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FORTBILDUNG
Stressinduzierte Systemerkrankungen
Burn-out: Die frühzeitige Behandlung lohnt sich
Neben arbeitsplatzbezogenen Belastungsfaktoren sind auch persönlichkeitsbedingte Faktoren sowie die persönliche Lebenssituation an der Entstehung eines Burn-out-Prozesses beteiligt. Gute therapeutische Ergebnisse und eine frühe berufliche Wiedereingliederung werden bei der Kombination einer intensiven, aber zeitlich begrenzten stationären und längerfristigen ambulanten Behandlung erzielt.
Doris Straus Hildburg Porschke
Doris Straus1 und Hildburg Porschke2
D ie aktuelle Stressstudie 2010 des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco [1]) zeigt eine klar steigende Stressbelastung in der Schweizer Erwerbsbevölkerung: 34 Prozent der Befragten geben branchenunabhängig an, sich häufig oder sehr häufig gestresst zu fühlen. Das sind 7 Prozent mehr als im Jahr 2000. Ein Indiz für die Burn-out-Gefährdung ist die Aussage, dass sich Erwerbstätige bei der Arbeit emotional verbrauchen. Ein Viertel (25%) gab dieses Gefühl an. Dies entspricht bisherigen Untersuchungen, bei denen im Durchschnitt 30 Prozent der Bevölkerung unter einem Burn-out-Syndrom leiden (2). Im Jahr 2000 wurden die Kosten für Stressfolgeschäden in der Schweiz mit 4,2 Milliarden Schweizer Franken beziffert (SecoStudie 2000), zwei Drittel davon durch Produktivitätseinbussen, ein Drittel durch Arbeitsabwesenheiten. Die Behandlungskosten haben darin einen verschwindend kleinen Anteil.
Die Definition von Burn-out «Burn-out» beschreibt sowohl ein Syndrom als auch einen Prozess und ist definiert als eine anhaltende Stressreaktion auf chronische Arbeits- und/oder interpersonale Stressbelastung mit drei anhaltend und progredient auftretenden Symptomdimensionen (3): 1. emotionale und körperliche Erschöpfung (Kardinal-
symptom): «Ich kann nicht mehr.» 2. Depersonalisation (Entfremdung) und Zynismus
gegenüber der Arbeit: «Wozu mache ich das alles?» 3. Reduzierte Leistungsfähigkeit, Ineffektivität bei der
Arbeit: «Schaffe ich das alles noch?»
Merksätze:
● Burn-out ist keine Selbstdiagnose, sondern eine stressinduzierte Systemerkrankung.
● Gute therapeutische Ergebnisse und eine rasche berufliche Wiedereingliederung werden bei der Kombination einer frühzeitigen stationären und weiterführenden ambulanten Behandlung erzielt.
Circulus vitiosus des Burn-outs Unter andauerndem Druck am Arbeitsplatz steigt der persönliche Einsatz auf Kosten von Erholungsphasen und eigenen Bedürfnissen. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen stellen sich ein. Die Folge sind oft Selbstzweifel und Ängste, die erwartete Leistung nicht mehr zu erbringen. Was zuvor interessant und eine positive Herausforderung war, löst Widerwillen und Gereiztheit aus. Motivation und Kreativität sinken. Damit beginnt ein schädigender Kreislauf von sinkender persönlicher Leistungsfähigkeit bei gleichzeitig steigendem Einsatz und zunehmender Erschöpfung. Das Durchhalten unter chronischer Stressbelastung kann schliesslich in einen Zustand depressiver Verzweiflung und Aussichtslosigkeit münden (Kasten). Neben arbeitsplatzbezogenen Belastungsfaktoren sind immer auch persönlichkeitsbedingte Faktoren sowie die persönliche Lebenssituation an der Entstehung eines Burn-out-Prozesses beteiligt. Bekannte Burn-outspezifische berufliche Entstehungsfaktoren sind hohe Belastung bei gleichzeitig fehlender Möglichkeit persönlicher Einflussnahme und ungenügender sozialer Unterstützung (Job-Demand-Control-Support-Model, Karasek & Theorell, 1990) sowie eine Dysbalance zwischen persönlichem Einsatz und erlebter Anerkennung (Effort-Reward-Imbalance-Model, Siegrist 1996). Relevante Persönlichkeitsfaktoren sind häufig perfektionistische Leistungsansprüche, hohes Engagement, starkes Kontrollbedürfnis, Harmoniebedürftigkeit und fehlende Abgrenzungsfähigkeit. Dagegen sind soziale Unterstützung im beruflichen wie privaten Umfeld, gutes Führungsverhalten und gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatem wichtige Schutzfaktoren.
Burn-out-Syndrom: eine stressinduzierte Systemerkrankung Im öffentlichen Diskurs wird Burn-out häufig als «Selbstdiagnose» dargestellt. Entgegen der Popularität des Begriffs ist Burn-out am Arbeitsplatz aber nach wie vor ein Tabu. Aus Angst vor Stigmatisierung und den sozioökonomischen Folgen arbeiten durchschnittlich Betroffene nach Erkrankungsbeginn noch neun Monate weiter. Erst bei völligem Zusammenbruch suchen sie ärztliche
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Hilfe, oft unter dem Eindruck, an einer körperlichen Erkrankung zu leiden. Als erste Symptome werden zumeist Schlafstörungen, Kopf- oder Rückenschmerzen und Verdauungsstörungen wahrgenommen. Das Burn-out umfasst als ernst zu nehmende stressinduzierte Systemerkrankung somatische, kognitive und psychische Aspekte und ist mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität verbunden. Die neurobiologische Stressforschung hat pathophysiologische Prozesse identifiziert, die zusammenwirkend die Symptome des Burn-outs als stressinduziert erklären (4). Normalerweise wird eine akute Stressreaktion über den vagal vermittelten parasympathischen Reflexweg und die zentrale Hemmung der hypothalamo-hypophysären-(HPA)-Achse rasch terminiert. Dagegen kommt es unter chronischem Stress zu einer Feedback-Dysregulation mit dauerhaft erhöhtem Sympathikotonus und Hyperkortisolismus (zentrale Glukokortikoidresistenz). Mit einer noch nicht vollständig geklärten zeitlichen und kausalen Dynamik kann sich im Verlauf ein Hypokortisolismus bei Unterfunktion der HPA-Achse ausbilden, zum Beispiel infolge Erschöpfung der Nebennierenrindenkapazität und/ oder peripherer Glukokortikoidresistenz (5, 6). Prädisponierend könnte eine entwicklungsbedingte Hyporesponsivität der HPA-Achse infolge frühkindlicher Traumatisierung sein (7). Diese Faktoren machen chronischen Stress auch neurobiologisch zu einem Risikofaktor für: ● kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankungen mit
Bluthochdruckentwicklung, Thromboseneigung bei Hyperfibrinogenämie und resultierendem Herzinfarkt oder zerebralen Insult (8) ● Stoffwechselstörungen infolge des Hyperkortisolismus mit Osteopenie, lipogener und diabetogener Stoffwechsellage und gegebenenfalls Entwicklung eines metabolischen Syndroms ● Sexualstörungen: CRH, Cortisol und proinflammatorische Zytokine induzieren eine hypothalamisch/hypophysäre Hemmung der Gonadotropinausschüttung (GRH, LH) mit Reduktion der peripheren Hormonspiegel (Östrogen, Progesteron, Testosteron) und Entwicklung einer peripheren Östradiolresistenz (9, 10) ● Schlafstörungen aufgrund der Dysbalance von schlafinduzierendem Wachstumshormon und Melatonin versus einen aktivierenden Cortisolspiegel. Bei Minderung der Tiefschlafphasen werden hippocampal vermittelte Lern- und Gedächtnisprozesse sowie präfrontal kognitive exekutive Funktionen beeinträchtigt, zudem sinkt die Schmerzschwelle (11) ● eine neuro-immunologische Deregulation mit Imbalance von humoraler und zellulärer Immunabwehr mit Infektneigung, Atopie und allergischen Reaktionen sowie Begünstigung von Autoimmunerkrankungen (12). Chronischer Stress und die Dysregulation der Cortisolausschüttung (Hyperaktivität der HPA-Achse bei gleichzeitig reduzierter glukokortikoider FeedbackSensitivität) sind Risikofaktoren für die Entwicklung einer depressiven Störung, einer sogenannten Erschöpfungsdepression (13, 14). Neben der vegetativen Symptomatik sind Angst und kognitive Einengung
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typische Symptome einer akuten Stressreaktion, vermittelt durch eine enge bidirektionale Verbindung von präfrontalem Kortex und limbischem System. Unter chronischen Stressbedingungen entwickeln sich komplizierend neben der Depression auch Angst- und
Burn-out-Prozess
nach Burisch 2005, Schulze 2010 (15)
Stress
● Erste Warnzeichen gesteigerter Einsatz für Ziele, Überstunden, Erschöpfung oder vegetative Überreaktion
● Reduziertes Engagement
negative Einstellung zur Arbeit, reduzierte soziale
Burn-out
Interaktionen, «Dienst nach Vorschrift» ● Emotionale Reaktionen
Selbstzweifel, Hilflosigkeit, Pessimismus, Leere, Ener-
giemangel, Schuldzuschreibung an andere, Gereizt-
heit
Depressive ● Abnahme von
Symptomatik
kognitiven Fähigkeiten, Motivation, Kreativität und Differenzierungsfähigkeit
● Abflachen des emotionalen und sozialen Lebens und von Interessen
Klinische Depression
● Psychosomatische Reaktionen Schlafstörungen, Schmerzen, Substanzgebrauch
● Depression und Verzweiflung Gefühl von Sinnlosigkeit, tiefer Verzweiflung, Suizidgedanken
Panikstörungen. In Abhängigkeit von maladaptiven Bewältigungsstilen wie der Alexithymie kommt es häufig zu hypochondrischen Ängsten und somatoformen Störungen, die wiederum durch die chronische Schlafstörung mit Senkung der Schmerzschwelle und die depressive Symptomatik verstärkt werden. Perfektionismus und hohes Kontrollbedürfnis begünstigen die Entwicklung von Zwangssymptomen. Zudem neigen Patienten unter dem Eindruck des Burn-outs zu einer harten Bilanzierung mit ernst zu nehmendem Suizidrisiko.
Burn-out-Behandlung Unbehandelt verschlechtert sich ein Burn-out prozesshaft und chronifizierend. Daher ist es wichtig, möglichst frühzeitig, individuell und störungsspezifisch, das heisst auf die Ursachen fokussiert zu behandeln, zumal noch unklar ist, wie weit stressinduzierte Veränderungen im Einzelnen rückbildungsfähig sind. Eine rein symptomatische Behandlung, wie eine Schlafmedikation und Krankschreibung, greifen zu kurz. Multimodale, integrierte Behandlungsansätze sind notwendig. Grundlegend ist die Psychotherapie in Kombination mit übend verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Ansätzen, gezielten Stressbewältigungsverfahren wie aktive und passive Entspannungsmethoden sowie die psychopharmakologische Behandlung (antidepressiv und/oder anxiolytisch), insbesondere auch zur Wiederherstellung der Schlafarchitektur mit ausreichend Tiefschlaf und Schlafeffizienz. Hinzu kommen im Rahmen der vegetativen Regeneration und
psychophysischen Erholung die Körper- und Bewegungstherapien, Physiotherapie und adjuvant komplementärmedizinische Verfahren wie traditionell chinesische Heilmethoden, Wasser-Shiatsu, Kraniosakraltherapie und Osteopathie. Arbeitsplatzbezogene Interventionen und der Einbezug des privaten Umfelds sind unerlässlich.
Ambulant oder stationär? Die Distanzierung und Entlastung von äusseren Belastungsfaktoren ist ein erster Behandlungsschritt. Die ambulante Therapie setzt ein tragfähiges Umfeld, erholsame Umgebungsfaktoren und eine ausreichende körperliche wie psychische Stabilität voraus. Beim Betroffenen müssen die Möglichkeit der Tagesstrukturierung, ausreichende Eigenaktivität und die Kombination der notwendigen ergänzenden Therapien vorhanden sein. Dies im Zustand des Zusammenbruchs zu organisieren, überfordert viele Betroffene und deren Umfeld. Häufig ist zu beobachten, dass sich der Zustand in einer Situation der Arbeitsunfähigkeit bei zu geringer Tagesstruktur verschlechtert. Die Konsequenzen: Anspannung, Schuldgefühle und Versagensängste wachsen, Konflikte im privaten Umfeld eskalieren aufgrund zunehmender Reizbarkeit und Aggression; die Betroffenen sind noch nicht zu einer inneren Distanzierung fähig. Geeignete Bewältigungsstrategien müssen zunächst vermittelt und geübt werden. Die stationäre Behandlung kann in dieser Situation frühzeitig eine intensive multimodale Therapie gewährleisten, die neben der wirksamen Distanzierung aus der Belastungssituation auch eine haltende Tagesstruktur umfasst. Durch diese Intensivierung der Therapie können drei- bis vierwöchige Klinikaufenthalte ausreichend sein. Ziel ist die möglichst rasche Rückkehr in den Arbeitsprozess, wobei die ambulante Weiterbehandlung vorgeplant wird, damit Erkenntnisse und erlernte Bewältigungsstrategien auch im privaten und im Arbeitsumfeld umgesetzt werden können. Zu lange Arbeitsunfähigkeitsphasen verschlechtern die Prognose eher. Denn sie führen zu zunehmenden Ängsten und einem Vermeidungsverhalten gegenüber der beruflichen Re-Exposition und Realitätsprüfung.
Fazit: stationär und ambulant
Sehr häufig wird die Meinung geäussert, ein Burn-out
sei mit lang anhaltender, wenn nicht gar dauerhafter
beruflicher Leistungsminderung verbunden. Dagegen
zeigen erste Outcome-Evaluationen der Clinica Holis-
tica Engiadina, dass bei einer mittleren Therapiedauer
von 29 Tagen sich 71 Prozent der Behandelten bei
Erhebung einen Monat nach Therapieende bereits wie-
der im Prozess des beruflichen Wiedereinstiegs befin-
den. Im Hinblick darauf, dass Burn-out-Patienten typi-
scherweise erst spät, quasi im Zusammenbruch,
ärztliche Hilfe suchen, sprechen unsere klinischen Er-
fahrungen dafür, dass gute therapeutische Ergebnisse
erzielt werden können, wenn eine intensive, multimo-
dale und individuell fokussierte stationäre Behandlung
mit einer längerfristigen ambulanten Weiterbehand-
lung kombiniert wird.
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Korrespondezadresse: 1Dr. med. Doris Straus
Chefärztin Clinica Holistica Engiadina Plaz, 7542 Susch (Engadin) Mail: d.straus@clinica-holistica.ch Internet: www.clinica-holistica.ch
2 Dr. med. Hildburg Porschke Stv. Chefärztin, Clinica Holistica Engiadina
Literatur: 1. Stress Studie 2010: Stress bei Schweizer Erwerbstätigen – Zu-
sammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen, Personenmerkmalen, Befinden und Gesundheit (SECO). 2. Ahola K, Honkonen T, Isometsö E, Kalimo R, Nykyri E, Koskinen S, et. al.: Burnout in the general population. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2006; 41: 11–7. 3. Maslach C, Schaufeli MP.: Job Burnout. Ann Rev Psychol. 2001; 52: 397–422. 4. Malarkey WB, Tafur JR, Rutledge T, Mills PJ.: Neuroendokrinologie und Psychoneuroimmunologie, in: Schubert C, Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie, Verl. Schattauer, Stuttgart, 2011, S. 35–49. 5. Besedovsky HO, del Rey A.: Physiology of psychoneuroimmunology: a personal view. Brain Behav Immun 2007, 21: 34–44.
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