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100 Jahre Schizophrenieforschung
Bereits im Jahr 1908 prägte Eugen Bleuler den Begriff der Schizophrenie. Als Direktor am Burghölzli verwendete Bleuler den Begriff anlässlich eines Vortrags an der Charité in Berlin und 1911 auch in einem umfassenden Beitrag zu Aschaffenburgs «Handbuch der Psychiatrie». Der Begriff «Schizophrenie» etablierte sich fortan und löste die von Emil Kraeplin vorgängig benutzte Bezeichnung «Dementia praecox» vollständig ab. In den letzten Jahren sind wissenschaftliche Kontroversen um den Terminus «Schizophrenie» entstanden, insbesondere im Zusammenhang mit der laufenden Revision der operationalen Manuals ICD-10 und DSM-IV. An der 6. Internationalen Zürich-Konferenz wurde eine Standortbestimmung in diesem Forschungsgebiet vorgenommen, aber auch neuere Entwicklungen wurden vorgestellt. Die drei folgenden Interviews zeigen Fortschritte in der Früherkennung und der Neurobiologie der Schizophrenie auf sowie die aktuellen Entwicklungen in der Pharmakotherapie.
Das schizophrene Kontinuum
Die Schizophrenie galt bisher als eher seltene Erkrankung. Neuere epidemiologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass viele der schizophrenen Symptome auch in der Allgemeinbevölkerung vorkommen. Diese Sichtweise eröffnet neue Forschungsperspektiven. Ein Interview mit Prof. Wulf Rössler, Direktor der Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie Zürich West der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich, zum sogenannten schizophrenen Kontinuum.
Die Früherkennung von Psychosen wird neuerdings aufgrund der niedrigen Übergangsraten von Risikostadien in eine manifeste Psychose kritisiert. Ist diese Kritik berechtigt? Prof. Wulf Rössler: In der Früherkennung möchte man abgeschwächte oder nur kurzfristig auftretende psychotische Symptome erfassen, um durch entsprechende Massnahmen den Übergang in die Psychose zu verhindern. In den letzten Jahren wurde dieser Ansatz kritisiert, weil die Übergangsraten in die manifesten Psychosen nur noch 10 bis 20 Prozent betragen haben. Studien von Patrick McGorry in Australien, dem Ursprungsland der Früherkennung, wiesen zunächst Übergangsraten von 40 bis 50 Prozent auf. Die Gründe
Prof. Wulf Rössler
sind darin zu suchen, dass gefährdete Personen immer früher, das heisst weit vor dem Ausbruch einer Psychose erfasst werden, während in den Anfängen der Früherkennung Betroffene erst kurz vor Ausbruch der Erkrankung erfasst wurden.
Hängt die Problematik auch damit zusammen, dass die Schizophrenie keine Krankheitsentität ist? Wulf Rössler: Die psychiatrische Diagnostik fordert, dass wir vorgängig zu einer Diagnose somatische Ursachen ausschliessen. Um eine Psychose zu diagnostizieren, müssen deshalb somatische Erkrankungen, wie zum Beispiel Hirntumore oder Stoffwechselstörungen,
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als Ursachen ausgeschlossen werden. Die Schizophrenie ist keine natürliche Krankheitsentität wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Krankheiten, da wir kein somatisches Korrelat einer Hirnerkrankung haben. Die Krankheitsdefinitionen in der Psychiatrie sind Konventionen über die Intensität und Dauer bestimmter Symptome. Wenn wir die Kriterien ändern, hat das folglich Konsequenzen auf die Diagnose. Je nach Krankheitsdefinition variiert dann die Häufigkeit einer Erkrankung. Die Häufigkeit der Schizophrenie lag in den Sechzigerjahren in Europa bei rund 2 Prozent, in den USA aber bei 20 Prozent. Die Psychiatrie befand sich wegen dieser babylonischen Sprachverwirrung in der Krise. Erst die Einführung diagnostischer Manuals wie dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Psychiatric Disorders, American Psychiatric Association) und dem ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, WHO) führte zu einer Vereinheitlichung der Diagnosen.
Woher kamen diese grossen Unterschiede? Wulf Rössler: In den Sechzigerjahren hatte weltweit jeder Psychiater von Rang seine eigenen Vorstellungen und damit seine eigene Definition einer Schizophrenie. In den Siebzigerjahren wurde in den neuen Klassifikationssystemen die Schizophrenie auf ein Kernsyndrom reduziert. Dies hatte aber zur Folge, dass man nur noch die schwersten Krankheitsverläufe im Fokus hatte. Diese schweren Erkrankungen betreffen zirka 1 Prozent der Bevölkerung – eine Zahl, die jeder Mediziner kennt. Weniger bekannt ist, dass weitere 5 Prozent der Bevölkerung an sogenannten unterschwelligen Psychosen leiden. Und bis zu 30 Prozent der Bevölkerung berichten über einzelne schizophrene Symptome, wie zum Beispiel: «Ich glaube, man kann meine Gedanken lesen» – normalerweise ein Kernsymptom der Schizophrenie, aber in diesem Zusammenhang nicht klinisch relevant. Wenn also die Bevölkerung die prinzipiell gleichen Symptome wie manifest Erkrankte haben kann, gibt es keine natürliche Grenze zwischen gesund und krank. Das heisst, es gibt ein Kontinuum zwischen gesund und krank, dessen Grenzen wir in unseren Klassifikationssystemen festlegen. Deshalb ist auch die Früherkennung schwierig. Denn wen sollen wir einschliessen?
Inwiefern ergeben sich neue Forschungsperspektiven? Wulf Rössler: In den letzten Jahren gab es beispielsweise eine intensive Diskussion über das Risiko einer Psychoseentwicklung bei Cannabiskonsum. Wir konnten zeigen, dass Cannabiskonsumenten bereits ein erhöhtes Risiko für subklinische psychotische Störungen aufweisen, das übrigens dosisabhängig ist. Unsere letzten Studien in Zürich konnten zeigen, dass viele junge Erwachsene mit subklinischen psychotischen Symptomen in ihrem weiteren Leben zwar keine Psychose entwickeln, aber ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Vielzahl anderer Störungen haben, wie zum Beispiel Angststörungen oder bipolare Störungen. Die jungen Menschen, die wir heute in der Früherkennung sehen, sind also Risikofälle für alle möglichen psychischen Erkrankungen. Deshalb bin ich sicher, dass sich die Früherkennung bald sehr viel breiter aufstellen wird, obwohl Kritiker sagen, dass die Früherkennung auch stigmatisierend sein kann.
Warum wirkt die Früherkennung stigmatisierend? Wulf Rössler: Bei Übergangsraten von 10 bis 20 Prozent werden 8 oder 9 von 10 Patienten als Risikopatienten für eine Schizophrenie eingestuft, obwohl sie letztlich keine Psychose entwickeln. Aber viele, die keine Psychosen entwickeln, haben wie gesagt ein Risiko für alle möglichen Störungsbilder und damit verbunden für psychosoziale Probleme. Vielen von diesen Betroffenen können wir wirksam helfen. Dabei dreht es sich nicht nur um Medikamente, sondern auch um wirksame psychotherapeutische und psychosoziale Behandlungsansätze. Vielfach geht es auch um eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung. Von daher ist es falsch zu behaupten, dass die Früherkennung stigmatisierend wirkt. Die Psychiatrie ist heutzutage eine erfolgreiche Disziplin, die sich nicht hinter anderen medizinischen Disziplinen verstecken muss. ●
Prof. Wulf Rössler, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Die Neurobiologie der Schizophrenie
Prof. Peter Falkai, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Göttingen, Deutschland, geht in seinen Forschungen der Frage nach, welche neuronalen Netzwerke an der Entwicklung der Schizophrenie beteiligt sind. Das bessere Verständnis gestörter regenerativer Kapazitäten des menschlichen Gehirns könnte zu neuen Add-on-Therapieansätzen führen.
Was ist unter einer Störung des neuronalen Netzwerkes zu einer Dysfunktion von Gennetzen zu verstehen? Prof. Peter Falkai: Bei der schizophrenen Psychose ist man ursprünglich davon ausgegangen, dass regionale Veränderungen, wie im Bereich des Thalamus, für die schlecht zu behandelnde Negativsymptomatik und die kognitiven Defizite verantwortlich sind. Mit bildgebenden Verfahren haben wir aber gesehen, dass diese Hypothese für die Entstehung nicht ausreicht. Vielmehr muss eine neuronale Netzwerkstörung oder eine Konnektivitätsstörung vorliegen. Kortikale und subkortikale Regionen scheinen nicht miteinander abgestimmt zu kommunizieren. Was dem pathophysiologisch zugrunde liegen könnte, ist bis heute weitgehend unbekannt. Heute bezieht man in der Forschung die Frage mit ein, welche Gennetze an diesen pathophysiologischen Prozessen beteiligt sind. Die Schizophrenie ist eine neuronale Netzwerkstörung, dieser liegt wiederum eine Dysfunktion unterschiedlicher Gennetze/ Genfamilien zugrunde.
Prof. Peter Falkai
Bei Mikrodissektionen an Pyramidenzellen im Hippocampus konnte man bei an Schizophrenie erkrankten Patienten nachweisen, dass es hoch- und herunterregulierte Gene gibt. Die grösste Gruppe differenziell regulierter Gene steht interessanterweise im Zusammenhang mit der Immunmodulation. Welche Konsequenz hat das in Bezug auf die Entstehung der Schizophrenie? Ergibt das einen Sinn? Peter Falkai: Insgesamt haben wir 1800 Gene gefunden, die differenziell reguliert sind. Davon hatten 180 Gene mit immunregulativen Prozessen zu tun. Bemer-
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Der Konferenzort: die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
kenswerterweise waren diese Gene überwiegend herunterreguliert, was im Gegensatz zur Heraufregulierung vieler peripherer Immunmarker steht, die wir bei schizophrenen Patienten finden. Möglicherweise haben diese Gene aber nichts mit einem direkten immunpathogenen Prozess zu tun, sondern sind an Mechanismen beteiligt, die etwa mit Regeneration, Redoxreaktionen oder Neuroplastizität zu tun haben. Wichtig sind diese Erkenntnisse, weil wir verstehen müssen, welche Mechanismen bei der Schizophrenie gestört sind. Dann könnten wir auch die Netzwerkstörung und die Probleme bezüglich der Konnektivität kausal behandeln.
Sie haben Bewegungsstudien bei Erkrankten mit schizophrener Psychose durchgeführt. Bewegung scheint die regenerativen Fähigkeiten erstaunlich gut zu unterstützen. Wie kamen Sie auf das Studiendesign, und welche Konsequenz hat Bewegung in Bezug auf die Konnektivität und das kognitive Defizit? Peter Falkai: In meiner Assistenzzeit konnte ich beobachten, dass an einer schizophrenen Psychose erkrankte Männer unter klassischen Neuroleptika in ihren Bewegungsabläufen sehr eingeschränkt waren, aber beim Fussballspielen wieder «normale, gesunde» Männer wurden. In einer Publikation von Henriette van Praag in der Zeitschrift «Nature» konnte ich lesen, dass sich sowohl die Synaptogenese als auch die Neuroneogenese bei Mäusen unter Bewegung verbessere. Die Mäuse hatten dann nachweislich auch bessere kognitive Fähigkeiten. Bei Patienten mit Schizophrenie nimmt das Volumen des Hippocampus ab. Deshalb ist das episodische Gedächtnis beeinträchtigt und damit wahrscheinlich auch die Neuroplastizität. Ich habe mich gefragt, ob gezielte körperliche Bewegung die Kognition verbessere. Unsere Studienergebnisse bestätigen diese Annahme (Pajonk et al.), und mittlerweile haben wir mit einer Replikationsstudie begonnen.
wenn sich die Maus nicht nur bewegte, sondern auch mit anderen Mäusen zusammenlebte. Wenn wir unsere Studienteilnehmer nur Velo fahren lassen, fordern wir diese vielleicht auch nur ungenügend. Darüber soll die Studie Auskunft geben.
Allerdings hatten die Studienteilnehmer den richtigen Genotyp und die richtige Umwelt. Wie entscheidend ist das wiederum für die Neuroplastizität? Peter Falkai: Wir haben einzelne Studienteilnehmer genotypisiert, und in der Tat hat der BDNF-Genotyp einen Einfluss auf die Wirkungsfähigkeit des Sports. Oftmals heisst es, «der will nicht». Aber vielleicht kann es die betreffende Person auch wirklich nicht, weil diese einfach den «falschen» Genotyp besitzt.
In der Alzheimer-Forschung wird die Fehlfaltung von Proteinen als Ursache der Demenz postuliert. Wie ist das im Bereich der Schizophrenieforschung? Peter Falkai: Die Faltung von Proteinen ist neurobiologisch ein wichtiger Teil im Gehirn. Bei der Schizophrenie nimmt das Gehirnvolumen ab, es entwickeln sich funktionelle Störungen, aber es sterben keine Gehirnzellen. Ganz im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz, einer neurodegenerativen Erkrankung, bei der Gehirnzellen zugrunde gehen. Aber auch verschiedene Alzheimer-Studien zeigen, dass Bewegung den Krankheitsprozess verzögern kann. Wahrscheinlich werden auch bei dieser Erkrankung neuroprotektive Mechanismen durch Bewegung angesprochen.
Wie wichtig ist die Neurobiologie, um der Pathologie der Schizophrenie auf die Spur zu kommen? Peter Falkai: Die Neurobiologie untersucht nur einen Aspekt der Krankheit. Fragen nach der Bedeutung von Dopamin werden beispielsweise ausser Acht gelassen. Denn wir stellen Fragen rein auf der zellulären Ebene. ●
Prof. Peter Falkai, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Wie war die erste Studie aufgebaut? Peter Falkai: In einer randomisierten Studie partizipierten sowohl gesunde als auch an Schizophrenie erkrankte Probanden. Eine Gruppe fuhr Velo, eine zweite Kontrollgruppe spielte Tischtennis über einen Zeitraum von drei Monaten. Das hippocampale Volumen erhöhte sich signifikant bei Patienten (12%) und bei gesunden Probanden (16%) im Vergleich zur Gruppe ohne Intervention (-1%). Der N-Acetyl-Aspartat-Kreatinin-Quotient stieg um 35 Prozent in der Gruppe der erkrankten Probanden.
Was bedeuten diese Ergebnisse? Peter Falkai: Man kann die regenerativen Fähigkeiten mit Bewegung gezielt verbessern. Derzeit haben wir eine Follow-up-Studie über zwei Jahre angefangen.
Wird der Studienaufbau gleich sein? Peter Falkai: Nein, als Add-on kommt eine kognitive Therapie hinzu. Bewegung bereitet das Gehirn darauf vor, rezeptiv zu sein. Die kognitive Therapie wird hoffentlich helfen, die gestörte Kognition stärker zu verbessern. Das zeigen zumindest tierexperimentelle Studien an Mäusen: Die Kognition erhöhte sich eindeutig,
Moderne Konzepte der psychopharmakologischen Behandlung von Schizophreniekranken
Seit rund 60 Jahren gibt es eine effektive pharmakologische Behandlung für Patienten, die an Schizophrenie erkrankt sind. Neue Substanzen sollen insbesondere die Negativsymptome und die kognitiven Defizite positiv beeinflussen. Ein Interview mit Prof. Wolfgang Fleischhacker, Direktor des Departments für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Innsbruck, Österreich, zur pharmakologischen Behandlung von an Schizophrenie erkrankten Patienten.
Sollen Menschen mit Prodromalsymptomen bereits behandelt werden? Prof. Wolfgang Fleischhacker: Zu diesem Thema wird derzeit ein lebhafter Diskurs geführt. Für fundierte Empfehlungen, ob Menschen mit Prodromalsympto-
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men schon vor einer definitiven Diagnosestellung behandelt werden sollen, gibt es zu wenig Daten. Unklar ist vor allem, wer wirklich eine Behandlung braucht, weil die Erkrankung bei vielen, die über derlei Symptome berichten, auch ohne Behandlung nicht ausbricht. Dessen ungeachtet spricht die Evidenz aber ganz klar dafür, dass die Prognose der Erkrankung deutlich besser ist, wenn der Behandlungsbeginn möglichst früh nach Diagnosestellung erfolgt.
Soll bei diagnostizierter Schizophrenie primär eine Monotherapie angestrebt werden? Wolfgang Fleischhacker: Primär wird immer eine Monotherapie mit Antipsychotika angestrebt. In unserer Klinik werden zu 90 Prozent Antipsychotika der neuen Generation eingesetzt. Die Medikamente haben zumeist eine bessere Akzeptanz, auch weil sie eine bessere Verträglichkeit in Bezug auf motorische Nebenwirkungen haben. Typische extrapyramidal-motorische Symptome wie Parkinson-Syndrome oder Spätdyskinesien sind deutlich seltener zu beobachten.
Wann soll die Medikation gewechselt werden? Wolfgang Fleischhacker: Lange wurde der Frage nachgegangen, wie lange zugewartet werden soll, bevor bei ineffizienter medikamentöser Therapie ein Präparatewechsel angestrebt wird. Eine Reihe von Posthoc-Analysen und prospektiven Studien legt nahe, einen solchen schon nach zwei bis vier Wochen in Betracht zu ziehen. Die Wahrscheinlichkeit ist äusserst gering, dass Patienten, die während dieses Zeitraums nicht ausreichend auf ein Antipsychotikum angesprochen haben, bei weiterer Behandlung von diesem Medikament profitieren.
Wie sieht es bei den Antipsychotika der neuen Generation in Bezug auf metabolische Nebenwirkungen aus? Sie werden vermehrt mit starker Gewichtszunahme, der Induktion einer Insulinresistenz und eines atherogenen Lipidprofils assoziiert. Wolfgang Fleischhacker: Manche dieser Substanzen haben ein metabolisches Risiko, am ausgeprägtesten ist dieses bei Olanzapin und Clozapin. Es kann zu Gewichtszunahme und Glukoseintoleranz kommen. Bei diesen Patienten initiieren wir ein engmaschiges metabolisches Monitoring. Im Fokus stehen Gewichtskontrollen und die Beobachtung des Fettstoffwechsels. Studien zeigen, dass das erste Signal der metabolischen Entgleisung ein Anstieg der Triglyzeride ist. Blutzuckerspiegel verändern sich erst viel später, sind daher als früher Risikomarker nicht hilfreich. Therapeutisch gibt es primär zwei Möglichkeiten: bei den Lebensgewohnheiten zu intervenieren oder das Präparat zu wechseln. Bewegung, Sport und gesunde Ernährung helfen Menschen mit einer schizophrenen Psychose in jedem Fall, denn diese haben insgesamt ein sehr viel höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Am wenigsten häufig sind metabolische Nebenwirkungen unter Aripripazol und Ziprasidon. Wenn ein Präparatewechsel nicht möglich ist, behandeln wir die metabolischen Störungen gemeinsam mit den Endokrinologen, hier werden eventuell zusätzlich Statine oder Antidiabetika verordnet.
Welche neuen Substanzen befinden sich in der Pipeline? Wolfgang Fleischhacker: Derzeit befindet sich eine Vielzahl alternativer pharmakologischer Zugangswege in der frühen Phase der klinischen Prüfung. Diese sind sowohl als Monotherapie als auch in der Form von augmentativen Behandlungsversuchen in Entwicklung. Das grösste Augenmerk liegt auf den glutamatergen und nikotinergen Substanzen. Nikotinerge Substanzen zielen auf eine Verbesserung der kognitiven Leistungen ab. Bei Schizophrenie ist insbesondere die Aufmerksamkeit vermindert, auch Defizite im abstrakten Denken sind verbreitet. Gerade diese Elemente der sogenannten Exekutivfunktionen bestimmen die Krankheitsprognose wesentlich mit, vor allem im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung. Es ist schon lange bekannt, dass nikotinerge Substanzen die Hirnleistung bei Gesunden verbessern. Die Studienergebnisse bei Patienten mit Schizophrenie sind bis jetzt vorsichtig ermutigend. Angriffspunkte sind α-4- oder α-4-/β-2-nikotinerge Acetylcholinrezeptoren.
Und bei den glutamatergen Substanzen? Wolfgang Fleischhacker: Glutamat und Dopamin sind zwei Rezeptorsysteme, die interagieren. Mit den glutamatergen Substanzen wird versucht, eine indirekte Dopaminrezeptormodulation zu erzielen. Insbesondere Negativsymptome basieren wohl auf Fehlfunktionen im präfrontalen Kortex, bei denen diese beiden Rezeptorsysteme eine wichtige Rolle spielen. Hier gibt es ganz unterschiedliche pharmakologische Angriffspunkte. Einerseits kann, dem Wirkprinzip der SSR entsprechend, die Wiederaufnahme von Glycin blockiert werden, was zu einer verstärkten Aktivierung von NMDA-Rezeptoren führt, andererseits gibt es auch direkte Agonisten von metabotropen Glutamatrezeptoren. Verschiedenste Substanzen befinden sich derzeit in klinischer Prüfung.
Prof. Wolfgang Fleischhacker
Was gibt es sonst noch für Innovationen?
Wolfgang Fleischhacker: Auch die Anzahl der parente-
ral anwendbaren Antipsychotika hat sich vergrössert.
Das betrifft sowohl Medikamente für die Akutanwen-
dung als auch die lang wirksamen Depotpräparate. Bei
rezenten Neuzulassungen oraler Antipsychotika steht
nach wie vor das bewährte Dopamin-2-/Serotonin-2a-
antagonistische Rezeptorprofil im Vordergrund. Kri-
tisch lässt sich aber festhalten, dass diese Medikamente
keine echten Innovationen darstellen, bestenfalls eine
Erweiterung des Auswahlspektrums ermöglichen. Da-
gegen ist insgesamt eine Optimierung der Evidenz zur
pharmakologischen Schizophreniebehandlung klar er-
sichtlich. So stellt sich, neben weiteren Bemühungen
zur Entwicklung pharmakologisch distinkter Zugangs-
wege, die Herausforderung, das momentan verfügbare
Wissen in die klinische Praxis umzusetzen. Dazu zählt
auch die Notwendigkeit, pharmakologische Behand-
lungen mit evidenzbasierten psychosozialen Massnah-
men zu kombinieren.
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Prof. Wolfgang Fleischhacker, wir danken Ihnen für das
Gespräch.
Die Interviews führte Annegret Czernotta.
Quelle: 100 Jahre Schizophrenieforschung, 6. Internationale Zürich-Konferenz, 30. Juni / 1. Juli 2011, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.
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