Transkript
Psychopharmaka und Psychotherapie:
Die Wirksamkeit der psychiatrischen Therapieformen im Vergleich
FORTBILDUNG
Über die unterschiedlichen Therapieformen und die Berechtigung einzelner Therapieverfahren wird in der Psychiatrie kontrovers diskutiert. Dabei ist die medikamentöse psychiatrische Therapie wesentlich erfolgreicher, als dies oftmals diskutiert wird, vergleicht man diese beispielsweise mit der allgemeinmedizinischen Behandlung. Der Beitrag beleuchtet zudem die Wirksamkeit der verschiedenen Antipsychotika und Antidepressiva bei psychiatrischen Erkrankungen und vergleicht die Wirksamkeit der Psychotherapie mit der pharmakologischen Therapie.
Julia Sowislo Christian Huber Undine Lang
von Julia Sowislo, Christian Huber, Undine Lang
I n der psychiatrischen Therapie wird dem Wunsch nach einer optimalen evidenzbasierten Therapie durch die Erstellung von Leitlinien sämtlicher Fachgesellschaften entsprochen. Allerdings erhalten nur etwa 25 Prozent aller Patienten eine leitlinienbasierte Therapie (18), wobei ein grosser Teil der psychiatrischen Patienten erst gar nicht in eine Behandlung gelangt (15). Dementsprechend finden sich kontroverse Ansichten über unterschiedliche Therapieformen und die Berechtigung einzelner Therapieverfahren. Plädiert wird sogar, den Einsatz psychiatrischer Therapien zum Nutzen für den Patienten einzuschränken. Einerseits kann diese Restriktion im Sinne des Recovery-Gedankens und im Rahmen evolutionärer Erklärungsmodelle für psychiatrische Diagnosen einer natürlichen Gesundung und einem «Normalizing» von psychiatrischen Diagnosen dienlich sein, andererseits stigmatisieren ideologisch gefärbte Debatten über Nutzen und Schaden psychiatrischer Therapien die psychiatrische Disziplin – und damit auch psychiatrische Patienten, denen möglicherweise eine Hilfeleistung verweigert wird. Beispiele für kritisierte Therapieansätze sind häufig und betreffen keine spezielle Therapieform. So wurde bereits über Wirksamkeit und Nutzen beziehungsweise die Abschaffung der Zwangsbehandlung diskutiert. Kontroversen finden sich auch in Bezug auf den Einsatz von Antipsychotika, der Lithiumtherapie, der psychodynamischen Therapie bei Psychosen, zum Einsatz von Cholinesterase-Inhibitoren und der Verwendung von Antidepressiva auch bei leichteren Depressionen (9, 10, 12, 13, 14). Im Vergleich der verschiedenen Methoden (Pharmakotherapie, Versorgungsforschung, Psychotherapiestudien) in der klinischen psychiatrischen Forschung zeigen sich in der Pharmakotherapie höhere Teilnehmerzahlen, grössere Kontrollgruppen, eine bessere Verblin-
dung (in der Psychotherapie nur bei Outcome-Analysen vollständig möglich) und Intention-to-Treat-Analysen. Im Gegensatz dazu zeigen sich bei Psychotherapiestudien und in der Versorgungsforschung geringere Abbruchraten und mehr Verlaufsuntersuchungen sowie naturalistische und damit realitätsnähere Bedingungen.
Psychiatrische Medikamente im Vergleich zur allgemeinmedizinischen Therapie Wird die Wirksamkeit allgemeinmedizinischer Behandlung im Vergleich zur psychiatrischen systematisch untersucht, zeigt sich, dass die Behandlungsergebnisse in der Psychiatrie eine sehr hohe Erfolgsquote aufweisen.
Wirksamkeit der allgemeinmedizinischen Behandlung Eine Thrombolysetherapie reduziert die Mortalität von 56 auf 51 Prozent, Aspirin von 46 auf 45 Prozent (11). Kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren sich unter Aspirin von 8,2 auf 6,7 Prozent, allerdings beinhaltet dies keine verringerte Mortalität, weil sich das Blutungsrisiko unter Aspirin erhöht (11). Bei der chronischen Herzinsuffizienz senken verschiedene Medikamente die Mortalität: Die ACE-Hemmer um 4 Prozent, Betablocker um 7 Prozent und Diuretika um 9 Prozent (11). Metformin reduziert den HbA1c-Wert um 1 Prozent und Alpha-Glucosidaseinhibitoren um 0,8 Prozent. Metformin kann in der Langzeitwirkung die Mortalität um 7 Prozent senken (11). Wie wirksam eine Antibiotikatherapie ist, hängt von der Infektion ab (metaanalytische Daten zu schweren Infektionserkrankungen wie Pneumonie oder HIV liegen nicht vor), bei leichteren Rhinosinusitiden finden sich allerdings nur kleine Effektstärken (57% Plazebo, 64% Antibiotikum). Bei der Otitis media wird die Verwendung von Antibiotika kontrovers diskutiert, da nach zwei bis sieben Tagen 78 Prozent der Patienten spontan wieder gesund werden im
&10 1/2015
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Vergleich zu 84 Prozent derer, die Antibiotika einnehmen (11).
Wirksamkeit der psychiatrischen Behandlung Bei der Schizophrenie erhöhen Antipsychotika der zweiten Generation in der Akuttherapie die Anzahl der Responder von 24 Prozent in der Plazebogruppe im Vergleich zu 41 Prozent in der Verumgruppe (11). In der Phasenprohylaxe reduzieren Antipsychotika Rückfälle von 57 auf 22 Prozent innerhalb von zirka einem Jahr. Die Datenlage für die Akutbehandlung der Manie sieht noch etwas besser aus: Verschiedene antimanisch wirksame Medikamente erhöhten die Responserate von 30 Prozent unter Plazebo im Vergleich zu 52 Prozent unter Lithium, 47 Prozent unter Valproat, 51 Prozent unter Carbamazepin und 50 Prozent unter Antipsychotika (11). Bei der bipolaren Depression konnten die Responseraten von 34 auf 58 Prozent erhöht werden, und in der Phasenprophylaxe reduziert Lithium die Rückfallrate von 81 Prozent auf 36 Prozent (11). Bei der Major Depression finden sich in Metaanalysen Effektstärken von 10 bis 15 Prozent, das heisst, dass beispielsweise Paroxetin die Anzahl der Responder von 42 auf 53 Prozent erhöht. Diese Studien wurden bei leicht erkrankten Patienten durchgeführt, was bedeutet, dass für schwerere Erkrankungen stärkere Effekte anzunehmen sind. Die Prophylaxe mit jedem Antidepressivum kann die Rückfallrate von 41 auf 18 Prozent reduzieren, bei neueren Antidepressiva sieht die Quote sogar etwas besser aus (11). Zwangserkrankungen bessern sich unter der Behandlung mit einem SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI) bei 43 Prozent der Patienten (20% Besserung unter Plazebo). Bei Alzheimer-Patienten erhöhen Cholinesterase-Inhibitoren den Anteil von Patienten, die nach einem halben Jahr kognitiv unverändert sind, von 17 auf 24 Prozent (9). Zu beachten ist, dass die vergleichende Untersuchung der Wirksamkeit verschiedener Therapien bei unterschiedlichen Erkrankungen kaum möglich ist, weil auch immer qualitative Fragen aufgeworfen werden. Auch sind die Häufigkeit der jeweiligen Erkrankungen und das Volumen der Untersuchungsergebnisse unterschiedlich. Die Anzahl der eingeschlossenen Patienten in internistischen Studien ist beispielsweise 20-fach höher als in psychiatrischen Studien. Zudem sind die Konsequenzen und das Vorliegen von Nichtbehandlung, Kostenfaktoren und die Zugangsmöglichkeiten zur jeweiligen Therapie unterschiedlich.
Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Erfolg einer internistischen Therapie im Vergleich zur psychiatrischen medikamentösen Behandlung teilweise überbewertet wird. Die medikamentöse psychiatrische Therapie ist wesentlich erfolgreicher, als dies oftmals diskutiert wird.
Antipsychotika im Vergleich Schizophrenes Spektrum Wir können für alle Erkrankungen des schizophrenen Spektrums erwarten, dass Antipsychotika wirksam sind. Dies gilt für die Akutbehandlung bis hin zur Therapie der Negativsymptomatik (5). Allerdings zeigen Studien, dass bei mild ausgeprägten Symptomen die Wirkung
der Antipsychotika in Relation zu den Nebenwirkungen gewichtet werden muss: Je milder die Symptome, desto stärker fallen die Nebenwirkungen im Vergleich zur Besserung ins Gewicht (5). In einer Metaanalyse von 212 Studien mit insgesamt rund 43 000 Teilnehmern wurde die differenzielle Wirksamkeit von Antipsychotika ausgewertet (11). Die umfassende Vergleichsstudie bei 15 Antipsychotika bezog statistisch auch die Verblindung, den Anteil der pharmazeutischen Industrie, Abbruchraten, Sponsorship, Dauer der Studie, Chronizität der Patienten, Wegnahme der Haloperidol- oder Plazebogruppe und so weiter mit ein. Bezüglich der Wirksamkeit der 15 Präparate konnte folgende Rangfolge erstellt werden: Am wirksamsten war Clozapin (Rang 1), gefolgt von Amisulprid (Rang 2), Olanzapin (Rang 3), Risperidon (Rang 4), Paliperidon (Rang 5), Zotepin (Rang 6), Haloperidol (Rang 7), Quetiapin (Rang 8), Aripiprazol (Rang 9), Sertindol (Rang 10), Ziprasidon (Rang 11), Chlorpromazine (Rang 12), Asenapin (Rang 13), Lurasidon (Rang 14) und Iloperidon (Rang 15). Die wenigsten Therapieabbrüche gab es unter Amisulprid, gefolgt von Clozapin und Olanzapin. Die meisten Therapieabbrüche gab es unter Haloperidol, Sertindol und Lurasidon (11). Extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen fanden sich am seltensten unter Clozapin, Olanzapin und Sertindol und am häufigsten unter Haloperidol, Zotepin und Chlorpromazin. Die Sedierung war am ausgeprägtesten unter Clozapin, Sertindol und Chlorpromazin, und am geringsten war sie vorhanden unter Amisulprid, Paliperidon und Sertindol (11). Die Gewichtszunahme war am geringsten ausgeprägt unter Haloperidol, Lurasidon und Sertindol, und am stärksten ausgeprägt war sie unter Olanzapin, Clozapin und Zotepin. Prolaktin erhöhte sich am wenigsten unter Aripiprazol, Quetiapin und Asenapin und am meisten unter Paliperidon, Risperidon und Haloperidol. Eine QT-Verlängerung fand sich am seltensten unter Lurasidon, Paliperidon und Aripiprazol und am häufigsten unter Sertindol, Amisulprid und Ziprasidon (11).
Antimanische Therapie Risperidon und Olanzapin schneiden ähnlich wirksam und vergleichbar ab und zeigen eine bessere Wirksamkeit als Valproat, Ziprasidon, Lamotrigin, Topiramat und Gabapentin (2). Abbruchraten können bei Olanzapine, Risperidon und Quetiapine als niedriger angenommen werden als unter Lithium, Lamotrigin, Plazebo, Topiramat und Gabapentin (2). Und Lithium scheint in der Phasenprophylaxe der bipolaren Störungen dem Valproat überlegen zu sein (1).
Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass eine vergleichende Analyse bezüglich des Wirkungs- und Nebenwirkungsprofils die Einteilung der Neuroleptika in Erst- und Zweitgenerationsprofile widerlegt. Ausserdem scheinen weniger die Nebenwirkungen als die fehlende Wirksamkeit über die Abbruchrate bei Patienten zu entscheiden. Dies deckt sich mit der grossen Studie von Tiihonen et al. (17). Clozapin verzeichnete darin die niedrigste Mortalität und Abbruchrate, obwohl es per
1/2015
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
11
FORTBILDUNG
se eine hohe Nebenwirkungsquote sowie eine inverse Relation von Einnahmedauer und Mortalität zeigt.
Wie wirken Antidepressiva im Vergleich? Kontrovers wird diskutiert, ob die Wirksamkeit von Antidepressiva abnimmt, wenn die Symptomatik der Depression milder ausgeprägt ist (4, 6). Frühere Studien zeigen, dass die Wirksamkeit des Medikaments umso stärker ausfällt, je schwerer die Symptome bei Einschluss sind (10). Man sollte jedoch bedenken, dass die statistische Aussagekraft, vergleicht man durchschnittliche Studienergebnisse, niedrig ist und eine Besserung intraindividueller Symptome leicht unterschätzt werden kann. Konventionelle Metaanalysen zeigen inkonsistente Resultate, was die Wirksamkeit von Antidepressiva der zweiten Generation anbelangt. Eine umfangreiche Metaanalyse, die verschiedene Behandlungen durch direkte und indirekte Vergleiche gewichtet, verglich 12 «neue» Antidepressiva hinsichtlich Wirksamkeit und Akzeptanz in der Akutbehandlung (über 8 Wochen) der Major Depression (3). Die Untersuchung schloss 117 randomisierte, kontrollierte Studien und damit rund 26 000 Teilnehmer ein. In diesen Studien kamen die Substanzen Bupropion, Citalopram, Duloxetin, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Milnacipran, Mirtazapin, Paroxetin, Reboxetin, Sertraline und Venlafaxin zum Einsatz. Wichtigstes Ergebnis war der Anteil der Patienten, der auf die zugeordnete Behandlung ansprach (Wirksamkeit) beziehungsweise die Behandlung abbrach (Akzeptanz). In der Studie zeigte sich, dass Mirtazapin, Escitalopram, Venlafaxin und Sertralin signifikant wirksamer waren als Duloxetin, Fluoxetine, Fluvoxamin, Paroxetin und Reboxetin. In der Tat liess sich anhand der Studie eine Rangfolge der Wirksamkeit statistisch erarbeiten: Am wirksamsten schnitt Mirtazapin (Platz 1), gefolgt von Venlafaxin (Platz 2), Escitalopram (Platz 3), Sertralin (Platz 4), Citalopram (Platz 5), Bupropion (Platz 6), Fluoxetin (Platz 7), Paroxetin (Platz 8), Fluvoxamin (Platz 9) , Duloxetin (Platz 10), Milnacipran (Platz 11) und Reboxetin (Platz 12, Abstand zu Plazebowirkung nicht mehr signifikant) ab. Bezüglich der Akzeptanz der Substanzen (Aussage aufgrund der Abbruchrate) zeigte sich ein etwas anderes Bild: Am besten schnitt Escitalopram (Platz 1), gefolgt von Sertralin (Platz 2), Bupropion (Platz 3), Citalopram (Platz 4), Mirtazapin (Platz 5), Milnacipran (Platz 6), Venlafaxin (Platz 7), Paroxetin (Platz 8), Fluoxetin (Platz 9), Duloxetin (Platz 10), Fluvoxamin (Platz 11), Reboxetin (Platz 12) ab. Reboxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Duloxetin waren die am wenigsten wirksamen und auch aufgrund des Nebenwirkungsprofils am wenigsten akzeptablen Präparate. Reboxetin war bezüglich der Nebenwirkungen unter den 12 untersuchten Präparaten am schlechtesten tolerierbar und weniger wirksam als alle anderen 11 Präparate (3).
Fazit Zusammenfassend ist bei der pharmakologischen antidepressiven Behandlung als Synthese aus Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil Sertralin und Escitalopram als Erstwahltherapie bei der Akutbehandlung von Depressionen zu empfehlen. Bei schwereren Depressionen
scheinen die Nebenwirkungen weniger wichtig zu sein als die effektive Wirkung, teilweise sind Nebenwirkungen wie eine Gewichtszunahme oder Sedation sogar erwünscht. Es empfiehlt sich dann möglicherweise die Gabe von Mirtazapin und Venlafaxin.
Psychotherapie und Pharmakotherapie im Vergleich Die Wirksamkeit von Psychotherapie ist methodenübergreifend immer wieder zu bestätigen und wissenschaftlich zu reevaluieren. Angezweifelt und kritisiert wurde sowohl die Evidenzbasierung psychodynamischer Therapie (16) als auch die Verhaltenstherapie (7). In einem systematischen Review zur Wirksamkeit der Pharmakotherapie versus Psychotherapie und einem Vergleich der Effizienz der Verfahren bei verschiedenen Erkrankungen konnten von Huhn et al. 45 233 Resultate der Datenbank PubMed wissenschaftlich auswerten. Die Resultate basierten auf 61 Metaanalysen über 21 psychiatrische Erkrankungen, die insgesamt über 852 Studiensamples berichteten und 137 126 Studienteilnehmer einschlossen (8). In dieser umfassenden Untersuchung wurden Vergleiche zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie, Pharmakotherapie versus Plazebo und Psychotherapie versus Plazebo eingeschlossen sowie die Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie. Durch den umfassenden Einschluss verschiedener Studien konnten bislang wenig untersuchte Aspekte beleuchtet, methodische Unterschiede herausgearbeitet und unterschiedliche psychiatrische Behandlungsmethoden verglichen werden. Zirka 54 Prozent der Untersuchungen betrafen Psychopharmaka, 28 Prozent psychotherapeutische – vorwiegend verhaltenstherapeutische – Verfahren, 11 Prozent psychodynamische Verfahren und zirka 20 Prozent die Kombination von Pharmakotherapie und Psychotherapie. Alle psychiatrischen Therapieformen (Effect-Size, Schnitt 0,5) zeigten sich auch in dieser Metaanalyse als genauso wirksam wie gängige internistische Therapieformen (Effect-Size, Schnitt 0,45). Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlung im Vergleich zur Pharmakotherapie bei der Akutbehandlung schien gesamthaft höher oder zumindest gleich wirksam zu sein. Insofern scheint bei allen Diagnosen die Psychotherapie gut zu wirken, jedoch nicht immer signifikant überlegen zu sein. Signifikant ist dieser Effekt insbesondere bei der Langzeittherapie von Depression und Bulimie. Allerdings waren die insgesamt inkludierten Patientenzahlen bei der Psychotherapie (n = 270/595) kleiner als bei den Pharmakastudien (n = 2507/3623), wobei bekannt ist, dass kleine Fallzahlen mit weniger als 20 Patienten für positive Wirksamkeitsergebnisse anfällig sind. Auch besteht die Gefahr, dass bei Psychotherapiestudien ein ausgewähltes Patientenklientel eingeschlossen wird, das heisst, die Patienten sind oft schon bei Einschluss bereit, psychotherapeutisch zu arbeiten. Das kann zu einem Bias führen. Bei Pharmakastudien besteht dafür das Risiko, dass über Anzeigen in Zeitungen sogenannte «professionalisierte Patienten» eingeschlossen werden, die an mehreren Studien teilnehmen und daher ein erwünschtes Outcome zeigen. Die Haltung der Psychotherapeuten zur jeweiligen Behandlungsform mag ebenfalls die Resultate verbessern und sich
&12 1/2015
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
indirekt auf den Patienten auswirken, weil den Therapeuten stets bewusst ist, ob sie eine echte «Therapie» oder nur «Plazebo» verabreichen. Immerhin wurden bei 45 Prozent der Psychotherapiestudien verblindete Bedingungen eingehalten, was bei 98 Prozent der Pharmakastudien der Fall war. Leider ist aufgrund der übersichtlichen Studienlage der Effekt von Psychotherapie bei weitgehend «unselektierten» – naturalistischen – Patienten nicht quantifizierbar. Was bisher sicher zu wenig untersucht wurde, ist beispielsweise der Einfluss von Psychotherapie auf die Adhärenz zur Pharmakotherapie, also der indirekt positive Effekt von Psychotherapie (und einem bestehendem Vertrauen zum Therapeuten) auf die Medikamenteneinnahme. Auch sind psychotherapeutische Strategien bei Akutpatienten zur Vertrauensbildung und damit Vermeidung von Zwangsmassnahmen nicht ausreichend etabliert und erforscht. Damit bleibt die Psychotherapie für einen grossen Teil der Patienten unzugänglich, und Medikamente werden routinemässig gegen den Willen des Patienten verabreicht.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Psy-
chotherapie in der Akutbehandlung der medikamen-
tösen Therapie in ihrer Effektivität nicht unterlegen ist.
Darüber hinaus lässt sich sagen, dass die psychiatrische
Therapie sehr erfolgreich ist. Das gilt mit ähnlicher Ef-
fektivität für alle psychiatrischen Diagnosen und alle be-
kannten, gängigen Behandlungsverfahren.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Undine Lang
Klinikdirektorin
Erwachsenenpsychiatrische Klinik
Universitäre psychiatrische Kliniken (UPK)
Wilhelm Klein Str. 37
4056 Basel
Ordinariat Psychiatrie der Universität Basel
E-Mail: Undine.Lang@upkbs.ch
Merkpunkte:
G Im Vergleich der allgemeinmedizinischen zur psychiatrischen Behandlung weisen Behandlungsergebnisse in der Psychiatrie eine sehr hohe Erfolgsquote auf.
G Eine vergleichende Analyse bezüglich des Wirkungs- und Nebenwirkungsprofils widerlegt die Einteilung der Neuroleptika in Erst- und Zweitgenerationsprofile. Zudem scheint die fehlende Wirksamkeit über die Abbruchrate bei Patienten zu entscheiden.
G Bei schwereren Depressionen scheinen die Nebenwirkungen weniger wichtig zu sein als die effektive Wirkung, teilweise sind Nebenwirkungen wie eine Gewichtszunahme oder Sedation sogar erwünscht.
G In der Akutbehandlung ist die Psychotherapie der medikamentösen Therapie in ihrer Effektivität nicht unterlegen.
Literatur:
1. BALANCE investigators and collaborators, Geddes JR, Goodwin GM, Rendell J, Azorin JM, Cipriani A, Ostacher MJ, Morriss R, Alder N, Juszczak E.: Lithium plus valproate combination therapy versus monotherapy for relapse prevention in bipolar I disorder (BALANCE): a randomised open-label trial. Lancet 2010; 375: 385–95.
2. Cipriani A, Barbui C, Salanti G, Rendell J, Brown R, Stockton S, Purgato M, Spineli LM, Goodwin GM, Geddes JR.: Comparative efficacy and acceptability of antimanic drugs in acute mania: a multiple-treatments meta-analysis. Lancet 2011; 378: 1306–15.
3. Cipriani A, Furukawa TA, Salanti G, Geddes JR, Higgins JP, Churchill R, Watanabe N, Nakagawa A, Omori IM, McGuire H, Tansella M, Barbui C.: Comparative efficacy and acceptability of 12 new-generation antidepressants: a multiple-treatments meta-analysis. Lancet 2009; 373: 746–58.
4. Fournier JC, DeRubeis RJ, Hollon SD, et al.: Antidepressant drug effects and depression severity: a patient-level meta-analysis. JAMA 2010; 303: 47–53.
5. Furukawa TA, Levine SZ, Tanaka S, Goldberg Y, Samara M, Davis JM, Cipriani A, Leucht S.: Initial Severity of Schizophrenia and Efficacy of Antipsychotics: Participant-Level Meta-analysis of 6 Placebo-Controlled Studies. JAMA Psychiatry. 2014 Nov 5. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2014.2127.
6. Gibbons RD, Hur K, Brown CH, Davis JM, Mann JJ.: Benefits from antidepressants: synthesis of 6-week patient-level outcomes from double-blind placebo-controlled randomized trials of fluoxetine and venlafaxine. Arch Gen Psychiatry 2012; 69: 572–579.
7. Greenberg G. Manufacturing Depression: The Secret History of a Modern Disease. New York, NY: Simon & Schuster; 2010.
8. Huhn M, Tardy M, Spineli LM, Kissling W, Förstl H, Pitschel-Walz G, Leucht C, Samara M, Dold M, Davis JM, Leucht S.: Efficacy of pharmacotherapy and psychotherapy for adult psychiatric disorders: a systematic overview of meta-analyses. JAMA Psychiatry 2014; 71: 706–15.
9. Kaduszkiewicz H, Zimmermann T, Beck-Bornholdt HP, van den Bussche H.: Cholinesterase inhibitors for patients with Alzheimer’s disease: systematic review of randomised clinical trials. BMJ 2005; 331: 321–327.
10. Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, Moore TJ, Johnson BT.: Initial severity and antidepressant benefits: a meta-analysis of data submitted to the Food and Drug Administration. PLoS Med 2008; 5: e45.
11. Leucht S, Hierl S, Kissling W, Dold M, Davis JM.: Putting the efficacy of psychiatric and general medicine medication into perspective: review of meta-analyses. Br J Psychiatry 2012; 200: 97–106.
12. Moncrieff J.: Lithium revisited: a re-examination of the placebo-controlled trials of lithium prophylaxis in manic-depressive disorder. Br J Psychiatry 1995; 167: 569–574.
13. Morrison AP, Hutton P, Shiers D, Turkington D.: Antipsychotics: is it time to introduce patient choice? Br J Psychiatry 2012; 201: 83–84.
14. Muralidharan S, Fenton M.: Containment strategies for people with serious mental illness. Cochrane Database Syst Rev 2006 19: CD002084.
15. Rüesch P, Bänziger A, Juvalta S.: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan), Neuchâtel 2013.
16. Tiihonen J, Lönnqvist J, Wahlbeck K, Klaukka T, Niskanen L, Tanskanen A, Haukka J.: 11-year follow-up of mortality in patients with schizophrenia: a population-based cohort study (FIN11 study). Lancet 2009 Aug 22; 374(9690): 620–7.
17. Thombs BD, Jewett LR, Bassel M.: Is there room for criticism of studies of psychodynamic psychotherapy? Am Psychol 2011; 66: 148–149.
18. Wang PS, Berglund P, Kessler RC.: Recent care of common mental disorders in the United States: prevalence and conformance with evidence-based recommendations. J Gen Intern Med 2000; 15: 284–92.
1/2015
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
13