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FORTBILDUNG
Teil I – Versorgungssituation und psychotherapeutische Haltung
Psychodynamische Psychotherapie von Menschen mit Psychosen
In den psychiatrischen Kliniken mit Versorgungsauftrag bestimmen häufig Menschen mit Psychosen den Klinikalltag. Eine Medikamenteneinnahme wird oftmals als Voraussetzung dafür angesehen, dass der Betroffene überhaupt therapierbar ist. Ein Werkzeugkasten für Professionelle, der in diesem Teil 1 vorgestellt wird, soll Psychotherapeuten im Umgang mit Psychosebetroffenen den Zugang zu einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung ermöglichen, ohne dass diese Zwang im Zusammenhang mit der Psychopharmakaeinnahme erleben müssen. Grundlegendes Werkzeug dafür ist eine therapeutische Haltung, die auch eine respektvolle Zusammenarbeit der Disziplinen, der Verfahren und der biologischen wie auch der psychotherapeutischen Medizin beinhaltet. Des Weiteren ist eine Modifikation des Psychotherapieverfahrens notwendig. Beides ermöglicht Menschen mit einer Psychose, ein Setting und Therapieformen anzunehmen und diese nicht als aufgezwungenen Feind zu empfinden.
Dorothea von Haebler
von Dorothea von Haebler
D reissig bis 60 Prozent der Akutaufnahmen in psychiatrischen Kliniken* mit einem Versorgungsauftrag machen Menschen mit Psychosen aus, und zirka 20 Prozent kommen mit einer ICD-Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis (1). Menschen mit einer Psychose bestimmen den Klinikalltag, und ebenso bestimmend scheint bei ihnen noch immer die Therapie mit Psychopharmaka zu sein, um beispielsweise «mit den Patienten überhaupt arbeiten oder erst mal umgehen zu können». Die Annahme, dass «Krankheitseinsicht» und «Compliance» Voraussetzungen für eine gelingende Behandlung sind, ist weitverbreitet, und bei Menschen mit Psychosen können diese beiden «Höllenhunde vor den Toren der Psychiatrie» (2) häufig nicht passiert werden.
Einleitung Psychotherapie für Menschen mit Psychosen galt lange Zeit als nicht indiziert: nicht nur, dass sie nicht helfe, viele Praktizierende dachten sogar, dass eine Psychose durch sie getriggert würde. Dieses veraltete Lehrbuchwissen ist auch in der Gesellschaft, bei den Betroffenen und in ihrem Umfeld verankert. In der Lehre und der Ausbildung wird die Psychotherapie von Menschen mit Psychosen weitgehend ausgespart und kommt nur als persönliches, meist ausserinstitutionelles Engagement zum Tragen. Das hat zur Folge, dass nur sehr wenige der ausgebildeten Psychotherapeuten den Umgang mit
* Daten beziehen sich auf die psychiatrische Versorgungsstruktur in Deutschland.
Psychosebetroffenen kennen und sich dadurch die Psychotherapie von Menschen mit Psychosen nicht zutrauen. Ohne Werkzeuge, ohne Supervision und bis vor Kurzem – zumindest in Deutschland – ohne eine rechtliche Grundlage ist es verständlich, dass die ambulante und auch die stationäre Psychotherapie dieser häufig sehr schwer oder sehr akut Kranken gar nicht stattgefunden hat. Versorgungszahlen zeigen (3), dass Menschen mit Schizophrenien häufige Kontakte zum Gesundheitssystem haben, aber fast nie eine Psychotherapie erhalten. Sucht, organische Erkrankungen und Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis machen zusammen nicht einmal 1 Prozent der genehmigten (Richtlinien-)Psychotherapien aus. Dabei geben die international anerkanntesten Leitlinien (4) vor, dass psychotherapeutische Behandlung in jeder Phase und jedem Schweregrad einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis indiziert ist. Das spricht für eine klare Unterversorgung und Handlungsbedarf. Es gibt viele krankheitsimmanente Gründe, die einen Menschen mit Psychose daran hindern oder gar nicht erst auf die Idee kommen lassen, einen Psychotherapeuten aufzusuchen (5). Erschwerend kommt hinzu, dass noch immer davon ausgegangen wird, dass ein Defizit in der Ich-Struktur die Erklärung einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis ist. Dabei wird ein zentraler Aspekt vernachlässigt: «die dahinter stehenden intrapsychischen Gegensätzlichkeiten, also ein Konflikt oder ein Dilemma» (Mentzos unpublished communication). Mentzos hat beschrieben, dass die Psychose eine Funktion hat und eine kreative Leistung ist. Er schreibt: «Ich glaube, dass eine solche Sichtweise,
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und dafür haben wir alltäglich empirische Bestätigungen, eher in der Lage ist, dem Patienten zu helfen, während die betont strukturelle Betrachtung von einem kaum beeinflussbaren Defizit ausgeht.» (15)
Aktuelle und relevante Paradigmenwechsel Was also können wir tun, um dieser Patientengruppe eine Psychotherapie zukommen zu lassen, die indiziert, hilfreich und auch erwünscht ist? Es ist dringend notwendig, dass Psychiater und Psychotherapeuten ein Selbstverständnis in der psychotherapeutischen Behandlung von Psychosebetroffenen entwickeln, welches die vorherrschende Haltung der zuerst eingesetzten und häufig alleinigen Medikamentengabe ablöst. Menschen mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, oder Menschen mit einer schizophrenen Psychose werden in der Gesellschaft, aber auch im Gesundheitssystem, entweder als akut exazerbiert – und damit als nur medikamentös zugänglich – wahrgenommen oder als «chronisch» krank und dann dem betreuenden und nicht mehr therapierenden Sektor des Gesundheitssystems zugeordnet.
In den letzten Jahren sind mehrere Paradigmenwechsel erfolgt, die diese vereinfachte Wahrnehmung der Situation im Kern verändern: 1. Die Effektstärke von Psychotherapie und Psycho-
pharmakotherapie bei schizophrenen Menschen ist vergleichbar: Morrison et al. (6) konnten zeigen, dass kognitive Verhaltenstherapie bei schizophrenen Patienten, die keine Medikamente nehmen, gleiche Effektstärken zeigt wie Medikation alleine. 2. Die Psychopharmakotherapie mit Antipsychotika hat aufgrund schwerwiegender Nebenwirkungen einen anderen Stellenwert bekommen (7). Die Neuroleptikadebatte verlangt das Einsetzen von möglichst geringen Dosierungen. Das bedeutet in der Praxis, dass die auch somatischen Medikationsfolgen gegen die vermeintlich erreichbare Symptomfreiheit abgewogen werden müssen und auch die Rezidivprophylaxe nicht allein einer regelmässigen Einnahme von Psychopharmaka überlassen werden kann. 3. In einer Zeit, in der die Suche nach Genen und neuen Psychopharmaka nicht weiterführt, gewinnt die psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit Psychosen – wie in «Science» dieses Jahr beschrieben (8) – an Interesse. Allerdings gibt es im Moment keine eindeutig vorherrschend wirksamen Psychotherapieverfahren. Der Erfolg eines Psychotherapieverfahrens bezieht sich häufig auf spezifische Aspekte der Erkrankung und scheint zudem individuellen Voraussetzungen und der Integration in einen Gesamtbehandlungsplan zu unterliegen (8–11). Damit Menschen mit Psychosen von einer Psychotherapie profitieren, ist zumeist eine Modifikation der gelehrten Psychotherapieverfahren notwendig. In der hier beschriebenen, modifizierten psychodynamischen Psychotherapie sprechen wir von Werkzeugen für den Psychotherapeuten.
Die therapeutische Begegnung mit Menschen mit Psychosen Wird einmal die Begegnung des Therapeuten mit einem Menschen mit Psychose genauer betrachtet, fällt Folgendes auf: Der Patient erscheint häufig mit dem Gefühl der existenziellen Bedrohung oder sogar der apokalyptischen Angst, aus der heraus er spricht oder auch schweigt. Diese Angst überträgt sich auf den ärztlichen oder den psychologischen Psychotherapeuten und bewirkt so bei fehlender Reflexion ein Handeln des Therapeuten aus der Angst heraus. Jeder, der eine solche Begegnung bereits erlebt hat, kennt das Misslingen eines Einstiegs, den man zur Sicherheit in der Routine wählt, beispielsweise mit dem Satz: «Wie geht es Ihnen?» Oder das Reagieren vor dem Reflektieren, mit zum Beispiel einer Medikamentenerhöhung oder einer stationären Unterbringung des Betroffenen, die dann meist der Sicherheit des Therapeuten dient.
Grundprinzipien der Therapie Um die Begegnung anders und dadurch sicherer zu gestalten, ist es sehr hilfreich, die Besonderheiten von Menschen mit Psychosen zu kennen. Insgesamt lassen sich fünf Merkmale zusammenfassen, und für jedes einzelne Merkmal kann ein Therapieprinzip formuliert werden (12):
1. Die psychotische Angst Diese ist jedem Therapeuten bekannt, der mit Menschen mit Psychosen zu tun hat. Sie kann einen solchen Druck und eine solche Panik – auch beim Behandler – auslösen, dass häufig in der Angst mitagiert wird (Zwangseinweisung bei apokalyptischer Angst, Durchsuchen von Zimmern). Therapieprinzip: Diese Angst muss in der Reflexion des Therapeuten auf seine Reaktion auf die psychotische Angst (Reflexion der Gegenübertragung) erst erkannt und dann überwunden werden. Das bedeutet, dass der Therapeut die Not erkennt, die Existenzbedrohung, die sich hinter der Angst verbirgt, und diese Not ernst nimmt. Er ordnet sie ein als nicht eigene Angst, kann sie so relativieren und ermöglicht es dadurch, dem Betroffenen ein Alternativszenario anzubieten.
2. Identitätsdilemma (15) Das ist die zugrunde liegende Dynamik, auf welche sich eine Psychose als kreative Lösung aufbaut. Ein Dilemma bedeutet, dass der Psychosebetroffene zwischen zwei unmöglichen Wegen wählen soll. Bei der schizophrenen Psychose ist das die Wahl zwischen Selbstverlust und Objektverlust. Beides käme einer Existenzvernichtung gleich. Eine Trennung sowie die Aufnahme einer Beziehung sind gleichermassen bedrohlich. Also erschafft sich der im Dilemma Befindliche in der Psychose eine kreative Lösung aus dem Dilemma unter Verlust des Realitätsbezugs. Therapieprinzip: In der Therapie muss es zu einer positiven Neuerfahrung kommen, die es schafft, das Dilemma abzumildern, und eine Störung der Interpersonalität erkennbar werden lässt.
3. Störung der Realitätsverarbeitung Die Realität trifft ungefiltert auf den Psychosebetroffenen. Es existiert keine subjektive Zeit, kein Gestern,
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Heute, Morgen, mit welcher Erfahrungen eingeordnet werden können und die so eine Vergänglichkeit oder eine Zukunft haben. Durch die fehlende Symbolisierungsfähigkeit ist eine für das Erleben relativierende Erfahrung nicht existent. Therapieprinzip: In der therapeutischen Beziehung kann die Realitätsverarbeitung erarbeitet werden: Stück für Stück und gemeinsam mit dem Erleben des Psychosebetroffenen in einem gemeinsamen «Walking along» (14).
4. Störung der Affektregulation und der -modulation Ungefiltert treten Affekte auf; es entsteht ein Entwederoder. Es fehlt die relativierende Erfahrung im Moment der Psychose, die dilemmatische Konstellation zeigt sich auch im Gefühlsleben. Therapieprinzip: In der therapeutischen Beziehung kann an der Entwicklung von Zwischenstufen gearbeitet werden.
5. Vermittlungsstörung zwischen Erleben und Erfahrung, zwischen Wort und Ding Dieses Merkmal einer Psychose hat mit Repräsentanzen und der Symbolisierung zu tun, es kommt zu einem Ineinanderfallen von Vorstellung (Fantasie) und Realität. Der Unterschied zwischen Wort und Ding geht verloren, was sich beispielsweise im Konkretismus zeigt. Es ist dem Menschen mit Psychose nicht möglich, von sich zu anderen zu sprechen. Die nicht eigene Sprache kann das Erleben nicht ausdrücken. Die eigene Sprache wird von den anderen nicht verstanden. Therapieprinzip: In der therapeutischen Beziehung ist durch ein Hilfs-Ich eine Verbindung möglich.
Modifizierte psychodynamische Psychosenpsychotherapie Aus den beschriebenen Besonderheiten schizophrener
Kasten:
Informationen zur Psychosenpsychotherapie
1. Der Dachverband Deutschsprachiger Psychosen-Psychotherapie e. V. (DDPP) ist ein Zusammenschluss aus allen in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen, Betroffenen und Angehörigen, deren gemeinsames Ziel es ist, dass Psychotherapie in der Behandlung von Menschen mit Psychosen zu einem selbstverständlichen Angebot wird. Weitere Informationen zu Veranstaltungen und Aktivitäten: www.ddpp.eu
2. Der weiterbildende und berufsbegleitende Masterstudiengang «Integrierte Versorgung psychotisch erkrankter Menschen» ist ein Kooperationsstudiengang zwischen der Charité Berlin, dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), der katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) und der federführenden international Psychoanalytic University (IPU) in Berlin. Durch diese Kooperation ist ein Studiengang entstanden, in dem sich sämtliche Berufsgruppen, welche professionell mit Menschen mit Psychosen arbeiten, zeitgleich berufsgruppenübergreifend wie berufsgruppenspezifisch ausbilden lassen können. Am Masterstudiengang können auch Interessierte aus der Schweiz und Österreich teilnehmen. Flyer, Informationen zum Studiengang sowie Studienplan und Anmeldung finden sich auf der Homepage der IPU: www.ipu-berlin.de
Patienten und den daraus abgeleiteten Therapieprinzipien ergibt sich ein idealtypischer Verlauf einer aufgrund eines neu entwickelten Krankheitsmodells (13) modifizierten psychodynamischen Psychosenpsychotherapie.
Unbenennbare, traumatische Ängste werden abgemildert Das geschieht durch eine Modellerfahrung in der therapeutischen Beziehung, wobei dilemmatische Konstellationen nicht wiederholt werden. Neu ist es, die interpersonelle Situation und die intrapsychischen Dilemmata zu sehen und nicht zu deuten, sodass ein erstmaliges Erleben im therapeutischen Raum möglich ist. Das Erleben in der therapeutischen Beziehung findet in Echtzeit statt. Es ermöglicht eine Erarbeitung der subjektiven Zeit, der Symbolisierung und der Affekte. Erstmalig erlebt, lassen sich diese in die Biografie integrieren und werden so zum Narrativ. Wenn die Ich-Organisation stabil ist, kann auch gedeutet und mit den bekannten psychodynamischen Werkzeugen weitergearbeitet werden. Diese Methode ist eine falsifizierbare Methode, deren wissenschaftliche Untersuchung geplant ist.
Psychotherapeutische Haltung Die therapeutische Beziehung beginnt explizit mit der ersten Begegnung. Von Beginn an gibt es einen Raum, den «dualen Raum» (16), den es zu errichten und zu schützen gilt. In diesem Raum wird eine respektvolle Begegnung ermöglicht. Denn Ratschläge, Verschreibungen und Deutungen schaffen rasch ein Ungleichgewicht, welches den dualen Raum zerstört, indem der Psychosebetroffene aus dem Kontakt aussteigt, um sein Ich zu schützen. Dabei ist es unumgänglich, diesen therapeutischen Raum als Teil eines Gesamtkonzeptes zu sehen, andere Behandler, Therapeuten, Angehörige, psychosoziale Versorgung von Menschen mit Psychosen begleitend wahrzunehmen und die Vernetzung, zu der ein Betroffener häufig krankheitsimmanent nicht in der Lage ist (Fragmentierungstendenz), zu errichten und zu pflegen. Die beschriebene psychotherapeutische Haltung klingt einfach und selbstverständlich, und dennoch scheint sie im Arbeitsalltag immer wieder schwer umsetzbar. Diese Haltung als Voraussetzung für eine gelingende therapeutische Beziehung kann auch von nicht psychotherapeutisch Tätigen angenommen werden.
Offenheit Der Therapeut sollte auf zu erfüllende Pläne verzichten und offen sein für unerwartete Entwicklungen. Wie oft gehen wir in ein Gespräch mit dem Patienten und wollen, dass er am Ende einer medikamentösen Behandlung oder einer Medikamentenerhöhung zustimmt? Wie oft wollen wir etwas von ihm hören, was uns wichtig erscheint, zu diesem Zeitpunkt aber völlig ausserhalb dessen liegt, was das Befinden des Betroffenen ausmacht? Und wie oft verstellen wir uns mit unseren Vorstellungen und unserer Erfahrung den Weg zu dem Erleben des Menschen mit Psychose? Mit der Offenheit, von der hier die Rede ist, wird ein Kontakt erst möglich, der ansonsten möglicherweise gleich mit der ersten Frage abbricht.
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Festigkeit Auf die Patienten wirkt oft ein immenser Druck von aussen. Diesen gilt es, in der Psychotherapie zu verringern. Dabei darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass das Nennen von Rahmenbedingungen nicht zusätzlichen Druck bedeuten muss, sondern dass das Benennen und das Einhalten eines definierten Settings eine Bereitschaft des Therapeuten widerspiegeln sollte, dem Menschen mit Psychose den Raum einzuräumen, den er benötigt, um sich auf das interpersonelle Wagnis einlassen zu können. Dann bedeutet ein definiertes Setting Respekt und Interesse am Psychosebetroffenen.
Authentizität Der Therapeut muss ein menschliches Gegenüber sein. Die Rolle des Wissenden und des Überlegenen verhindert meist den Kontakt. Ein auch nur kurzes Einlassen auf einen Menschen mit Psychose eröffnet einen Raum, in dem sehr deutlich wird, dass relevantes Wissen auf beide Seiten verteilt ist und dass Menschen mit Psychose häufig anderes von uns benötigen, als wir denken, ihnen geben zu müssen. Authentisch ist es also, diese Position des Wissenden und des Überlegenen zu relativieren.
Neugierde Die hier genannte Neugierde unterscheidet sich deutlich von dem Abfragen eines Fragenkataloges. Sie bezieht sich vielmehr auf ein vorsichtiges, unaufdringliches Nachfragen nach Vorgaben des Menschen mit Psychose. Spricht er nicht, so können es Handlungen oder Äusserlichkeiten sein, die mit Geduld und Vorsicht klärend erfragt werden könnten. Es geht dabei um ein Signalisieren von Interesse an dem tatsächlichen Geschehen und um einen Weg zum Verständnis unverstandenen Erlebens – häufig auch für den Betroffenen.
Selbstfürsorge
Auch in schweren Zeiten muss der Therapeut der The-
rapie etwas abgewinnen können. Das bedeutet, ausrei-
chend Zeit für Super- beziehungsweise Intervision
einzubauen, die auch genutzt wird. Diese beschriebene
Haltung lässt sich treffend zusammenfassen mit den
Worten des Psychoanalytikers Jan Pohl: «Das Ereignis
teilen, statt es interpretierend abzuwehren.»
Die genannten Therapieprinzipien und vor allem die
therapeutische Haltung gelten für den gesamten Ver-
lauf einer (psycho-)therapeutischen Beziehung und er-
möglichen diese. Spezifische psychotherapeutische
Werkzeuge werden in «Teil 2: Werkzeuge im Therapie-
verlauf» vorgestellt.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Dorothea von Haebler
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Charité, Campus Mitte
Charitéplatz 1, D-10117 Berlin
und
International Psychoanalytic University Berlin GmbH
Stromstrasse 1, D-10555 Berlin
Tel. 0049-30-300 117-751
E-Mail: Dorothea.vonhaebler@charite.de
Literatur: 1. Görgen, W. & Engler, U.: Kammerstudie. Ambulante psychotherapeu-
tische Versorgung von psychosekranken Menschen sowie älteren Menschen in Berlin. Im Auftrag der Kammer für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten im Land Berlin, 2005. 2. Bock, T.: Eigensinn und Psychose. Paranus Verlag, Neumünster, 2012. 3. Wittchen, H.U. & Jacob, F.: Size and burden of mental disorders in Europe – a critical review and appraisal of 27 studies. Eur Neuropsychopharmacol 2005; 15, 357–76. 4. National Institute for Clinical Excellence, Schizophrenia: Core Interventions in the Treatment and Management of Schizophrenia in Adults in Primary and Secondary Care. NICE clinical guideline 82. NICE 2009, London. 5. Bechdolf, A. & Klingberg, S.: Psychotherapie bei schizophrenen Störungen: Kein Evidenz-, sondern ein Implementierungsproblem. Psychiat Prax 2014. 8–10. 6. Morrison, A.P., Turkington, D., Pyle, M. et al.: Cognitive therapy for people with schizophrenia spectrum disorders not taking antipsychotic drugs: a single-blind randomized controlled trial. The Lancet 2014, 383(9926), 1395–1403. 7. Aderhold, V., Weinmann, S., Hägele, C., & Heinz, A.: Frontal brain volume reduction due to antipsychotic drugs? Nervenarzt 2014 May 25. Epub ahead of print. 8. Balter, M.: Talking Back to Madness. Science 2014, 343, 1190–1193. 9. Jauhar, S., McKenna, P. J., Radua, J., Fung, E., Salvador, R., & Laws, K. R.: Cognitive-behavioural therapy for the symptoms of schizophrenia: systematic review and meta-analysis with examination of potential bias. Br J Psychiatry 2014; 204(1), 20–29. 10. Rosenbaum, B., Valbak, K., Harder, S., Knudsen, P., Koster, A., Lajer, M., Lindhardt, A., Winther, G., Petersen, L., Jorgensen, P., Nordentoft, M. & Andreasen, A.H.: The Danish National Schizophrenia Project: prospective, comparative longitudinal treatment study of first-episode psychosis. Br J Psychiatry 2005; 186, 394–399. 11. Turner, D. T., van der Gaag, M., Karyotaki, E., & Cuijpers, P.: Psychological Interventions for Psychosis: A Meta-Analysis of Comparative Outcome Studies. Am J Psychiatry 2014; 171(5), 523–38. 12. Lempa, G. & von Haebler, D.: Werkzeugkasten des psychodynamischen Psychosetherapeuten. Psychotherapeut 2012; 5, 495–504. 13. Lempa, G. Montag, C. & von Haebler, D.: Auf dem Weg zum Manual. Psychotherapeut 2013, 4, 327–338. 14. Stern, D.N.: Der Gegenwartsmoment, Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag, 2005; Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 15. Mentzos, S.: Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009. 16. Rom, J.: Identitätsgrenzen des Ich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
Teil 2: «Spezifische psychotherapeutische Werk-
zeuge im Therapieverlauf» erscheint in Ausgabe
2/2015.
Merksätze:
G Menschen mit Psychosen kommen zu über 50 Prozent nicht aus eigenem An-
trieb zu einer psychotherapeutischen Behandlung (1).
G Patienten, die ambivalent oder misstrauisch sind, müssen erst für die Therapie
gewonnen werden, damit ihnen individuell, qualifiziert und im Netzwerk die
Hilfe zukommt, die ihnen zusteht.
G Aktuelle Paradigmenwechsel haben Einfluss auf die psychotherapeutische Ver-
sorgung von Menschen mit Psychosen. Insgesamt müssen bestehende Thera-
pieverfahren für Menschen mit Psychosen modifiziert werden.
G Psychotherapie ist für jede Phase und jeden Schweregrad einer Erkrankung aus
dem schizophrenen Formenkreis indiziert.
G Auf den Besonderheiten schizophrener Menschen aufbauend werden fünf
Grundprinzipien der Psychotherapie beschrieben: Überwindung der Angst in
der Gegenübertragung, positive Neuerfahrung in der Therapie zur Überwin-
dung des Identitätsdilemmas, gemeinsames Erarbeiten der Realitätsverarbei-
tung, Entwicklung von affektiven Zwischenstufen, Verbindung zwischen
Erleben und Erfahrung durch Einsetzen des Hilfs-Ichs.
G Um mit den Psychosebetroffenen therapeutisch arbeiten zu können, braucht
es fünf Werkzeuge der therapeutischen Haltung: Offenheit, Festigkeit, Authen-
tizität, Neugierde und Selbstfürsorge.
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