Metainformationen


Titel
Schizophrenie und forensische Psychiatrie: Wo sind die tragenden Pfeiler?
Untertitel
-
Lead
Das schweizerische Versorgungssystem für psychisch kranke Menschen kann als hochwertig und professionell ausgebaut bezeichnet werden. Im Bereich der juristischen Behandlungsmassnahmen bei Rechtsbrechern gibt es aber noch deutliches Verbesserungspotenzial in Bezug auf Beginn, Dauer und Beendigung der Behandlung.
Datum
Autoren
-
Rubrik
Fortbildung Forensische Psychiatrie
Artikel-ID
4873
Kurzlink
https://www.rosenfluh.ch/4873
Download

Transkript


FORTBILDUNG
Schizophrenie und forensische Psychiatrie: Wo sind die tragenden Pfeiler?

Das schweizerische Versorgungssystem für psychisch kranke Menschen kann als hochwertig und professionell ausgebaut bezeichnet werden. Im Bereich der juristischen Behandlungsmassnahmen bei Rechtsbrechern gibt es aber noch deutliches Verbesserungspotenzial in Bezug auf Beginn, Dauer und Beendigung der Behandlung.

Lutz-Peter Hiersemenzel

Lutz-Peter Hiersemenzel
Schuldig und doch nicht schuldfähig?
W eil das Gutachten über Anders Behring Breivik, dem norwegischen Attentäter, der bei Anschlägen in Norwegen 2011 77 Menschen tötete, zum offenbar gut begründeten Schluss kam, beim Täter liege eine Schizophrenie vor, und er habe sich deshalb nicht «schuldig» gemacht und sei krankheitsbedingt nicht schuldfähig und könne nicht «bestraft» werden, kam es zur öffentlichen Empörung. Für viele war es ein schier unerträglicher Gedanke, dass jemand, der etwas so Unsägliches gemacht haben soll, nicht bestraft werden kann. Eine solche Beurteilung ist dabei sicherlich auch umso schwerer zu ertragen, je «grausamer» das Verbrechen erscheint. Aber auch bei anderen Straftaten, die bei Weitem nicht eine so unfassbare Dimension annehmen wie bei Breivik, fällt es Aussenstehenden oft schwer, zu akzeptieren, dass eine Psychose über einen Täter hereinbrechen kann wie ein unabwendbares Unglück und dass er den Verlust der Willensfreiheit nicht aus eigener Anstrengung abwenden kann. Frei von (juristischer) «Schuld» und «Strafe» assoziieren dabei allerdings viele zu Unrecht damit, dass das Handeln ganz ohne Rechtsfolgen bleibt, oder damit, dass die Person sogleich wieder in Freiheit kommt. Tatsächlich führt eine Schuldunfähigkeit wegen einer schweren psychischen Störung bei schweren Straftaten oft zu einer langen, manchmal sogar lebenslangen Unterbringung in der geschlossenen forensischen Psychiatrie, statt zu einer (meist) endlichen Gefängnisstrafe des Schuldfähigen. Dies wusste schon «der Trinker» im Buch von Hans Fallada nicht: Zeitlos aktuell erscheint es, wie der Autor vor rund 65 Jahren den in der Strafjustiz unbedarften Protagonisten – eine am Alkohol gescheiterte Existenz – viel zu spät erkennen lässt, wie falsch sein Anwalt liegt und wie recht ein Mitinsasse und erfahrener Gewohnheitsverbrecher mit seiner Warnung hatte, bloss kein psychiatrischer Fall zu werden, weil damit die Chance auf Entlassung endgültig verloren geht.

Historische Verankerung der psychopathologisch begründeten Schuldunfähigkeit Das Konzept, dass psychisch schwer Gestörte nicht für ihr die Normen und das Recht brechende Handeln bestraft werden können, geht in den europäischen Rechtsystemen bis aufs Altertum zurück und wurde im Mittelalter in der Constitutio Criminalis Carolina im Jahre 1532 erneut fest verankert. Ist allerdings eine Straffreiheit für eine Person, die sich in einem hoch erregten, in einem Zustand wie «von Sinnen» befindet, noch für jedermann verständlich und unmittelbar nachvollziehbar, fällt einem das Verständnis schwer, wenn ein Handeln kaltblütig durchgeführt erscheint und planerische Komponenten aufweist. Tatsächlich ist bei den Schizophrenien neben dem Bild des tobenden Wahnkranken der Begriff des «geordnet Wahnkranken» nicht nur in der forensischen Psychiatrie ein altbekannter. Dabei wird man in beiden Fällen neben Denkstörungen, wozu auch Wahn zählt, gerade auch im affektiven Erleben schwere und für das Handeln bedeutungsvolle Normabweichungen finden können. So kann es sein, dass in einem Fall eine krankheitsbedingt spürbar erhöhte Reizbarkeit, eine aggressive Gespanntheit, kurz, die Neigung zu aggressiven Durchbrüchen auftritt, hingegen in einem anderen Fall gerade der scheinbare Mangel an Emotionen, der Verlust der Empathiefähigkeit, die emotionale Einengung und Verflachung das Krankheitsbild der Schizophrenie bedeutsam prägen können. Naheliegend auch, dass diese bedeutsamen Veränderungen und Beeinträchtigungen ein durch Wahn motiviertes Handeln wohl erst ermöglichen. Gerade die Störung in der Emotionalität, also im affektiven Erleben, erscheint beim norwegischen Täter denn auch sehr eindrücklich und selbst aus der Distanz deutlich erkennbar. Es spricht denn auch ein planerisches Vermögen nicht gegen eine aufgehobene Schuldfähigkeit, wie es die ersten Gutachter offenbar sahen. Natürlich kann auch ein Wahnkranker planen, und er wird es wohl auch umso geschickter tun, umso mehr er um sich herum Komplotte wähnt, sich beobachtet und verfolgt fühlt.

&4 3/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

Ohne das Gutachten im Detail zu kennen, lässt sich hier aus der Distanz aber keine abschliessende Beurteilung fällen. Festzuhalten gilt es jedoch: Es darf nicht die Schwere der Tat zum Abrücken vom Konzept der Schuldfähigkeit beziehungsweise Schuldunfähigkeit führen, auch wenn der Einzelfall die Öffentlichkeit noch so sehr erschüttert. Hier muss man weiter auf den Pfeilern bauen, auf denen unsere Rechtssysteme seit Jahrhunderten solide stehen und deren Verankerung in der feststellbaren Psychopathologie des Rechtsbrechers mit gutem Recht begründet liegt. Klar ist natürlich auch: Die Öffentlichkeit muss bestmöglich vor Wiederholungstaten geschützt werden, wie auch der Kranke selbst vor weiteren Taten in der Psychose. Diese sogenannte «Sicherheit» hängt aber nicht von einer allfälligen «Bestrafung» des Täters ab (ganz zu schweigen von der Problematik, dass bei Unterbringung in Strafanstalten von unzureichend behandelten Schizophrenen auch eine Gefahr für Personal und Mithäftlinge besteht).
Wie behandeln und wie lang? Wenn man sich vom Extremfall ab- und sich den Menschen zuwendet, die manches Mal selbst mit nur leichten Straftaten einer stationären forensischen Behandlung zugewiesen wurden, dann erscheint es unmittelbar nachvollziehbar, dass ein psychisch schwer kranker Täter so lange behandelt und erst dann wieder entlassen wird, bis und wenn von ihm keine Gefahr mehr ausgeht. In der praktischen Anwendung dieses Rechts werden allerdings die Hürden immer höher, die vom Betroffenen überwunden werden müssen, ehe er wieder möglichst selbstbestimmt sein Leben gestalten kann. Während die mit einer zeitlichen Strafe belegten Rechtsbrecher in der Regel unabhängig vom tatsächlichen Rückfallrisiko zu einem von vornherein bekannten Zeitpunkt wieder in Freiheit entlassen werden, braucht es heute oft viel, um aus einer stationären Behandlungsmassnahme heraus entlassen zu werden. So ist in deutschen Massregel-Vollzugskliniken, wo ungefähr die Hälfte der Eingewiesenen an einer Schizophrenie leidet, heutzutage der schizophren-erkrankte Rechtsbrecher durchschnittlich rund 6 und nicht mehr 4 Jahre (!) in stationärer Behandlung. Diese Entwicklung steht dabei durchaus im Kontrast zu den Fortschritten der Psychiatrie der letzten Jahre: Wir wissen mehr über Entstehung und Entstehungsbedingungen der Erkrankung. Es gibt neue Medikamente und insbesondere besser verträgliche Depotneuroleptika. Auch die ambulanten und vernetzten Behandlungsstrukturen sind ausgebaut und erlauben immer kürzere Behandlungsdauern, was den Abbau von Langzeitbetten im Bereich der Allgemeinpsychiatrie unterstützte. Handkehrum beklagen die Kliniken, Patienten zu schnell entlassen zu müssen oder schwer Kranke nicht hinreichend behandeln zu können, wenn störungsbedingt die Krankheitseinsicht nur brüchig ist und der Kranke auf Entlassung drängt. Rechtskonzepte aber, die ein Zurückhalten und ein Behandeln des Kranken nur erlauben, wenn hoch akut Selbst- oder Fremdgefährdung zu erkennen ist, wobei nur die nächsten wenigen Tage im Blick stehen, werden der Problematik sicher nicht gerecht. Sie tragen vielmehr zu Verläufen

bei, die niemanden befriedigen können: 40, 50 oder gar 60 Klinikeintritte in 10 Jahren Behandlung, wie wiederholt gesehen, können meines Erachtens letztlich nur als ein Scheitern des Systems zuungunsten des Schwerkranken (und seiner Familie) verstanden werden. Auch wenn dem Autor vergleichbare Untersuchungen aus der Schweiz nicht bekannt sind, lassen die persönlichen Eindrücke und Erfahrungen annehmen, dass hierzulande eine den deutschen Verhältnissen entsprechende Entwicklung stattfindet, welche schon mancherorts zu dem sehr provokativen Bonmot führte (oder ist es tatsächlich eher ein «mauvais mot»?), dass heute ein an einer Schizophrenie Erkrankter erst eine Straftat begehen müsse, ehe er eine der Erkrankung angemessene Behandlung erhält. Es ist einerseits positiv zu werten, dass unnötig lange stationäre Unterbringungen vermieden und die schizophren erkrankten Patienten rasch wieder ambulant integriert und behandelt werden. Andererseits werden allein stationäre Notfallmassnahmen und ein kurzes neuroleptisches «Anbehandeln» so manchem Krankheitsbild und -verlauf nicht gerecht.
Der Schizophren Erkrankte in der Massnahme In der Schweiz stellen sich in der Praxis für den an einer Schizophrenie erkrankten Rechtsbrecher nun gleich zwei schwer zu nehmende Hürden dar: Erst einmal ist es schwer, überhaupt einen forensischen Behandlungsplatz zu erhalten. Und später ist es dann schwer, eines Tages auch wieder entlassen zu werden. Ein Wirrwarr von Kostenträgern und Verantwortlichkeiten vor dem Hintergrund einer föderal-kantonalen Struktur erschwert dabei ein effizientes Management dieser Situation und trägt wenig zur optimalen Ausnutzung der vorhandenen Strukturen bei. So scheinen sich die Zuweisungen an die vorhandenen forensischen Behandlungskapazitäten mit de facto unterschiedlich hoher Sicherheit tendenziell stärker nach der kantonalen Zugehörigkeit des Patienten zu richten als nach dem Risikoprofil. Und ganz besonders viel Geduld müssen an Schizophrenie erkrankte Rechtsbrecher aufbringen, in deren Kanton keine forensisch-psychiatrische Einrichtung existiert: Eine Aufnahmepflicht gibt es nicht, und Wartelisten und Wartezeiten von bis zu einem Jahr und länger für ausserkantonale forensische Patienten sind keine Seltenheit. Der schizophren erkrankte Rechtsbrecher wartet dann meist im Untersuchungsgefängnis unter den üblichen Bedingungen (23h Einschluss, 1h Hofspaziergang, wenn er denn überhaupt möchte) auf einen Behandlungsplatz. Dass dabei so manche Störungsbilder chronifizieren und ihre Behandelbarkeit eher ab- als zunimmt, liegt auf der Hand. Immerhin ist festzustellen, dass der forensische «Bettenmangel» erkannt ist und die forensischen Behandlungskapazitäten derzeit an verschiedenen Orten ausgebaut werden. Dies gilt nicht nur für an Schizophrenie Erkrankte, sondern auch für andersartig psychisch schwer gestörte Rechtsbrecher, deren Behandlung vor allem in Massnahmenzentren der Justiz stattfindet. Gelegentlich ist zu beobachten, dass an Schizophrenie Erkrankte im geschlossenen Strafvollzug untergebracht sind, weil im erkennenden Verfahren die Krankheit nicht erkannt wurde oder weil sie erst später zum

3/2012

&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE

5

FORTBILDUNG

Ausbruch kam. Viel häufiger allerdings ist es der Fall, dass sie bei bekannter Störung in Strafanstalten eingewiesen werden, einfach weil man für sie woanders keinen Platz findet. Zusammen mit dem zuständigen Psychiater der Justizvollzugsanstalt wird dann gemeinsam versucht, eine bestmögliche Behandlung und Betreuung zu installieren. Dass gleichwohl eine Strafanstalt bei allem Einsatz nicht das zu leisten vermag, was eine forensische Klinik anbietet, liegt auf der Hand. Nicht nur fehlendes Fachpersonal, auch Ausstattung und Abläufe einer Strafanstalt verhindern hier das als indiziert Erkannte.
Kasten:
Fallbeispiel:
Der drogenabhängige 32-jährige Martin X. wurde nach Krankheitsausbruch einer Schizophrenie mehrere Male stationär psychiatrisch behandelt. Seine impulsive Aggressivität und die eingeschränkte Ansprechbarkeit auf Neuroleptika erschwerten die Behandlung. Er wurde unter anderem wegen mehrerer Autoaufbrüche im Rahmen einer Beschaffungskriminalität zu einer mehrmonatigen Strafe verurteilt zugunsten einer (unbefristeten) stationären Behandlungsmassnahme. Da sich keine Klinik fand, die bereit war, die Massnahme zu vollziehen, wurde er in Untersuchungsgefängnissen und später in Hochsicherheitsabteilungen der Strafvollzugsanstalten untergebracht. Unterbrochen wurde diese Zeit allein durch zwei kurze psychiatrische Hospitalisationen in der zuständigen kantonalen Klinik zur Krisenintervention und eine rund viermonatige Behandlung in einer ausserkantonalen forensischen Klinik. Die Massnahme wurde schliesslich nach rund vier Jahren beendet. Er wurde zu den Eltern entlassen, obwohl die schon lange beantragte Vormundschaft noch nicht eingerichtet war, da dieses Verfahren mit Hinweis auf die Haftunterbringung zwischenzeitig wieder sistiert worden war.
Vorbeugen statt lange gesichert unterbringen? Untersuchungen konnten wiederholt zeigen, dass schwere Gewalttaten von an Schizophrenie erkrankten Tätern meist nicht bei Ausbruch der Erkrankung, sondern erst nach mehrjährigem Verlauf begangen wurden. Viele dieser Täter waren oftmals schon im Vorfeld mindestens einmal allgemeinpsychiatrisch stationär behandelt gewesen. Zudem fand sich nahezu regelhaft, dass in den Wochen vor der Tat keine oder eine nur ungenügende Medikamenteneinnahme erfolgte. Aus diesen Erkenntnissen drängt sich die Überlegung auf, dass die Prophylaxe von Gewaltstraftaten von an Schizophrenie Erkrankten nicht erst einsetzen darf, wenn der Betroffene nach einer Gewalttat (langfristig) forensisch untergebracht ist. Hier könnte man durchaus den Sinn einer verstärkten Sensibilisierung der in der allgemeinpsychiatrischen Klinik Arbeitenden für forensische Risikoüberlegungen diskutieren. Das reicht aber nicht. Wenn es darum geht, die ärztlich so dringend notwendig erkannte ambulante Weiterbehandlung mit Neuroleptika zu sichern, fällt es Gesetzgebung und Rechtsprechung unendlich schwer, hier den Fachärzten den Rücken zu stärken. So manches Mal wird ein Rückfall sehenden Auges in Kauf genommen mit Hinweis darauf, dass der momentan gute Zustand eine Fortsetzung der Medikation gegen

den Willen des Patienten nicht erlaube, sondern erst dann wieder, wenn der psychotische Rückfall eingetreten ist. Dies trägt nicht nur jenseits der Frage allfälliger Straftaten zum Leid des Betroffenen sowie von dessen Familie und Umgebung bei. Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch, dass im europäischen Vergleich der Einsatz von Depot-Neuroleptika in der Schweiz besonders tief liegt, also gerade auf jene Verabreichungsform der Neuroleptika verzichtet wird, welche sich durch besonders gute Verträglichkeit, Wirksamkeit, aber auch Einnahmesicherheit auszeichnen (und dass gerade die Depotform des weitverbreiteten Medikaments Olanzapin zwar in den meisten europäischen Ländern und in den USA zugelassen ist, in der Schweiz hingegen an der Zulassungsbehörde gescheitert ist, erscheint nicht nur aus forensischer Sicht als sehr unglücklich).
Nachsorge? Wenn es dann zur Entlassung aus der stationären Massnahme kommt, ist die Aufgabe einer meist sehr langfristig nötigen Weiterbetreuung und -behandlung zu meistern. Es empfehlen sich hierfür besonders die forensisch-psychiatrischen Ambulanzen, die in den letzten Jahren auf- und ausgebaut wurden. In der Praxis zeigen sich dabei allerdings Probleme, die unter anderem in der schwierigen Vereinbarkeit einer normativ arbeitenden Wissenschaft wie der Jurisprudenz und einer empirisch ausgerichteten, eher dimensional denkenden Wissenschaft wie der Medizin verwurzelt sein dürften: Wenn Krankheitsbilder gebessert, aber nicht völlig geheilt werden können und chronische Verläufe einer lebenslangen Begleitung und Medikation bedürfen, die ein Leben in Freiheit, aber vielleicht nur in einem betreuten Rahmen erlauben, lässt sich dies nur schwer mit juristischen, eher dichotom angelegten Vorstellungen in Einklang bringen. Im Rechtsdenken ist jemand gesund oder krank und der Kranke irgendwann geheilt oder unbehandelbar. Damit verknüpft ist die Rückfallgefahr für deliktisches Verhalten entweder gebannt oder nicht. In der forensischen Realität zeigt sich aber, dass oft vor allem das Risikomanagement nach der Entlassung entscheidend ist in Bezug auf die Rückfallverhinderung – sowohl in Bezug auf eine erneute Krankheitsepisode als auch in Bezug auf ein deliktisches Verhalten. Eine gut aufgegleiste Entlassung und enge ambulante Begleitung könnten vermutlich so manches Jahr stationärer Therapie einsparen. Wichtig ist es meist, die Behandlung und insbesondere die Medikation sehr lange, wenn nicht gar lebenslang, zu sichern. Auch dafür kann es sinnvoll sein, eine Massnahme immer wieder zu verlängern. Die Erfahrung zeigt, dass zivilrechtliche Massnahmen hier oftmals nicht ausreichend greifen, wobei abzuwarten sein wird, wie in Zukunft die sich gerade in Einführung befindlichen Neuerungen im Zivilgesetzbuch, welche unter anderem mit dem Ziel einer erhöhten Professionalisierung aufgegleist wurden, in der Praxis bewähren.
Aus dem Gesagten lässt sich folgern, dass ● es mehr forensische Versorgungsstrukturen braucht
für die Zeit nach der Entlassung aus einer stationären Behandlungseinrichtung;

&6 3/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

● einem fachlich hochstehenden Risikomanagement mit ausgebildeten Kräften im Bereich der Ämter für Straf- und Massnahmenvollzug nach Entlassung mehr Gewicht zukommen muss;
● die Notwendigkeit langfristiger Medikation bei bestimmten Krankheitsbildern juristisch erkannt und besser unterstützt werden sollte, nicht nur im Straf-, sondern auch im Zivilrecht, gerade auch bei krankheitsbedingt wenig einsichtigen oder «ambivalenten» Patienten.
Nicht zuletzt braucht es mehr Mut der Verantwortlichen, die als möglich erachteten Progressions- und Entlassungsschritte auch umzusetzen, um die an manchen Behandlungsorten vorhandene Verstopfungsoder Blockadesituation in den forensischen Kliniken zu lösen.
Ausblick Das schweizerische Versorgungssystem für psychisch kranke Menschen kann als besonders hochwertig und professionell ausgebaut angesehen werden. Im Bereich der juristischen Behandlungsmassnahmen bei Rechtsbrechern gibt es aber noch deutliches Verbesse-

rungspotenzial in Bezug auf Beginn, Dauer und Been-

digung der Behandlung. Eine zum Teil monatelange

Unterbringung von an Schizophrenie Erkrankten in Ge-

fängnissen ist sicher kontraproduktiv. Andererseits er-

scheinen die Behandlungszeiten in den forensischen

Kliniken zum Teil zu lang und könnten sicherlich deut-

lich verkürzt werden, wenn effizienten Entlassungs- und

kontrollierenden Betreuungsregimen mehr Bedeutung

zugestanden würde. Gelder, die hier zum Ausbau von

ambulanten Versorgungsstrukturen wie auch bei Voll-

zugsämtern für ein qualitativ hochwertiges Risiko-

management angelegt werden, sind sicher eine gute

Investition und im Endeffekt auch kostengünstiger als

überlange stationäre Unterbringungen.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Lutz-Peter Hiersemenzel MBA

Leitender Arzt

Fachbereich Forensik

Psychiatrische Dienste

Weissensteinstrasse 102

4503 Solothurn

E-Mail: lutz.hiersemenzel@spital.so.ch

Literatur auf Anfrage beim Autor.

&8 3/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE