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Kulturanthropologische Überlegungen zur Bedeutung des Schmerzes in der versicherungsmedizinischen Begutach-
tung der Schweiz (Teil 1)
Rüdiger Brinkmann
Das Beklagen von Schmerzen dient oft dazu, psychisches Leid auszudrücken. Das gilt insbesondere für den chronischen Schmerz ohne ausreichend begründendes beziehungsweise objektivierbares somatisches Korrelat. In vielen Kulturen ist es nicht möglich, psychisches Leid als solches zu benennen, weil es kein unserem Verständnis vergleichbar entfaltetes Verständnis von Körper und Seele gibt. Soma und Psyche sind noch nicht voneinander getrennt. Es gilt noch ein ganzheitliches Krankheitskonzept, das hinsichtlich seiner Kompliziertheit und Komplexität1 wahrscheinlich gut 200 Jahre im Rückstand gegenüber der Basis unserer Beurteilungskategorien liegt. Um keinen unangebrachten Kulturchauvinismus aufkommen zu lassen, sei schon an dieser Stelle hervorgehoben, dass keineswegs nur Arbeitsmigranten derart rückständige Krankheitsmodelle in sich tragen. Je nach regionaler Herkunft und allgemeiner Bildung treffen wir selbstverständlich auch bei Einheimischen auf derart rückständige Krankheitsmodelle2.
Vom physischen Schmerz zur psychischen Veränderung
Von den vielen Varianten funktioneller Störungen, denen wir im Begutachtungskontext mit Arbeitsmigranten begegnen, steht der Schmerz an erster Stelle. Und oftmals steht ein medizinisch anerkanntermassen schmerzhaftes Ereignis am Beginn der chronischen Schmerzen. Im Rahmen dieses Artikels soll die Aufmerksamkeit auf den ganz allmählichen Wechsel des Schmerzes von einem akuten körperlichen Geschehen auf ein den betrof-
Schmerzensmann vor der Geisselsäule (Holzschnitt von Hans Baldung, 1517)
1 Unter Kompliziertheit verstehen wir die Menge voneinander abgrenzbarer, terminologischer Einheiten eines Modells, unter Komplexität hingegen die Art der mit diesen Einheiten herstellbaren mehrdimensionalen Verknüpfungen.
2 Wir haben bewusst Regionalismus und mangelnde allgemeine Bildung als Merkmale der Rückständigkeit gewählt, weil wir im Alltag der Begutachtung häufig genug mit vergleichbarer Rückständigkeit bei ärztlich ausgebildeten Kollegen zu tun haben, wenn diese sich als Grundlage ihres Handelns zum Beispiel auf theoretische Modelle des frühen 19. Jahrhunderts beziehen und ungeniert von Energieflüssen im Körper und therapeutischen Wirksamkeitsmodellen gekonnten Schüttelns und Verdünnens ausgehen oder eine zwar populistisch wirksame aber medizinisch-naturwissenschaftlich abenteuerliche Geisteshaltung gegenüber Scheingegensätzen von «Natur» und «Chemie» an den Tag legen.
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fenen Menschen (seelisch) lebenslang veränderndes Geschehen gelenkt werden (Kasten 1). Unseres Erachtens sind viele der im geschilderten Fall geltend gemachten Beschwerden nur vor dem soziokulturellen Hintergrund verständlich und etwa wie folgt zu erklären: Der Versicherte stammt aus einem Kulturkreis mit deutlich abweichenden Normen und sozialen Gesetzen insbesondere hinsichtlich der familiären Ehre. Nach dem Ehrenkodex seiner Heimat wäre er oder – besser noch – ein männliches Mitglied seiner Familie aufgefordert gewesen, die der Familie angetane Beschämung (Schussverletzung und Untreuevorwurf) zu sühnen, um Ansehen und Ehre wieder herzustellen. Da er dies (innerhalb der schweizerischen Gesetzgebung) nicht verwirklichen wollte, und zudem auch kein weiteres männliches Familienmitglied zur Verfügung stand – der Vater war wegen Demenz in einem Heim untergebracht, Brüder oder Söhne gab es nicht – blieb die Sühne de facto aus. Ein Ausweg aus diesem Dilemma stellte für den Versicherten sein schweres (körperliches) Leiden dar, weil damit seine Handlungsunfähigkeit eine Erklärung bekam. Trotz guter operativer Versorgung der Schussverletzung humpelte er, und die in Zusammenhang mit der Stoffwechselstörung erlernten Schwächeanfälle setzten sich auch bei gut eingestelltem Diabetes als offenkundige Verhaltenssymbolik seiner Handlungsschwäche fort. Der Versicherte würde unserer Interpretation heftig widersprechen, weil er, würde er die Deutung akzeptieren, abermals das Gesicht verlöre. Durch Exploration kann der hier dargestellte innerpsychische Mechanismus deshalb auch nicht erhellt werden. Erfahrungen aus der Ethnopsychiatrie3 legen dennoch eine solche Interpretation durchaus nahe. Nach unserer Auffassung zeigt der Fall dieses Versicherten sehr schön, wie anfänglich somatische Beschwerden unmerklich Ausdruck seelischer Nöte werden4. Die Schwächezustände
Kasten 1: Fallvignette: Der Schuss in den Fuss
Ein 35-jähriger Versicherter aus Asien war zum Zeitpunkt unserer Begutachtung seit 4 Jahren nicht mehr berufstätig und wurde von seinen behandelnden Ärzten in den letzten 2 Jahren vor der Begutachtung bei uns wegen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung «bis auf Weiteres» als 100 Prozent arbeitsunfähig angesehen. Wie war es dazu gekommen? Dem Versicherten war von einem entfernten Verwandten in den linken Fuss geschossen worden, weil dieser Verwandte davon überzeugt war, dass der Versicherte ein Verhältnis mit seiner Frau hatte. Beabsichtigt war ein tödlicher Schuss, der nur aus Unfähigkeit im Umgang mit einer Handfeuerwaffe nicht zustande kam. Der Verdacht der Untreue war dadurch aufgekommen, dass die Frau des Schützen, die eine Cousine des Opfers ist, sich häufiger wegen familiärer Auseinandersetzungen mit ihrem Mann an den Versicherten gewandt hatte. Durch die Schussverletzung war das Opfer nach der operativen Behandlung und Rekonvaleszenz einige Monate komplett arbeitsunfähig und dann arbeitslos, weil sein Arbeitgeber unter Einhaltung der Schutzfristen bei Krankheit ihm sofort gekündigt hatte. Fast ein Jahr später fand er eine Arbeitsstelle als Mechaniker. Nach ein paar Monaten traten dann aber plötzlich «Schwächeanfälle» auf, die zuerst eine 100-prozentige, dann eine 50-prozentige und letztlich wieder eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit auslösten. Als Ursache wurde eine Stoffwechselstörung (Diabetes) festgestellt, die mit Tabletten behandelt wurde und nach Meinung der Ärzte keine Probleme mehr bereiten sollte. Der Versicherte bekundete von Anfang an Zweifel daran, dass die Schwächeanfälle nicht mehr auftreten würden, was schliesslich auch eintrat. Zudem klagte er nach der Schussverletzung über eine Gefühllosigkeit und peinigende Schmerzen im linken Fuss. Er wusste, dass Nerven verletzt worden waren. Manchmal waren diese Schmerzen so stark, dass er den Fuss bewegen musste, was den Schmerz zwar noch steigerte aber paradoxerweise auch zu einer Ablenkung vom Schmerz führte. Bei uns gab er an, dass er wegen der Schmerzen nicht lange stehen aber andererseits auch nicht gut laufen könne. Es «klemme» dann irgendwie etwas ein. Auch die «Schwächeanfälle», bei denen plötzlich beide Beine von der Hüfte abwärts schwach werden, sodass er hinfalle, traten weiterhin völlig unberechenbar auf. Auf die Frage, ob er unter psychischen Problemen leide, berichtete er, dass nach der Schussverletzung «alles zusammen geflogen» sei. Seitdem lebe er in «Dunkelheit». Momentan lasse sich seine Frau von ihm scheiden. Er könne selbst mit Schlafmitteln nicht mehr gut schlafen und habe zudem Albträume. Ausserdem sei er ständig traurig und habe Angst, dass wieder «so etwas» – ein Attentat – passieren könne. Diesmal vielleicht sogar von seiner eigenen Familie. Er habe einfach kein Vertrauen mehr in die Menschen. Er sei völlig allein, habe keine Zukunftsperspektive und wisse nicht, wie es weitergehen solle. Auf weitere Nachfragen gab er an, dass er sich nicht mehr konzentrieren könne, da er oft «gedanklich nicht da» sei. Er müsse ständig denken. Ausserdem vergesse er sehr viel. Eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung bei einem Psychotherapeuten aus seiner Heimat brachte keine Veränderung. Seit 1 Jahr könne er wegen finanzieller Problemen nicht mehr zu dem Psychotherapeuten gehen.
traten, wie eine schon eher detektivische Rekonstruktion der Krankengeschichte zutage förderte, erstmals
in Zusammenhang mit dem beginnenden Strafprozess gegen den Schützen auf, als der Versicherte zur Zeu-
3 C Haasen, O Yagdiran (Hrsg) Beurteilung psychischer Störungen in einer multikulturellen Gesellschaft. Lambertus Verlag Freiburg, 2000
4 Die auch mit Experimentalfilmen hervorgetretene Künstlerin Yoko Ono hat unsere Unfähigkeit, eine Veränderung wahrzunehmen, wenn die Wahrnehmung einen zu langen Zeitraum überblicken muss, an einem einfachen und zugleich symbolträchtigen Beispiel dargestellt. Sie nahm mit einer Filmkamera, die 1000 Bilder pro Sekunde aufnehmen kann, einen lächelnden Frauenmund auf, dessen Lächeln innerhalb von 10 Sekunden langsam abstirbt und den Mund in eine neutrale Stellung bringt. Durch die Wiedergabe der 10 000 Bilder mit einer normalen Abspielgeschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde dauert das Nachlassen des Lächelns zirka 7 Minuten. Beim Betrachten des Films («Gioconda smile») ist es nicht möglich zu sagen, wann das Lächeln aufgehört hat. Am Ende besteht allerdings kein Zweifel daran.
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genaussage bei Gericht erscheinen musste. Medizinisch gerät ein derartiger Fall gern in folgendes Beurteilungsdilemma: Die durch die Schussverletzung entstandenen Schmerzen sind medizinisch gut verständlich. Die tadellose operative Behandlung beseitigt in einem rein organischen Erklärungsmodell die Schmerzen weitgehend. Weitere Klagen über Schmerzen und sichtbares Humpeln scheinen nur noch zu offenbaren, wie undankbar der Versicherte auf die für ihn kostenlose und hervorragende Behandlung reagiert und ganz offensichtlich auf eine Frühberentung aus ist, nachdem er trotz anfänglicher Wiederaufnahme der Arbeit inzwischen dauerhaft Arbeitsunfähigkeit attestiert bekommt. Entscheidend für die versicherungsmedizinische Betrachtung war für uns, dass wir davon ausgehen, dass die hier angesprochenen kulturellen Hintergründe als nur aus der Psyche des Versicherten heraus zu verstehende Faktoren einer tatsächlichen Leistungsunfähigkeit ohne ausreichend somatisch objektivierbares Substrat darstellbar sind. Es liegt also eine zutiefst intrinsische Störung vor. Wobei der Begriff der Störung bereits eine ethnozentrische medizinische Betrachtung impliziert. Denn: Eingebettet in den kulturellen Hintergrund wäre es im kulturellen Ursprungsland mit grosser Wahrscheinlichkeit zur Blutrache gekommen. Das Problem wäre im Kontext der familiären Ehre gelöst worden. Hierzulande liess sich die Ehefrau von dem «Versager» scheiden und zog mit den beiden minderjährigen Töchtern in eine andere Gegend. Zudem war der ungesühnte Verdacht der Untreue auch für sie ehrenrührig. Der Versicherte wurde zum Sozialfall.
Von schmerzresistenten Indianern und empfindlichen Prinzessinnen
Das Beispiel weist unabhängig von den kulturellen Hintergründen noch auf ein ganz anderes Problem hin, das heutzutage durch die Dominanz eines naturwissenschaftlich-materialistischen Weltbilds in der Medizin weitgehend
Kasten 2: Die Geschichte des Hiob
Gemäss der biblischen Erzählung im
Tanach beziehungsweise im Alten Testa-
ment lebte Hiob mit seiner Frau und zehn
Kindern als wohlhabender Mann im Land
Uz. Er besass 11 500 Tiere (Kamele,
Schafe, Rinder und Esel) und hatte zahl-
reiche Knechte und Mägde (Hiob 1,1–3
EU). Hiob wird als frommer Mann ge-
schildert, dessen Glaube schwer geprüft
wird, denn eines Tages tritt Satan vor
Gott und behauptet, Hiobs Frömmigkeit
komme nur daher, weil Gott ihn und sei-
nen Besitz beschützt und ihn gesegnet
habe. Daraufhin erlaubt Gott dem Satan,
Hiob zu prüfen.
Hiob verliert daraufhin durch das Wirken
von Satan zuerst seinen ganzen Besitz,
dann alle seine Kinder – seine sieben
Söhne und drei Töchter kommen durch einen Hauseinsturz ums Leben (Hi 1,18f. LUT). All dies bringt Hiob nicht dazu, Gott
Hiob vom Teufel gequält (Federzeichnung von Hans Georg Schäublein, ca. 1510–1515)
zu verfluchen: «Und er sagte: ‹Nackt bin ich aus meiner Mutter Leib gekommen, und nackt
kehre ich dahin zurück. Der Herr hat gegeben und der Herr hat genommen, der Name des
Herrn sei gepriesen!›» (Hi 1,21 ELB).
Da tritt Satan ein weiteres Mal vor Gott und behauptet, Hiob verfluche Gott nicht, weil er
sich noch bester Gesundheit erfreue. Dann zerstört Satan sogar seine Gesundheit, indem
er eine schlimme, äusserst schmerzhafte Krankheit mit Geschwüren am ganzen Körper
Hiobs von diesem Besitz ergreifen lässt.
Die Nachrichten von den Katastrophen, die Hiob in kurzer Folge ereilen, werden ihm jeweils
von einem seiner Knechte, dem einzigen Überlebenden der jeweiligen Katastrophe, über-
bracht. In Anlehnung an diese Ereignisse bezeichnen im heutigen Sprachgebrauch die Be-
griffe «Hiobsnachricht» oder «Hiobsbotschaft» eine schlimme Unglücksnachricht, wie den
plötzlichen Tod eines Angehörigen oder engen Freundes.
Während Hiobs Freunde Sünde als Grund für seine vermeintliche Bestrafung vermuten,
beteuert Hiob seine Unschuld und seine Treue zu Gott. Die Auseinandersetzungen mit
seinen «Freunden» werden ausführlich geschildert. Gott hatte Satan erlaubt, Hiob in allen
Bereichen zuzusetzen, nur sein Leben musste er verschonen. Nachdem ihm seine Güter,
seine Familie und Gesundheit genommen worden sind, gehen die Angriffe weiter, und Satan
gebraucht die drei «Freunde» Hiobs, um ihm in religiöser Weise zuzusetzen. Sie werfen ihm
vor, ein heimlicher Sünder zu sein und dass Gott ihn deswegen bestrafe. Nachdem die drei
Männer aufgehört haben, Hiob zu antworten, erscheint ein Mann namens Elihu (Hi 32 LUT),
worauf Hiob dem Herrn antwortet, dass er vom Hörensagen nur von ihm gehört, ihn jetzt
aber geschaut habe (Hi 42,5 LUT).
Weil Hiob in all seinem Leid, seiner Armut und seiner Trauer seinem Gott dennoch die Treue
hielt und ihn nicht verfluchte, wie seine Ehefrau es ihm nahegelegt hatte, und weil er spä-
ter auf die Belehrungen Gottes mit grosser Demut reagiert, erlöst Gott ihn schliesslich von
der Krankheit und segnet sein weiteres langes Leben damit, dass er Hiob das Doppelte sei-
nes früheren Besitzes erwerben lässt. Auch bekommt Hiob sieben neue Söhne und drei
Töchter – wie vor seinen Unglücksschlägen.
in Vergessenheit geraten ist: Zum Schmerz gehört auch das Leiden, und die Gebärdensprache des Leidens ist vielleicht nur in Nuancen von der des
Schmerzes zu unterscheiden – wenn überhaupt. Schmerzverhalten signalisiert Leiden. Leiden bereitet Schmerzen, kann aber nicht mit pathogeneti-
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schen Konstrukten der physiologischen Schmerzwahrnehmung (Nozizeption) erklärt werden. Dazu eine «Fallgeschichte» aus einer anderen Zeit: Hiob ist der Protagonist einer Leidensgeschichte, die noch keine Trennung von Schmerz und Leiden kennt. Sein Schmerz beziehungsweise sein Schmerzverhalten geht bekanntlich auf eine Wette Gottes mit dessen Widersacher Satan zurück. Satan will beweisen, dass Hiobs Frömmigkeit sich nur auf Besitz und Gesundheit gründet und nicht etwa Ausdruck einer grunddemütigen Einstellung ist. Satan bekommt von Gott freie Hand ihm alles zu nehmen und ihm so unendlichen Schmerz zuzufügen (vgl. Kasten 2). Heutzutage gehen wir davon aus, dass es neben den in der Medizin gut bekannten Schmerzen und den dazugehörenden Verhaltensweisen (Zahn-, Fraktur-, Tumorschmerzen etc.) auch Verhaltensweisen gibt, die einerseits irgendwie mit Schmerz in Zusammenhang stehen, oder zumindest natürlichen Schmerz suggerieren und andererseits nur vor dem Hintergrund kultureller Normen zu verstehen sind. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine Redewendung, die zeigt, dass solche Vorstellungen schon seit langer Zeit Gültigkeit beanspruchen können: «Ein Indianer kennt keinen Schmerz!» Die Redewendung von den schmerzlosen Indianern deutet in unserem Themenzusammenhang darauf hin, dass es offenbar Kulturträger gibt, die trotz medizinisch zu erwartender, also natürlicher Schmerzen keinen Schmerz zeigen! Eine nähere Beschäftigung mit den Quellen dieser Redewendung offenbart allerdings zutiefst rassistische Abgründe, die heute keiner mehr ahnt. Die in Nordamerika zu Zeiten der grossen Aneignung des Landes durch den weissen Mann entstandene Mär vom schmerzunempfindlichen Indianer war eine von dem seinerzeit namhaften nordamerikanischen Neurologen (Silas Weir Mitchell, MD) gelieferte Rechtfertigung für den weissen Mann, die «schmerzunempfindlichen Indianer» auf brutale Weise
zu vernichten. In ganz ähnlicher Weise galten schwarze Sklaven in den Südstaaten der USA ebenfalls als schmerzunempfindlich, was brutale Formen der Erniedrigung und Züchtigung erlaubte. Das Problem ist keinesfalls auf Nordamerika beschränkt. Die Menschenversuche während des Nationalsozialismus in Deutschland und die bis in die jüngste Vergangenheit reichenden Beispiele von Folter an einem der zahlreichen Kriegsschauplätze unserer Erde zeigen, dass es immer noch gesellschaftliche beziehungsweise politische Bedingungen gibt, die es erlauben, physischen und (!) seelischen Schmerz zuzufügen. Die Bereitschaft zu solchem Verhalten bei Menschen verschiedenster Herkunft und Bildung wurde schon vor Jahrzehnten von Stanley Milgram5 experimentell als anthropologische Konstante mit hohem Verbreitungsgrad nachgewiesen und jüngst in einer Wiederauflage der Experimente bestätigt. Interessanterweise gibt es kein im Sprachgebrauch bekanntes diffamierendes Gegenstück zu der oben genannten Redewendung vom schmerzresistenten Indianer. Also etwa die Redewendung: «Weisse klagen ständig über Schmerzen.» Interessanterweise galt Schmerzempfindlichkeit oder Empfindsamkeit gerade zur Zeit der Enteignung der Indianer Nordamerikas als Ausweis hoher Entwicklung und Überlegenheit gegenüber den «Wilden». Ein Beleg für solche Ansichten ist das sarkastische Märchen von der Prinzessin auf der Erbse6. Auch dieses
Märchen hat bezeichnenderweise seine Wurzeln im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Für den aufgeklärten und in der Vervollkommnung der menschlichen Natur am weitesten vorangekommenen Abendländer schrie schon der geringste Schmerz nach Linderung. Man lebte in der Vorstellung, dass hohe Schmerzempfindlichkeit geradezu etwas Besonderes, eine Auszeichnung und Hinweis auf hohe Geburt sei. Der schon erwähnte Neurologe Mitchell schrieb: «Wir haben, vermute ich, eine intensivere Fähigkeit zu leiden entwickelt. Der Wilde empfindet Schmerz nicht wie wir.» Seither ist offenbar ein tief greifender Wandel in der Legitimation der Herrschenden eingetreten: Es scheint inzwischen – und im krassen Gegensatz zu Auffassungen des 19. Jahrhunderts – jetzt ein in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitetes Gefühl zu geben, dass es «Kulturträger», «Volksangehörige», «Staatsangehörige», «Ausländer» oder gar «Religionsangehörige» gibt, die im Gegensatz zu den zitierten Indianern zuviel (!) Schmerz zeigen, obwohl sie doch, der historische Vergleich sei in seiner real invertierten Form erlaubt, eher den «Wilden» als den Einheimischen gleichen. Nicht selten wird heute sogar unterstellt, dass sie sogar dann noch Schmerzen zeigen, wenn medizinisch gar keine Schmerzen mehr vorliegen können. Vor gut 150 Jahren wären diese Menschen noch als besonders kultiviert – Prinzen und Prinzessinnen eben – angesehen worden.
5 Das Milgram-Experiment ist ein erstmals 1961 in New Haven durchgeführtes psychologisches Experiment, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen.
6 Die Prinzessin auf der Erbse ist ein Märchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. Es erschien am 7. April 1837 in einer Ausgabe der Reihe «Märchen, für Kinder erzählt». Durch mündliche Weitergabe gelangte es zwischenzeitlich auch als «Die Erbsenprobe» in Grimms Märchen (nur 5. Auflage von 1843, Nr. 182). Das Märchen handelt von einem Prinzen, der vergeblich eine wahrhaftige Prinzessin zum Heiraten sucht. Während sein Vater bemüht ist, die richtige Frau für ihn zu finden, ist es seiner Mutter gerade recht, dass ihr Sohn keine davon heiraten möchte. Ein Unwetter verschlägt eines Abends ein regennasses Fräulein, das von sich behauptet, eine echte Prinzessin zu sein, an das Schloss seiner Eltern. Der König ist begeistert von dieser jungen Dame und auch der Prinz hat sich auf Anhieb in dieses zauberhafte Wesen verliebt. Nur die Königin ist sich nicht sicher, ob es wirklich eine echte Prinzessin ist. Um ihre Zweifel auszuräumen, bedient sich die alte Königin heimlich folgender List: Sie legt eine Erbse auf den Boden der Bettstelle, worauf sie zwanzig Matratzen und zwanzig Eiderdaunendecken legt. Als sich die zarte Prinzessin am nächsten Morgen darüber beklagt, schlecht – weil auf etwas Hartem – geschlafen zu haben, ist der Beweis erbracht: So feinfühlig kann nur eine wahre Prinzessin sein; einer Heirat steht daher nichts mehr im Weg. So wie auch in seinem Märchen «Des Kaisers neue Kleider» mokiert sich Andersen mit der «Prinzessin auf der Erbse» über die Überempfindlichkeit der Hochwohlgeborenen, die Beleg für hohe Geburt und Überlegenheit als Herrschaftslegitimation sein soll.
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Keine Frührente für Hiob!
Solche Veränderungen im Weltbild wären, für sich genommen, noch kein Grund zu besonderer Besorgnis oder gar Aufregung. Der brisante Unterton in der Diskussion solcher Verhaltensänderungen hängt ganz entscheidend mit den finanziellen Folgen für die sich kulturell, völkisch, national, bodenständig und religiös anders verstehende Solidargemeinschaft zusammen, die sich zudem als tonangebend – also gesetzgeberisch – versteht. Diese einheimische Kultur konstatiert mit dem mehr oder minder lautstark vorgetragenen Befremden der Eingeborenen das normabweichende Verhalten der anderen Kulturträger und möchte derart überformtes Verhalten nicht als invalidisierend begreifen. Hiob hätte heute wohl keine Chance, in den Genuss einer Frührente zu kommen, denn sein Schmerz würde als somatoform ohne objektivierbares organisches Korrelat abgetan werden. Das naturwissenschaftliche Primat des
Schmerzverständnisses und die nachträgliche Neuerfindung und Übereignung des seelischen Schmerzes an die Psychiatrie als «somatoform» haben dazu geführt, dass eine somatoforme Schmerzstörung in den Augen zumal der somatischen Ärzte – und der Sozialversicherungsverwaltung und -rechtsprechung – eine gehobene Art der Darstellung des eingebildeten Kranken («Le malade imaginaire» von Molière) ist, dem bekanntlich gerade von ärztlicher Seite nicht (!) geholfen werden kann, weil er gar nicht krank ist. Die hier angedeutete Kontroverse entzündet sich also an den schon dargestellten Beispielen, dass Schmerz bei Repräsentanten mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund möglicherweise unterschiedlich empfunden und – vor allen Dingen – hinsichtlich seiner Bedeutung für die Zumutbarkeit von Erwerbstätigkeit unterschiedlich bewertet wird. Die Kontroverse läuft im Kern auf die Frage hinaus, ob ein nur kulturbe-
dingtes Schmerzverhalten überhaupt
ein versichertes Risiko darstellen
sollte. In einer homogenen Kultur
erübrigt sich der Hinweis auf ein kul-
turbedingtes Schmerzverhalten. Be-
zogen auf die Schweiz lautet eine
Frage also: Konnte die schweizerische
Sozialgesetzgebung jemals davon aus-
gehen, kulturell homogen zu sein?
Diese und weitere interessante Fra-
gen beantwortet Teil 2 diese Beitrags
im kommenden Heft.
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Dr. med. Rüdiger Brinkmann Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
Ärztlicher Leiter der MEDAS Bern Effingerstrasse 29, 3008 Bern
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