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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
Diagnostik und Therapie der schmerzhaften Polyneuropathie
In der Allgemeinarztpraxis sind Schmerzen ein häufiger Konsultationsgrund. Treten diese in distal symmetrischer Verteilung auf, ist immer an eine Polyneuropathie zu denken. Dieses Krankheitsbild bedarf einer weiteren neurologischen Abklärung.
Gunther Landmann
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Gunther Landmann
R und jeder dritte Patient konsultiert den Hausarzt aufgrund von Schmerzen. Leitsymptome von Polyneuropathien sind meist distal symmetrische sensible und motorische Störungen, aber auch sogenannte neuropathische Schmerzen, die neurologisch abzuklären sind. Bei der Small-fibre-Neuropathie (Kleinfaserneuropathie) sind neurologische Zeichen nur spärlich zu finden; die Schmerzen stehen im Vordergrund der Beschwerden.
Häufigkeit von Polyneuropathien und neuropathischen Schmerzen Die Prävalenz der Polyneuropathie beträgt 2 bis 3 Prozent in der Allgemeinbevölkerung, bei Patienten über 55 Jahre beträgt sie 8 Prozent (1). Die häufigste Ursache einer Polyneuropathie ist der Diabetes mellitus mit 34,8 Prozent, die zweithäufigste Ursache die alkoholtoxische Polyneuropathie mit 11,1 Prozent. Immerhin bleiben 22 Prozent der Polyneuropathien in ihrer Genese unklar (2). Bei einer Nachuntersuchung nach einem Jahr konnte die Ursache der ungeklärten Polyneuropathien bei einem Drittel der Fälle geklärt werden. Hier sind die häufigsten Diagnosen eine vaskulitische Polyneuropathie, eine Polyneuropathie bei Vitamin-B12-Mangel oder eine Polyneuropathie bei Paraproteinämie (Kasten 1). Die Prävalenz neuropathischer Schmerzen in der Allgemeinarztpraxis beträgt 3,3 bis 8 Prozent (3, 4). Die Prävalenz der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie bei Typ-2-Diabetikern beträgt beispielsweise 26 Prozent (5).
Klinische Manifestation und Diagnostik der Polyneuropathien Häufig klagen die Patienten über sensorische Negativbeziehungsweise Positivzeichen. Erstere sind die Angabe von Taubheitsgefühl, Laufen wie auf Watte sowie unsicheres Gehen auf unebenem Untergrund. Klinisch kann man eine Hypalgesie, Hypästhesie, Thermhypästhesie und Pallhypästhesie finden. Zur klinischen Untersuchung dieser Befunde können Nadelreize für Algesie, ein Pinsel beziehungsweise Wattebausch für Ästhesie, ein warmer (Plastik-)Gegenstand (auch Reagenzglas mit warmem Wasser) beziehungsweise ein kalter Gegenstand (z.B. Metallgegenstand oder metalli-
scher Reflexhammer bei Zimmertemperatur, Reagenzglas mit kaltem Wasser) für die Thermästhesie benutzt werden. Bei üblicherweise distal symmetrischer (sockenförmiger) Verteilung müssen diese Qualitäten im Vergleich proximal gegen distal (Oberarm gegen Hand bzw. Oberschenkel gegen Fussrücken) untersucht werden. Das Vibrationsempfinden kann abgeschwächt sein und wird mit der 64-Hz-Stimmgabel untersucht (11). Die sensorischen Positivzeichen äussern sich in Klagen über Parästhesien wie Kribbeln, Brennen, Ameisenlaufen beziehungsweise Gefühl des Eingeschnürtseins oder in Schmerzen wie Brennen («Burning Feet») und Stechen («wie tausend Nadeln»). Die sogenannte Allodynie bezeichnet eine schmerzhafte Empfindung auf nicht schmerzhafte Reize wie das Auslösen von Schmerzen durch Pinselstrichreize beziehungsweise durch Warm- oder Kaltreize. Das Klagen der Patienten
Kasten 1:
Häufigkeit der Polyneuropathien in der Allgemeinbevölkerung nach Engelhardt, 1994 (2)
Ätiologie
Häufigkeit in %
Diabetes mellitus
34,8
Ungeklärt
22,0
Alkohol
11,1
Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
6,3
Infektiös
5,4
Vaskulitis
4,1
Chronisch-inflammatorische demye- 4,1 linisierende Polyneuropathie (CIDP)
Malabsorbtion
3,8
Paraneoplastisch
2,7
Hereditäre Polyneuropathien (HMSN) 2,2
Paraproteinämie
1,1
Toxisch (ohne Alkohol)
0,9
Amyloidose
0,5
Tomakuläre Neuropathie
0,2
Sonstige
0,9
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Kasten 2:
Klinischer Algorithmus in der Diagnostik der schmerzhaften Polyneuropathie
A: Anamnese ● Distal symmetrischer, neuropathischer Schmerzcharakter wie brennend,
elektrisierend, einschiessend, kribbelnd, einschnürend ● Angabe von Taubheitsgefühl, Laufen wie auf Watte, Gangunsicherheit als
Hinweise auf ein sensorisches Defizit. Motorische Symptome wie eine Schwäche beziehungsweise Hinweise auf eine autonome Beteiligung wie Synkope, Ruhetachykardie, Magenentleerungsstörung, trophische Störungen der Haut (schmerzlose Ulzera an den Füssen).
B: Klinische Untersuchung ● Distal symmetrischer Nachweis von sensorischen Negativzeichen wie:
– Verminderte Empfindung auf Berührungsreiz (Pinsel, Watteträger) – Verminderte Empfindung auf Schmerzreiz (Nadelstichreiz) – Verminderte Empfindung auf Temperaturreiz (z.B. Reagenzgläser mit
warmem beziehungsweise kaltem Wasser, Kältereiz durch metallischen Gegenstand wie Reflexhammer oder kalten Roller oder Alkoholspray beziehungsweise Desinfektionsspray) – Aufgehobene Warm-Kalt-Diskrimination (Reagenzgläser mit warmem beziehungsweise kaltem Wasser). ● Distal symmetrischer Nachweis von sensorischen Positivzeichen wie: – Hyperästhesie oder Allodynie (Pinsel, Watteträger) – Hyperalgesie (Nadelstichreiz) – Wärme- oder Kälteüberempfindlichkeit beziehungsweise -allodynie (z.B. Reagenzgläser mit warmem beziehungsweise kaltem Wasser, Kältereiz durch metallischen Gegenstand wie Reflexhammer oder kalten Roller oder Alkoholspray beziehungsweise Desinfektionsspray).
C: Apparative Diagnostik ● Laborbasisdiagnostik: Differenzialblutbild, Blutsenkungsgeschwindigkeit,
C-reaktives Protein, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte, Serum-Eiweisselektrophorese, Thyroidea-stimulierendes Hormon (TSH), MCV (Mean Cellular Volume), CDT (Carbo-Deficient Transferrin), Nüchternblutzucker, oraler Glukosetoleranztest, Vitamin B12 und Folsäure. Liegt bereits ein Diabetes vor, sollten das Blutzuckertagesprofil sowie der HbA1c bezüglich der Diabeteseinstellung kontrolliert werden. Tumorsuche bei anamnestischen Hinweisen wie Nachtschweissigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust. ● Neurologische Diagnostik in allen Fällen: Durchführung der Elektroneurografie beziehungsweise bei unauffälliger Elektroneurografie Hautbiopsie. Zusätzlich autonome Testung in Betracht ziehen.
über die Überempfindlichkeit gegenüber der aufliegenden Bettdecke beziehungsweise engem Schuhwerk kann beispielsweise ein Hinweis für eine Allodynie sein. Die Hyperalgesie beschreibt eine verstärkte schmerzhafte Empfindung auf leicht schmerzhafte Reize wie Nadelstichreize oder Temperaturreize. Zusätzlich können Muskelkrämpfe als motorisches Phänomen assoziiert sein. Neuropathische Beschwerden treten in Ruhe, insbesondere abends oder nachts, oft deutlicher auf. Zusätzlich kann auch eine Unruhe in den Beinen (symptomatisches Restless-legs-Syndrom) auftreten. Bei Angabe einer motorischen Schwäche ist klinisch auf Lähmungen, Muskelatrophien, Reflexabschwächung beziehungsweise -ausfall zu achten. Die Untersuchung der Koordination kann einen positiven Romberg-Test (Fallen des Patienten beim Stehen mit
geschlossenen Augen), einen unsicheren Ferse-KnieVersuch beziehungsweise einen unsicheren bis unmöglichen Seiltänzer- beziehungsweise Blindgang zeigen. Anamnestisch müssen die in Kasten 1 genannten Ursachen berücksichtigt werden. Asymmetrische Bilder könnten auf entzündliche Ursachen oder eine Vaskulitis hindeuten. Autonome Symptome wie eine Störung der Schweisssekretion, eine Tachykardie, eine Kreislaufdysregulation (Synkopen), gastrointestinale Beschwerden, Blasen-, Mastdarm- oder Potenzstörungen können auf eine Beteiligung des vegetativen Nervensystems hindeuten. Die Diagnose einer schmerzhaften Polyneuropathie ergibt sich nach den Europäischen Leitlinien zur Diagnostik neuropathischer Schmerzen (6) aus der Trias: A. anamnestische Angaben bezüglich Schmerzen in
einer neuroanatomisch plausiblen Verteilung (z.B. distal symmetrisch); B. klinische Untersuchung mit Nachweis von sensorischen Negativ- und/oder Positivzeichen in einer neuroanatomisch plausiblen Verteilung (z.B. distalsymmetrisch); C. apparative Diagnostik mit Nachweis einer Krankheit oder Läsion des somatosensorischen Systems, welche nach der neuen Definition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) Ursachen neuropathischer Schmerzen sind (7).
Bei der Polyneuropathie ist der periphere Anteil des somatosensorischen Systems wie die afferenten sensiblen Nervenfasern betroffen, welche Informationen aus Haut-, Gelenk- und Muskelrezeptoren erfassen und damit primär die Wahrnehmung sensorischer Qualitäten wie Druck, Berührung, Schmerz und Temperatur vermitteln. Bereits in der Hausarztpraxis sollte eine Laborbasisdiagnostik durchgeführt werden. Die Transaminasen, MCV (Mean Cellular Volume), CDT (Carbo-Deficient Transferrin) können Hinweise auf das Vorliegen einer alkoholtoxisch bedingten Polyneuropathie sein. Bei ausgeprägten neurologischen Ausfällen, bei rascher Progredienz neurologischer Ausfälle sowie bei allen unklaren Polyneuropathien muss eine rasche neurologische Abklärung erfolgen. Hier können eine Vaskulitis, ein Guillain-Barré-Syndrom, eine autoimmune Polyneuropathie neben anderen Ursachen eine Rolle spielen. Natürlich müssen anamnestisch auch Hinweise auf eine hereditäre Ursache erfasst werden. Neurologisch ist die Durchführung einer Elektroneurografie notwendig und kann weitere diagnostische Schritten begründen wie weiterführende Laboruntersuchungen (Autoimmunerkrankungen, Vaskulitis, Liquoruntersuchungen, Nervenbiopsie, siehe Kasten 2).
Besonderheiten der Kleinfaser-Neuropathie Die Kleinfaser-Neuropathie, auch bekannt als Small-fibre-Neuropathie, ist eine Sonderform der schmerzhaften Polyneuropathie. Die Diagnosestellung dieser Polyneuropathie ist erschwert, da hier wesentliche klinische Zeichen einer Polyneuropathie wie motorische Symptome (Lähmungen, Reflexabschwächungen) und die meisten sensiblen Symptome wie Abschwächung des
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Vibrationsempfindens und Abschwächung der Berührungsempfindung fehlen. Pathophysiologisch sind nur die kleinen Nervenfasern wie die dünn myelinisierten A-delta- und die unmyelinisierten C-Fasern betroffen. Das erklärt, warum lediglich eine Verminderung der Nadelstichempfindung und/oder der Temperaturempfindung festgestellt werden kann. Das unterstreicht den Stellenwert einer gründlichen klinischen Untersuchung aller sensorischen Qualitäten bei der Diagnosestellung einer Polyneuropathie. Hinzu kommt, dass die Kleinfaser-Neuropathie der neurophysiologischen Routinediagnostik nicht zugänglich ist, da die Elektroneurografie Veränderungen der kleinen Nervenfasern nicht erfasst und diese somit normal ist (6). Nach der aktuellen Literatur ist die Durchführung einer Hautbiopsie die geeignetste Möglichkeit, die Diagnose einer Kleinfaser-Neuropathie mit einer hohen Sensitivität zu stellen (9, 10). Diese Hautbiopsie ist nur spezialisierten Zentren vorbehalten. Bei der Erstdiagnose bleibt die Ursache in 41,8 Prozent der Fälle unklar. Die häufigste Ursache ist auch hier der Diabetes mellitus, andere Ursachen können eine gestörte Glukosetoleranz, ein Sjögren-Syndrom, eine monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz (MGUS), eine Hypothyreose, eine Psorias-Arthropathie beziehungsweise eine Zöliakie sein. Nach 2 Jahren können weitere 25 Prozent der unklaren Fälle geklärt werden, wobei dann die häufigsten Ursachen wiederum der Diabetes mellitus, die gestörte Glukosetoleranz und das Sjögren-Syndrom sind (8). Andere Quellen nennen als Ursache für die Kleinfaser-Neuropathie zusätzlich die alkoholtoxische Genese, die Hyperlipidämie, den M. Fabry und die Amyloidose (10).
Medikamentöse Therapie der schmerzhaften Polyneuropathie Wenn die Diagnostik eine behandelbare Ursache der Polyneuropathie zeigt (z.B. Diabetes mellitus o.a.), muss diese behandelt werden. Die Schweizerische Gesellschaft zum Studium des Schmerzes hat Therapieleitlinien für die Behandlung der schmerzhaften Polyneuropathie (11) herausgegeben, wobei festgestellt werden kann, dass alle schmerzhaften Polyneuropathien, ausser der schmerzhaften HIV-Polyneuropathie, gleichartig auf medikamentöse Therapien ansprechen. Als Medikamente stehen Trizyklika wie Amitriptylin, Antiepileptika vom Typ der Kalziumkanalmodulatoren wie Gabapentin und Pregabalin, Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmer (SNRI) wie Duloxetin und Venlafaxin sowie hochpotente Opioide zur Verfügung. Bei hochpotenten Opioiden wie Oxycodon und anderen sollte bedacht werden, dass die potenzielle Gefahr der Opiatabhängigkeit besteht beziehungsweise eine mögliche opiatinduzierte Hyperalgesie auftreten kann (Kasten 3). Bei unzureichender Wirkung der einzelnen Medikamente sollte eine Kombination von Kalziumkanalmodulatoren mit Opioiden in Betracht gezogen werden. Neu ist, dass nach den europäischen Therapieempfehlungen (12) die Kombination von Tramadol und Paracetamol als Durchbruchsschmerzmedikation empfohlen wird. Die therapeutischen Möglichkeiten der schmerzhaften
Kasten 3:
Symptomatische medikamentöse Therapie der schmerzhaften Polyneuropathie (ausser HIV-Neuropathie) (11)
● Trizyklika ● Kalziumkanalmodulatoren
● SNRI
● Opioide, Kombination mit Pregabalin oder Gabapentin in Betracht ziehen
Weitere Optionen ● Bei Durchbruchschmerzen (12)
● Topische Therapie (13)
● Amitriptylin 50–75 mg ● Gabapentin 300–2400 mg ● Pregabalin 50–600 mg ● Duloxetin 30–60 mg ● Venlafaxin 75–225 mg ● Oxycodon 2 x 20–2 x 40 mg
● Tramadol/Paracetamol 37,5 mg/325 mg/
● Capsaicin-8%-Pflaster
HIV-Polyneuropathie sind begrenzt. Mehrere Studien
belegen das Nichtansprechen auf Amitriptylin. Ein mo-
derater Effekt wurde für Lamotrigin gezeigt (12).
Seit kürzerer Zeit ist in der Schweiz das hoch dosierte
Capsaicin-8 Prozent-Pflaster zur Behandlung von peri-
pheren neuropathischen Schmerzen bei Erwachsenen
zugelassen, die nicht an Diabetes leiden (13).
●
Korrespondenzadresse :
Dr. med. Gunther Landmann
Oberarzt Fachbereich Neurologie
Zentrum für Schmerzmedizin
Schweizer Paraplegiker-Zentrum
Postfach
6207 Nottwil
E-Mail: gunther.landmann@paranet.ch
Merksätze:
● Polyneuropathien sind meist durch distal symmetrische sensible und/oder motorische Symptome beziehungsweise sogenannte neuropathische Schmerzen gekennzeichnet.
● Die Verdachtsdiagnose einer Polyneuropathie und neuropathischer Schmerzen kann bereits in der Hausarztpraxis gestellt werden. Zur Diagnosesicherung ist eine neurologische Abklärung notwendig.
● Bei Fehlen typischer klinischer Zeichen muss an die Kleinfaser-Neuropathie gedacht werden.
● Therapeutisch stehen für die schmerzhafte Polyneuropathie Trizyklika, Kalziumkanalmodulatoren, selektive Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmer sowie Opiate zur Verfügung, bei Durchbruchsschmerzen die Kombination von Tramadol und Paracetamol, bei lokal umschriebener Schmerzlokalisation ist das Capsaicin-8%-Pflaster eine Option.
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