf der Grundlage experimentalpsychologi-
scher und neurobiologischer Forschungser-
gebnisse. Persönlichkeit sei als Interaktion
zwischen allen diesen Systemebenen zu be-
trachten. In Bezug auf den Arbeitsplatz ist die
Persönlichkeit im Spannungsfeld von Eigen-
kontrolle und Kontrollverlust gefordert. Wann
ist beispielsweise eine Person unter- oder über-
fordert, wann ist der Job im Flow?
Auch hier war die Frage zentral, wie man das
Können des Wollens messen kann. Denn her-
kömmliche psychodiagnostische Methoden
ergeben kaum Hinweise, an denen man erken-
nen kann, ob eine Handlung für eine be-
stimmte Person kontrollierbar sei oder nicht. Ist
die Person nicht willens oder kann sie nicht?
Prof. Kuhl stellte eine neue diagnostische Me-
thode vor: «Emoscan» ermöglicht es, zwischen
diesen beiden Fällen zu unterscheiden. Neue
bildgebende Verfahren weisen darauf hin, dass,
je besser einer Person die mit Emoscan erfasste
Willensbahnung (Absichtsumsetzung) gelingt,
desto stärker ist eine Region des rechten vor-
deren Teils des Gehirns aktiviert, die in der Nähe
von Gebieten liegt, die bei der Selbstwahrneh-
mung und Selbstregulation beteiligt sind. Die
Nützlichkeit der neuen Methodik zur Messung
der Selbstmotivierungskompetenz wurde in
einer anderen Untersuchung aufgezeigt: Un-
ternehmungsgründer, die eine starke Selbst-
motivierungskompetenz hatten, wiesen nach
zwei Jahren eine signifikant höhere Umsatzstei-
gerung auf als Gründer mit niedriger Selbstmo-
tivierungskompetenz.
Anhand eines konkreten Beispiels eines Unter-
nehmers mit «Burnout-Symptomen» stellte
Prof. Kuhl das praktische Vorgehen der Funk-
tionsdiagnostik vor. Der betroffene Unterneh-
mer sagte im Gespräch, dass er «Authenzitäts-
probleme» habe und immer wieder ein Gefühl
der Unzufriedenheit, weil er nicht die richtigen
Prioritäten im Leben setzen würde. Als Fazit aus
der Begutachtung zeigt sich, dass der Unter-
nehmer exzellente objektive selbstregulatori-
sche Kompetenzen hat – das eigene Leis-
tungsbedürfnis und seine Kontrollmöglichkei-
ten aber stark unterschätzte und einige Persön-
lichkeitsfunktionen nicht mehr im Gleich-
gewicht waren. Nachdem gemeinsam mit dem
Klienten Wege erarbeitet wurden, seine selbst-
regulatorischen Kompetenzen in die Alltags-
planung einzubringen, stellte sich eine
Work-Life-Balance ein.
G
Annegret Czernotta
Quelle: Internationaler Kongress Versicherungsrecht und Versicherungspsychiatrie, 16.1.2015 in Spreitenbach
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