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FORTBILDUNG
Konversionsstörungen: Hintergründe – Diagnostik – versicherungsrechtliche Bewertung
Hans Georg Kopp Gerhard Ebner
Konversionsstörungen werden als eine Gruppe von psychischen Störungen aufgefasst, die traditionell als Ausdruck eines dissoziativen Prozesses gesehen werden. Letztlich gibt es nur spekulative Erklärungsansätze über das Zustandekommen von Konversionsstörungen, wenngleich weitgehend Einigkeit über die Existenz von dissoziativen Mechanismen in der Pathogenese besteht. Für den Psychiater besteht die Schwierigkeit, dass Konversionsstörungen im ICD-10 im Vergleich zu DSM diagnostisch nicht gleich eingereiht werden. Dem Gutachter sollte bewusst sein, dass er mit der Aussage, ein präsentiertes Funktionsdefizit sei nicht authentisch beziehungsweise wurde willentlich gesteuert, eine grosse Verantwortung übernimmt, da positive Beurteilungen für die Betroffenen einschneidende Konsequenzen haben.
von Hans Georg Kopp und Gerhard Ebner1
Einleitung
K onversionsstörungen werden als eine Gruppe von psychischen Störungen aufgefasst, die traditionell als Ausdruck eines dissoziativen Prozesses gesehen werden. Dissoziative Störungen ihrerseits sind ein uneinheitliches und vielgestaltiges Spektrum psychischer Erlebensweisen und Symptome, deren Hauptmerkmal die Desintegration bestimmter, üblicherweise integrierter psychischer Funktionen ist (1). Konversion definiert sich dabei im engeren Sinn als eine Gruppe von pseudoneurologischen Störungen der Willkürmotorik inklusive Tremor, Dystonie und Krampfanfälle, der Sensibilität und der Sensorik. In der wissenschaftlichen Literatur zu Konversionsstörungen wird in vielfacher Weise das Unbehagen von Fachleuten mit dem Umstand artikuliert, dass es letztlich nur spekulative Erklärungsansätze über das Zustandekommen von Konversionsstörungen gibt (2), wenngleich weitgehend Einigkeit über die Existenz von dissoziativen Mechanismen in der Pathogenese besteht. Die Konversionsstörungen im engeren Sinn sind ein Stiefkind der Forschung; das wissenschaftliche Interesse richtet sich mehr auf die dissoziativen Phänomene bezüglich Identität, Bewusstsein, Gedächtnis, Kognition und Emotion als auf die Konversion. Für den Psychiater besteht die Schwierigkeit, dass Konversionsstörungen im ICD-10 im Vergleich zu DSM diagnostisch nicht gleich eingereiht werden: ICD-10 setzt einerseits dissoziative Störungen mit dem Begriff der Konversion gleich, wobei von den Autoren dann doch in der Regel für Konversionsstörungen die engere Umgrenzung des Begriffs auf Störungen der Willkürmotorik und der Sen-
1 Zentrum für Begutachtung, Rehaklinik Bellikon
sibilität beziehungsweise Sensorik gewählt wird. Im Gegensatz dazu reihte die DSM-IV-TR die Konversionsstörungen (im DSM definiert im engeren, obigen Sinn als pseudoneurologische Störungen) unter die somatoformen Störungen ein, die neu im DSM-5 unter den «Somatic Symptom Disorders», dem Äquivalent der somatoformen Störungen, aufgeführt werden. Eine konkrete Schwierigkeit besteht zudem darin, dass die bisherigen Diagnosesysteme für die psychiatrische Diagnosestellung einer Konversion nach ICD-10 als positives Kriterium einen «überzeugenden Zusammenhang der Symptomatik mit belastenden Ereignissen, Problemen und Bedürfnissen» fordern und auch DSMIV-TR in ähnlicher Weise von der Annahme eines Zusammenhangs mit psychischen Faktoren im Sinne von Konflikten, Traumata oder anderen Belastungsfaktoren ausgeht, welche dem Beginn beziehungsweise einer Exazerbation von Symptomatik oder Ausfall vorauszugehen hätten.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich Da die Diagnosesysteme zudem fordern, dass von neurologischer Seite eine somatisch-neurologische Ursache für die Symptomatik ausgeschlossen wird, verlangt die Beurteilung einer Konversionssymptomatik eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Neurologie hat dabei zahlreiche Möglichkeiten, anhand klinischer Befunde eine neurologische Grundlage der Symptomatik weitgehend auszuschliessen (siehe Beitrag Aybek S. 20ff.), wohingegen es der Psychiatrie nur schwerlich gelingen dürfte, den positiven Nachweis einer Psychogenese, das heisst den Zusammenhang der Störung mit psychischen Belastungen und/oder Konflikten, mit dem erforderlichen Grad von Wahrscheinlichkeit oder Evidenz zu erbringen. Konversionsstörungen gelten gemeinhin als Stiefkind der Psychosomatik, weil sie oft schwierig zu beurteilen und zu behandeln sind. Somit besteht das Ri-
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siko, dass sich weder die Neurologie noch die Psychiatrie adäquat um diese Betroffenen kümmern. Dies ist umso bedauerlicher, als Konversionsstörungen im Vergleich zu «echt neurologischen» analogen Störungsbildern relativ mehr Behinderung und psychische Folgezustände nach sich ziehen (3). Inwiefern sich die Rolle des Psychiaters nach Erscheinen von DSM-5 in der Aufgabenstellung geändert hat, wird noch näher zu prüfen sein.
Stand der aktuellen Forschung Eine Arbeit von Carson (4) fasst Ergebnisse einer Konferenz vor allem englischer Fachleute in Bezug auf Entwicklung und Stand der Forschung seit 2000 zusammen, woraus sich ergibt, dass Interesse und Forschungsaktivitäten erfreulicherweise zugenommen haben. Aus den zitierten Arbeiten geht hervor, dass sich die Fachleute – schwergewichtig sind es Neurologen – auffallend häufig mit der Problematik von funktionellen Anfallsleiden befassten, während die Arbeiten zu konversiven Lähmungen und Ausfällen der Sensorik recht spärlich bleiben. Aus der Zusammenfassung und Literaturhinweisen im Artikel von Carson ist zu entnehmen, dass sich zum Beispiel in einem ambulanten, neurologischen Patientengut 30 Prozent Betroffene finden, deren Symptomatik nur unzureichend beziehungsweise gar nicht organisch erklärbar ist; von dieser Untergruppe arbeiteten jedoch 27 Prozent der Fälle nicht und erhielten Leistungen der Sozialversicherungen, womit die sozialen Konsequenzen der funktionellen Symptomatik höher waren als in der Gruppe der vergleichbaren, «echt neurologisch» Betroffenen. Das Autorengremium folgert, dass heute die Diagnose von funktionellen, neurologischen Störungen im Gegensatz zu früheren Berichten vor dem Jahr 1970 verlässlicher gestellt werden könne, wogegen sich in früheren Nachuntersuchungen zahlreiche Konversions-Diagnosen als falsch erwiesen und sich bei diesen im Verlauf über Jahre echte neurologische Störungen als Ursache der Symptomatik gezeigt hätten. Aus Sicht der Autoren des vorliegenden Beitrags sprechen die Ergebnisse dafür, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Neurologie besser und die Psychiater in ihren Aussagen vorsichtiger geworden sind; dabei lastet aber weiterhin eine – zumindest implizite – Erwartungshaltung auf dem konsiliarisch zugezogenen Psychiater, die somatische «Erklärungslücke» doch bitte mit einer psychiatrischen Diagnose zu schliessen; eine solche Erwartungshaltung ist dazu geeignet, den Psychiater auch weiterhin zu spekulativen Äusserungen zu verleiten.
Prognose ungünstig Bestätigt hat sich mit den jüngeren Arbeiten, dass die Prognose von Konversionsstörungen ungünstig ist, obwohl eine Spontanremission nach Tagen bis Wochen nicht selten eintritt, denn die Hälfte bis zu zwei Drittel der Fälle zeigen längerfristig keine Besserung. Prädiktive Faktoren für eine ungünstige Prognose sind bisheriger Verlauf (Chronifizierung), Überzeugung der Betroffenen, nicht mehr gesund zu werden, fehlende Akzeptanz von psychischen Faktoren und laufende Rentenleistungen beziehungsweise laufendes Rentenverfahren (weitere Faktoren finden sich in Kapfhammer 2011, [5]); hingegen wird die Wertigkeit der «belle indifférence», das
heisst ein relativer Mangel an Betroffenheit gegenüber der Art oder Bedeutung des Symptoms, als Merkmal und damit als diagnostisches Kriterium von konversiven Störungen zunehmend in Zweifel gezogen, da sie weder reliabel noch spezifisch ist (vgl. Kapfhammer, 2011, S. 772, [5] zur Wertigkeit von Symptomen). Auch zunächst vielversprechend scheinende Befunde über abnorme Aktivierungsmuster in Netzwerken, welche – ausgehend von präfrontalen Hirnarealen – offenbar Kontrollfunktionen ausüben und bei der Vorbereitung von motorischen Handlungen aktiv werden, haben die Erwartungen an die funktionelle Bildgebung, dass diese zu einem vertieften Verständnis für die Entstehung von Konversionssymptomen massgeblich beiträgt, bisher nicht erfüllt. Im Fokus von Überlegungen zur Ursache konversiver Störungen stehen kognitive Modelle von einer verzerrten Wahrnehmung des eigenen Körpers beziehungsweise der Sensorik und Willkürmotorik, welche sich infolge der Aufmerksamkeitsfokussierung auf Störungssignale verstärkt und verfestigt, und sich dabei über assoziative Lernvorgänge auf zusätzliche innere und äussere Stimuli generalisiert und damit leichter aktiviert werden kann (6).
Vulnerabilitätsfaktoren erwünscht Traditionellerweise besteht ein erhebliches Interesse an der Identifizierung von Vulnerabilitätsfaktoren im Sinne einer frühkindlichen Traumatisierung mit Vernachlässigung oder Missbrauch, ferner an der Rolle von Lebensereignissen. Solche Faktoren sind jedoch in der Mehrzahl der Patienten mit Konversionsstörungen nicht hinreichend nachweisbar. Im Umgang mit dem Konzept der Dissoziation wurde zudem das Gewicht des wissenschaftlichen Interesses auf die «psychoforme Dissoziation» gelegt, die Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Wahrnehmung und Emotionen betrifft, und weniger auf die Erforschung der «somatoformen Dissoziation» bezüglich Steuerung und Empfinden des Körpers, wozu definitionsgemäss Konversionsstörungen gehören. Einen Überblick über Vorstellungen zur Ätiopathogenese gibt Kapfhammer ([5], S. 756–763). Die Ergebnisse der – spärlichen – Psychotherapiestudien sprechen für die Wirksamkeit von kognitiven Therapieansätzen, welche bezüglich Effektstärken aber bescheiden bleiben (4). Zudem konnten Langzeiteffekte bislang nicht belegt werden. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Arbeit von Noll-Hussong und Henningsen (7) verwiesen, ferner auf Ceballos-Baumann et al. (8). Die gegenwärtig verfügbaren Untersuchungsresultate zeigen allerdings, dass nicht alle Betroffenen mit Konversionsstörungen Opfer von Traumatisierung oder Vernachlässigung in der Kindheit sind. Diese Umstände finden sich hingegen fast regelhaft bei ausgeprägt dissoziativen Patienten; offen bleibt, ob Konversionspatienten weniger Zugang zur eigenen Emotionalität und damit möglichen traumatischen Erinnerungen haben. Eine Konversionssymptomatik kann allenfalls als Intrusion auf somatischer Ebene aufgefasst werden. Auch bleibt die Frage unbeantwortet, wieso es letzlich zu so unterschiedlichen Manifestationsformen (Symptomwahl) bei der Herausbildung von Konversionsstörungen, auch im gleichen Kulturkreis, kommt, obwohl der
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Kasten:
Ratschläge für die Praxis im Umgang mit Konversionsstörungen
G An die Möglichkeit einer Konversionsstörung denken! Nicht denken: «Nicht organisch-neurologisch gleich hat nichts.»
G Frühe Zuweisung zu einer neurologisch-psychiatrischen Abklärung mit psychiatrischem Konsiliardienst, zum Beispiel im Rahmen einer neurologischen Klinik oder Ambulanz.
G Frühe Erarbeitung einer adäquaten ärztlichen Führung, mindestens eines verbesserten individuellen Krankheitskonzeptes des Patienten (zum Beispiel grundsätzlich beeinflussbare «Programmierungsstörung» statt befürchteten Nervenschadens an der «Hardware»), sodann fachpsychiatrische Evaluation, ob eine spezifische Behandlung aussichtsreich erscheint und verfügbar ist.
G Koordination des Betreuernetzes, welches das gleiche Krankheitskonzept vertreten soll. In chronifizierten Fällen: fundierte (interdisziplinäre) Begutachtung befürworten.
G Ärztliche Begleitung langjährig chronifizierter Fälle nach sorgfältiger initialer Diagnostik, um erneute somatische Abklärungskaskaden zu vermeiden.
Symptombildung naive, teilweise symbolträchtige Vorstellungen von Krankheit als Vorbild dienen.
Konversionsstörungen im DSM-5 In welchem Ausmass finden nun die klinischen Erfahrungen und Studienresultate im eben erst erschienenen DSM-5 (2013) Eingang? In DSM-IV-TR noch erforderliche Kriterien wurden in DSM-5 aufgegeben: die früher obligate Annahme eines Zusammenhangs zwischen Symptomatik und Konflikten wie anderen Belastungsfaktoren, das Kriterium C (Symptom oder Ausfall wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht), das Kriterium D (Symptomatik «nicht vollständig» durch einen medizinischen Krankheitsfaktor erklärbar), das Kriterium F (Symptomatik darf nicht ausschliesslich im Verlauf einer Somatisierungsstörung auftreten), da begleitende somatoforme Symptome in der Tat häufig sind. DSM-5 fordert, dass die Symptomatik inkompatibel mit anerkannten neurologischen oder sonstigen medizinischen Zuständen sein müsse. Das Kriterium C (Ausschluss einer absichtlichen Täuschung) fehlt in DSM-5, weil sich hier unlösbare Schwierigkeiten bei der Abgrenzung ergeben. Als zusätzliche fakultative Charakteristika, welche die Diagnose unterstützen, nennt DSM-5 folgerichtig das Vorhandensein von zahlreichen Körperbeschwerden (gemeint sind somatoforme Beschwerden), den Zusammenhang der Symptomatik mit Stress, mit körperlichen oder psychischen Traumata (besonders bei enger zeitlicher Assoziation), mit dem Zusatz, die Diagnose einer Konversionsstörung solle nicht verworfen werden, wenn sich keine solche Assoziation finde, ferner den Umstand, dass auch weitere dissoziative Symptome auftreten können. Zudem sei die «belle indifférence» nicht verlässlich, da unspezifisch, ebensowenig das Merkmal eines «sekundären Krankheitsgewinns». Bei Vortäuschung von Symptomen sei insbesondere auch an eine artifizielle Störung zu denken. In DSM-5 werden zudem Angaben zu Prävalenz, Entwicklung und Verlauf der Störung sowie zu prognostischen Faktoren gemacht; so seien insbesondere kurze
Symptomdauer und Akzeptanz der Diagnose (was die Akzeptanz des spezifischen Krankheitsmodells einer Psychogenese durch den Betroffenen umfasst) als prognostisch günstige Faktoren anzusehen (vgl. hierzu die Ausführungen zur Prognose von Kapfhammer 2011, S. 767–771, [5]).
Diagnostische Fallstricke Eine breite Umfrage unter britischen Neurologen (10) ergab, dass sich diese bei der Diagnosestellung auf das klinisch beobachtbare Verhalten, also auf klinische Befunde, Inkonsistenzen und die Präsentation abnormen Krankheitsverhaltens abstützen, und damit aufgrund ihrer klinischen Erfahrungen eine enge Beziehung von Konversionsfällen mit Aggravation oder Simulation zu erkennen glaubten. Hinsichtlich der neurologischen Untersuchung von Konversionspatienten ist das neurologische Standardwerk von Widder/Gaidzk (2011, [11]) eine reichhaltige Quelle. Dem Psychiater hingegen hilft in der Diagnostik ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Belastung beziehungsweise Konfliktsituation einerseits und plötzlichem Auftreten der Symptomatik andererseits. In diesem Zusammenhang ist auch die Beurteilung der aktuellen Lebenssituation des Betroffenen und seiner Persönlichkeit von erheblicher Bedeutung. Gut validierte psychodiagnostische Instrumente stehen uns dabei neben der klassischen Explorationstechnik zur Verfügung (z.B. SKID-II und «The big five» nach Costa und McCrae, [12]). Die Diagnose einer Konversionsstörung kann dabei nicht verworfen werden, bloss weil eine auffällige Psychopathologie fehlt. Vielmehr liegen Angststörungen, Depressivität und somatoforme Symptombildungen häufig komorbid vor. Die Symptombildung kann eine psychische Entlastungsfunktion besitzen, was sich gegebenenfalls im Vorliegen einer «belle indifférence» beziehungsweise in einer – vergleichsweise zur Situation – «zu guten» Stimmung manifestieren kann, was differenzialdiagnostisch von einem hypomanischen Zustandsbild oder – wenn läppisch-parathym wirkend – von einem schizophreniformen Zustand abzugrenzen ist. Neben Verlaufsformen mit plötzlichem Beginn – und damit günstigerer Prognose – sind auch schleichende Verschlechterungen möglich, gerade bei Formen einer Konversionssymptomatik, welche von einem organischen Kern (typischerweise Unfallfolgen) ihren Ausgang nehmen und – korreliert mit äusseren kontextuellen Faktoren und Ereignissen – eine Intensivierung erfahren.
Hinweise auf eine typische Konversionssymptomatik Dazu gehören nach klinischer Erfahrung der Autoren dieser Arbeit auch das Vorliegen von weiteren dissoziativen Phänomenen, ferner eine typische Gangstörung, bei welcher die Beine kurzzeitig einknicken, die betroffenen Personen sich jedoch prompt auffangen können, zudem das Bemühen von echten Konversionspatienten, in der Rehabilitation Fortschritte zu machen und sich effektiv auf der Verhaltensebene nachvollziehbar einzusetzen. Für eine echte Konversionsstörung spricht auch, wenn der Betroffene selber einräumt, je nach Kontext und in fluktuierendem Ausmass Unterschiede im Schweregrad der Symptomatik zu erkennen. Eine
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Merksätze:
G Konversionsstörungen werden als eine Gruppe von psychischen Störungen aufgefasst, die traditionell als Ausdruck eines dissoziativen Prozesses gesehen werden.
G Letztlich gibt es nur spekulative Erklärungsansätze über das Zustandekommen von Konversionsstörungen.
G Nicht alle Betroffenen sind Opfer von Traumatisierung oder Vernachlässigung in der Kindheit.
G Angststörungen, Depressivität und somatoforme Symptombildungen liegen häufig komorbid vor.
G Die Diagnosesysteme fordern, dass von neurologischer Seite eine somatisch-neurologische Ursache für die Symptomatik ausgeschlossen wird, sodass die Beurteilung einer Konversionssymptomatik eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verlangt.
G Bei der Beurteilung von Prognose und Wunsch nach Quantifizierung der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit stellt sich regelhaft die Frage der Abgrenzung der Störung von nicht authentischen (beziehungsweise willentlich oder kontextuell verstärkten) Präsentationen von Lähmungen und anderen Defiziten.
G Die Prognose von Konversionsstörungen ist ungünstig: Die Hälfte bis zu zwei Drittel der Fälle zeigen längerfristig keine Besserung.
G Dem Gutachter sollte bewusst sein, dass er bei der Feststellung einer nicht authentischen Symptomatik eine grosse Verantwortung übernimmt, da positive Beurteilungen für die Betroffenen einschneidende Konsequenzen haben.
kontextabhängige Ausprägung einer motorischen Konversionssymptomatik ist typisch (Beobachtung beziehungsweise Thematisierung der Symptomatik vs. Ablenkung), während nicht authentische Defizite viel eher in konstanter Weise demonstriert werden, solange sich die Personen unter Beobachtung wähnen. In der Literatur werden noch folgende Anhaltspunkte als Stützung der Diagnose empfohlen: eher bilateraler Befall, vorwiegend untere Extremitäten, begleitender Tremor, relativ massives Funktionsdefizit, ferner Episoden von Konversionssymptomatik in der Anamnese, sodann ein Modell für die Symptombildung im Umfeld der betroffenen Person, multiple Klagen über Körperbeschwerden beziehungsweise früher eingetretene Phasen von Symptomremission mit Lösung einer Konfliktsituation. Oftmals bildet ein unbedeutendes Trauma den Auslöser einer Konversionssymptomatik, Spontanremissionen sind nicht selten. Auch gibt es Präsentationsformen echter konversiver Symptomatik mittels exzessiver Langsamkeit oder bizarr wirkender Bewegungsmuster. In jedem Fall ist davor zu warnen, aufgrund einer psychischen Störung in der Anamnese allein auf eine psychogene Symptombildung zu schliessen (vgl. Kapfhammer 2011, S. 762–767, [5]), sondern es sind bei Vermutung einer Konversionsstörung mögliche ätiologische psychische Belastungsfaktoren zu berücksichtigen, um die hypothethische Psychogenese so gut als möglich zu belegen (14). Idealerweise wird aus psychiatrischer Sicht eine hinreichend verlässliche Aussage dann möglich, wenn sich nachweisen lässt: G dass eine dazu prädisponierte Person (im Sinne einer
Vulnerabilität, die sich lebensgeschichtlich herausgebildet hat) die Symptomatik entwickelte; G dass ein auslösender Faktor, eine Belastung, ein Trauma, ein Konflikt in zeitlich engem Zusammenhang mit der aufkommenden Symptomatik stand; G dass ein (langjähriger) Verlauf durch Kontextfaktoren (Konflikte, Krankheitsgewinn, Anreizfaktoren, eventuell iatrogene Faktoren) und systemische Einflussfaktoren (Arbeitsumfeld, Familie) beeinflusst wurde.
Abgrenzung einer Konversionssymptomatik von nicht authentischen Präsentationsformen Einleitend dazu sei festgehalten, dass nach allgemeinem Konsens nicht authentische Beschwerde- und Symptompräsentationen in wechselndem Ausmass gleichzeitig mit einer psychischen Störung (hier z.B. eine Konversionssymptomatik) und/oder einer körperlichen Störung vorkommen können. Auch hinsichtlich der an sich bewusstseinsfernen Symptombildung im Rahmen einer Konversionssymptomatik gibt es ein Kontinuum von Unbewusstheit hin zum klaren Wissen, dass die Symptomatik gesteuert werden kann (5, 15). Typischerweise kommt es in Begutachtungssituationen im versicherungsmedizinischen Kontext mindestens zu einer Verdeutlichung, also einem unwillkürlichen Bestreben, den Untersucher vom Vorhandensein und der Ernsthaftigkeit der Symptomatik zu überzeugen, insbesondere dann, wenn Betroffene bei früheren Arztkontakten schon auf manifeste Skepsis gestossen sind. Die Beurteilung der Authentizität der präsentierten Beschwerden und Symptome erfolgt ebenfalls nach einem
multimodalen Ansatz unter Zuzug verschiedener Diszi-
plinen: Neurologie, Psychiatrie, bei Angaben von kogni-
tiven Störungen auch Neuropsychologie. Zur Konsistenz-
analyse ist ferner die Beurteilung durch Experten aus Phy-
siotherapie, Ergotherapie und Pflege sehr wertvoll.
Mit Vorteil erfolgen solche komplexen Gutachten unter
stationären Bedingungen, wo von verschiedenen Sei-
ten her die Konsistenz der Symptomatik in idealer Weise
geprüft werden kann. Hierzu ist sehr viel Erfahrung mit
diesen Krankheitsbildern bei allen beteiligten Experten
erforderlich. Die Rehaklinik Bellikon ist in der Deutsch-
schweiz als einzige Institution in der Lage, auf diese
Weise unter stationären Bedingungen solche interdiszi-
plinären Begutachtungen von komplexen Fällen, unter
Zuzug erfahrener Spezialisten aus den oben aufgeführ-
ten Disziplinen, vorzunehmen. In dieser Weise können
wesentlich zuverlässiger Inkonsistenzen und Hinweise
auf eine Steuerbarkeit der Symptomatik erfasst und in-
terdisziplinär, auch mit Pflege und Therapien, diskutiert
werden. Die grösste Herausforderung bei der Begutach-
tung ist nämlich, spezifisch diejenigen Fälle zu identifi-
zieren, bei welchen die Beschwerden und Symptome
nicht authentisch sind. Dem Gutachter sollte dabei
bewusst sein, dass er bei der Feststellung einer nicht
authentischen Symptomatik eine grosse Verantwor-
tung übernimmt, da positive Beurteilungen für die Be-
troffenen einschneidende Konsequenzen haben,
welche über die Verweigerung einer Kompensation,
einer Rente hinausgehen können; Diagnostik und Be-
urteilung sind so auszurichten, dass falschpositive Be-
urteilungen vermieden werden können. Bei unklaren
Fällen genügt es, wenn der Gutachter auf die entspre-
chend den gebotenen Beweisregeln notwendige Ge-
wissheit hinweist, mit welcher ein Gesundheitsschaden
festgestellt wird, wobei vom Gutachter ja nicht «bewie-
sen» werden soll (und er das meist auch nicht kann),
dass eine Simulation oder Aggravation vorliegt. Erfüllt
die Sachlage nicht die Anforderungen an die überwie-
gende Wahrscheinlichkeit im Begutachtungsprozess, so
heisst das noch nicht, dass ein Proband aggraviert (be-
wusst übertreibt) oder simuliert (bewusst vortäuscht).
Der Gutachter hat also nicht zu belegen, dass eine Stö-
rung aggraviert oder vorgetäuscht wird, sondern Stel-
lung dazu zu nehmen, ob die Beschwerden, die
Symptomatik authentisch und die präsentierten Sym-
ptome und Beschwerden vereinbar mit einem bekann-
ten Krankheitsbild sind, und dass damit eine
gesundheitliche Störung, welche zu Leistungsein-
schränkungen führt, mit überwiegender Wahrschein-
lichkeit vorliegt. Die «Beweislast» trägt ja im
Allgemeinen der Betroffene, welcher eine Leistung bei
der Versicherung beantragt hat. Nur in extremen Fällen
wird man deshalb darlegen können, dass eine Störung
mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit bewusst vorge-
täuscht wird.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Hans Georg Kopp
Zentrum für Begutachtung
Rehaklinik Bellikon
5454 Bellikon
E-Mail: hansgeorg.kopp@rehabellikon.ch
Literaturverzeichnis auf Anfrage beim Verlag, unter: info@rosenfluh.ch
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Die versicherungsmedizinisch kardinale Frage: die «Zumutbarkeit»
Das Problem der Begutachtung von Konversionspatienten liegt darin, dass in der Regel keine auffällige Psychopathologie besteht, aus welcher eine Einschränkung psychischer Funktionen und entsprechender Fähigkeiten abgeleitet werden könnte. Dadurch stellt sich für den Gutachter die Frage, welches Funktionsniveau als Referenz gelten soll zur Beurteilung der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit.
Grundsätzlich sei auf die Überlegungen von Schneider und Mitautoren (16) sowie auf die Leitlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie 2012 hinsichtlich der Beurteilung der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit in der Begutachtung von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen hingewiesen. Ausgegangen wird dabei in der Herleitung der zumutbaren Leistungsfähigkeit von Funktionsstörungen beziehungsweise der psychischen Funktionen gemäss Befundlage, woraus sich Schlussfolgerungen hinsichtlich Aktivität und Partizipation beziehungsweise eines zumutbaren Profils von Fähigkeiten ergeben. Diese Arbeit befasst sich auch mit dem Thema der Beschwerdevalidierung als obligatem Teil eines gutachterlichen Prozesses. Das Problem der Begutachtung von Konversionspatienten liegt darin, dass in der Regel keine auffällige Psychopathologie besteht, aus welcher eine Einschränkung psychischer Funktionen und entsprechender Fähigkeiten abgeleitet werden könnte. Welches Funktionsniveau soll dann als Referenz zur Beurteilung der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit gelten, und dies auch noch unter dem normativen Paradigma der Rechtsprechung der zumutbaren Willensanstrengung? Was für eine Rolle spielen allenfalls unbewusste Widerstände beim Versuch einer Wiedereingliederung? Sind Mitarbeitende mit solch auffälliger Symptomatik, welche geeignet ist, andere Mitarbeiter zu mobilisieren, letztlich einem Arbeitgeber «zumutbar»? Gestützt auf die Verhaltensbeobachtungen während der gutachterlichen Untersuchung kann nur beschränkt auf Ausprägungsgrad und Frequenz von allenfalls anfallsweise auftretenden konversiven Symptomen und deren Auswirkung auf konkrete Tätigkeiten auf dem freien Arbeitsmarkt geschlossen werden. Letztlich bleiben normative Fragen; dem Gutachter obliegt es primär, seine Beobachtungen und Bedenken für den Rechtsanwender nachvollziehbar darzulegen und zur Arbeitsfähigkeit Stellung zu nehmen. Die Beurteilung der «Zumutbarkeit» als normativer Begriff ist und bleibt Aufgabe des Rechtsanwenders.
Grundsätzliches zur Verweistätigkeit Grundsätzlich kann eine Verweistätigkeit als «zumutbar» angesehen werden, welche den Einsatz der betroffenen Gliedmasse nicht oder nur in geringem Ausmass nötig macht. Einem solchen Einsatz stimmen Konversionspatienten gegebenenfalls durchaus zu. Zu bedenken ist, ob Einschränkungen im Funktionsniveau und in der Belastbarkeit aus zugrunde liegenden Persönlichkeitsanteilen/ -störungen beim beruflichen Einsatz ins Gewicht fallen.
Als relativ typisch gilt eine Primärpersönlichkeit mit «impressionistischem» (histrionischem) kognitivem Stil, aber effektiv findet sich offenbar eine breite Vielfalt unterschiedlicher Primärpersönlichkeiten – vor allem passive, dependente und depressive Züge (vgl.: Kapfhammer 2011, S. 757, [5]). Gemäss aktueller Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichtes fallen die Konversionsstörungen unter den Begriff der «pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage». Sie werden damit in der Rechtsprechung den somatoformen Schmerzstörungen gleichgestellt, die grundsätzlich (spezielle Ausnahmen gemäss den sog. Foerster-Kriterien) als überwindbar gelten in Bezug auf die Ausübung einer geeigneten, angepassten Arbeitstätigkeit (17). Angesichts der überwiegenden Evidenz, dass es sich bei echten Konversionsstörungen um Prozesse handelt, welche der bewussten Steuerung – in erster Linie der Willkürmotorik – nicht zugänglich sind und auch entsprechende Korrelate in der funktionellen Bildgebung aufweisen, wirkt die Annahme in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, es könne primär von einer Überwindbarkeit mittels Willensanstrengung ausgegangen werden, fachpsychiatrisch nicht haltbar. Doch gibt es zweifellos Übergangszustände im «Graubereich», wo Funktionsdefizite doch einerWillensanstrengung mindestens teilweise zugänglich sind. Entsprechend wichtig ist deshalb die Abgrenzung von nicht authentischer, bewusst gesteuerter Darstellung von Defiziten. Ferner weisen die Rechtsanwender auch darauf hin, dass mit «Überwindbarkeit» ja nicht die Überwindbarkeit des Leidens gemeint sei, sondern die Fähigkeit, trotz des bestehenden Leidens eine – angepasste – Tätigkeit auszuüben, sofern nicht weitere Faktoren – eben die sogenannten Foerster-Kriterien – die Einschränkung dieser Fähigkeit belegen. Im Rahmen der Beurteilung der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit stellt sich die Frage, ob der Zustand als definitiv chronifiziert oder als hinlänglich austherapiert zu gelten hat. Den Hintergrund dazu bilden bekannte Daten über eine mässige bis schlechte Prognose von funktionellen Bewegungsstörungen, wenn diese längerfristig andauern (mehrere Monate, gegebenenfalls über 1 bis 2 Jahre [5, 8, 18]). Hingewiesen wird auf die Abhängigkeit derVerläufe von dysfunktionalen Krankheitsüberzeugungen und laufenden finanziellen Leistungen als negative Prognosefaktoren. Hausotter (2002) attestiert in seinem Buch über Begutachtungen bei schweren langjährigen, chronifiziertenVerläufen eine Leistungsminderung vor dem Hintergrund der Abwägung der Gesamtsituation, der Vorgeschichte, der biografischen Anamnese, der aktuellen psychosozialen Problematik und der bis anhin durchgeführten Therapie (19). Insgesamt tun sich also viele Fragen auf, die zum Teil unbeantwortbar bleiben, wenn eine Konversionsstörung vermutet wird. Es handelt sich um eine Gruppe von komplexen Störungsbildern mit diffusen Grenzen. Trotzdem müssen der behandelnde Arzt, der Konsiliarpsychiater und auch die Gutachter im konkreten Fall allenfalls weitreichende Entscheidungen treffen.
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