Transkript
Fortbildung
Psychologische Nothilfe nach Unglücken
Engagierte mitmenschliche Zuwendung und Unterstützung stehen ganz im Vordergrund
Ulrich Schnyder
Kollektive Traumatisierungen kamen
Beteiligten müssen obligatorisch an der Sitzung teilneh-
bis vor relativ kurzer Zeit hauptsäch-
men. Nach einer Einführung werden Informationen über den Ablauf der Ereignisse zusammengetragen (fact phase).
lich bei Kriegen, grossen Stadtbränden,
Später werden die Gruppenmitglieder aufgefordert, ihre ersten Gedanken (thought phase) und emotionalen Reak-
Krankheitsepidemien oder Naturkatas-
tionen (reaction phase) mitzuteilen. In der «symptom phase» werden spezifische Stresssymptome angespro-
trophen vor. Mit Beginn des Industrie-
chen. Anschliessend informieren die Gruppenleiter über Stressreaktionen, die nach solchen Ereignissen häufig
beobachtet werden, und wie damit umgegangen werden
zeitalters haben wir auch mit technischen kann (teaching phase). Die generelle Botschaft besteht
Katastrophen zu tun: Zugunglücke,
darin, dass die beobachteten Symptome «normale» Reaktionen auf ein «abnormales» Ereignis darstellen. Zuletzt
Explosionen und Brände in Industrie-
wird zusammengefasst und festgelegt, ob weitere Massnahmen erforderlich sind (relating phase).
anlagen, Flugzeugabstürze. In jüngster
Dieses Modell ist heute weltweit etabliert und bei zivilen Rettungshelfern wie auch im Militär sehr beliebt. Die
Zeit sind immer wieder grosse Kollek-
Intervention wird von den meisten Betroffenen subjektiv als hilfreich erlebt. Der Nachweis einer präventiven
tive von Terroranschlägen betroffen.
Wirkung konnte allerdings bis heute nicht erbracht werden. In einigen Studien wurden nach Debriefings sogar
Die psychologische Nothilfe leistet in
höhere PTSD-Inzidenzen als bei Vergleichsgruppen ohne Debriefing beobachtet (1, 5). Zwei Metaanalysen kom-
solchen Fällen zunächst ganz einfach
men zum Schluss, dass der routinemässige Einsatz von Debriefings im besten Fall einen «neutralen Effekt» hat
mitmenschlichen Beistand, sie hat aber
(10, 14). Eine Untersuchung an 1050 US-Soldaten ergab bei keinem der untersuchten Verlaufsmasse signifikante
auch die Prävention posttraumatischer
Unterschiede zwischen CISD, reiner Psychoedukation und einer Kontrollgruppe, die keine Intervention erhal-
Belastungsstörungen zum Ziel.
ten hatte (8). In einer ersten «dismantling study» wurden die CISD-Komponenten «educational debriefing» und
«emotional debriefing» verglichen. Nach sechs Monaten
war die PTSD-Symptomatik bei beiden Gruppen ebenso
zurückgegangen wie in der Vergleichsgruppe ohne Inter-
«Critical Incidence Stress Debriefing»
vention, nur dass die Probanden in der «emotional
D ie Methode des «Critical Incidence Stress Debriefing» (CISD) wurde zu Beginn der Achtzigerjahre eingeführt (9), um nach kollektiven Traumatisierungen
debriefing»-Gruppe signifikant länger brauchten, bis sie sich erholt hatten (13). Zusammengefasst lässt sich also Folgendes sagen:
wie Naturkatastrophen oder von Menschen verursachten Debriefing wird von allen Beteiligten in der Regel sehr
Unglücken grossen Ausmasses insbesondere bei semi- geschätzt. Ein präventiver Effekt von Debriefings und
professionellen und professionellen Helfern (Polizisten, ähnlichen «one-off»-Interventionen bei unselektierten
Soldaten, Feuerwehrleuten usw.) die Entwicklung einer Populationen konnte jedoch bis heute nicht nachgewie-
posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) zu verhü- sen werden, in einzelnen Studien wurde sogar über
ten. Die Intervention besteht aus einer Gruppensitzung negative Effekte berichtet. Der routinemässige Einsatz
von ein bis drei Stunden Dauer, die innerhalb von 24 bis von Debriefings im Sinne des CISD muss deshalb heute
6 72 Stunden nach dem Ereignis stattfinden soll. Alle als obsolet betrachtet werden.
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Nahe einer Menschenmenge explodierendes Flugzeug (Ramstein, 1988; Quelle: dpa-Bildarchiv)
Wenn nicht Debriefing: was dann?
Künftige frühe psychosoziale Interventionen sollten auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz konzipiert, getestet und aufgrund der Erfahrungen im Feld laufend angepasst und weiterentwickelt werden (15). Einer der Gründe, weshalb sich Debriefings bei unselektierten Traumapopulationen als wirkungslos erwiesen, liegt möglicherweise darin, dass auch bei noch so gravierenden Traumata die Mehrheit der Betroffenen kein PTSD entwickelt (2). Ausserdem ist der natürliche Verlauf der Stresssymptomatik nach traumatischen Ereignissen nicht in allen Fällen degressiv, eine nicht zu vernachlässigende Minderheit zeigt eher atypische Verläufe (11). Deshalb ist es nicht sinnvoll, grosse Kollektive gesunder Betroffener psychologisch zu «behandeln». Wenn man sich hingegen auf Patienten mit einer akuten Belastungsstörung konzentriert, dann lässt sich bei den meisten mit einer kognitiven Verhaltenstherapie die Entwicklung eines PTSD verhindern (4). Einige neurobiologische Befunde weisen darauf hin, dass die Weichen in Richtung PTSD früh gestellt werden. Beispielsweise zeigten Unfallpatienten, die später ein PTSD entwickelten, kurz nach dem Unfall einen signifikant erhöhten Ruhepuls (12). PTSD scheint auch eher aufzutreten, wenn die Betroffenen unmittelbar posttraumatisch ungenügend Cortisol freisetzen (6). Der stärkste PTSD-Prädiktor, über alle Traumaarten hinweg, ist aber eine ungenügende soziale Unterstützung
Tabelle:
Prinzipien der psychologischen Ersten Hilfe
■ Beruhigung und Trost ■ Praktische Hilfe anbieten ■ Die Abnormalität der traumatischen Erfahrung benennen ■ Die «Normalität» der (wie auch immer gearteten) post-
traumatischen Reaktion respektieren ■ Die Reaktion nicht pathologisieren ■ Nicht mit Informationen überwältigen ■ Ein Narrativ anbieten, das auf die individuelle Erfahrung
abgestimmt ist ■ Unterstützung anbieten, die sich in bereits existierende
Unterstützungsnetzwerke einfügt
im Anschluss an die traumatische Erfahrung (3). Eine engagierte, mitmenschliche Zuwendung und Unterstützung sollte deshalb bei jeder psychologischen Nothilfe ganz im Vordergrund stehen.
Evidenzbasierte psychologische Nothilfe
Wir wissen noch viel zu wenig über die psychologischen und neurobiologischen Auswirkungen traumatischer Ereignisse. Aufgrund der momentan verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz lassen sich zum heutigen Zeitpunkt aber doch bereits einige Empfehlungen festhalten, die in
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die Entwicklung einer wissenschaftlich fundierten,
psychologischen Nothilfe einfliessen sollten (7, 15):
■ Psychologische Nothilfe nach traumatischen Ereignis-
sen muss wahrscheinlich nicht unbedingt so früh wie
möglich einsetzen. Unter Umständen ist es ebenso sinn-
voll, die Betroffenen zunächst einmal nach Hause zu
schicken, damit sie essen, trinken und schlafen können.
■ Psychologische Nothilfe sollte von einer zuversichtli-
chen Erwartungshaltung getragen sein. Die Betroffenen
müssen wissen, dass sie sich mit grosser Wahrschein-
lichkeit von den Folgen ihrer Erlebnisse gut erholen
werden.
■ Psychologische Nothilfe sollte nicht zu sehr auf Emotio-
nen ausgerichtet sein, sondern in erster Linie die Ent-
spannung und eine Reduktion der psycho-physiologi-
schen Stresssymptomatik fördern.
■ Psychologische Nothilfe sollte die Rahmenbedingungen
optimieren, die eine rasche Erholung ermöglichen.
■ Bei Vorliegen psychischer Störungen im Sinne einer aku-
ten Belastungsstörung können kognitiv-verhaltensori-
entierte Kurztherapien zur PTSD-Prävention beitragen.
■ Psychologische Nothilfe sollte nicht von aussen «verord-
net» werden, sondern sich vermehrt an den momenta-
nen individuellen Bedürfnissen der Betroffenen orien-
tieren und dabei respektieren, dass viele Betroffene
nicht mit professionellen Helfern, sondern, wenn über-
haupt, lieber mit Kollegen oder Angehörigen sprechen
möchten.
■ Und schliesslich sollten diese Interventionen phasenge-
recht und entsprechend den Prinzipien der psychologi-
schen Ersten Hilfe eingesetzt werden (Tabelle).
■
Prof. Dr. med. Ulrich Schnyder Klinikdirektor Psychiatrische Poliklinik
Universitätsspital Culmannstrasse 8
8091 Zürich
Interessenkonflikte: keine
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