Transkript
Fortbildung
Frühzeitige Interventionen nach Notfällen
Eine kritische Stellungnahme
Johanna Hersberger
Die in der Literatur am häufigsten beschriebene und als präventiv wirksam propagierte Intervention ist das psychologische Debriefing (PD). Es handelt sich dabei um eine Gruppenintervention, die in sieben Phasen einem leicht zu lernenden Protokoll folgt. Nachdem das PD zuerst bei Einsatzkräften angewandt worden war, etablierte es sich auch bald als Krisenintervention bei Opfern und Angehörigen. So hat man beispielsweise noch vor einigen Jahren nach einem Suizid, durch Sturz von einem Dach, das PD für alle Arten von Gruppierungen wie Einsatzkräfte, Angehörige und Augenzeugen durchgeführt. Inzwischen gibt es etliche Studien, die darauf hinweisen, dass diese Art von «Giesskannenprinzip» so wenig sinnvoll ist wie die Verschreibung von Antibiotikum gegen jeden Schnupfen.
Im Herbst 2007 wurde in der Alltagspresse ein weiterer Übersichtsartikel zum PD zitiert. Leider wurde dabei übersehen, dass der Inhalt dieser Studien bereits seit Ende der Neunzigerjahre bekannt ist. Der Bundesrat beauftragte deshalb schon früh das Nationale Netzwerk Psychologische Nothilfe (NNPN) damit, Einsatzrichtlinien basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen
für die Schweiz auszuarbeiten. Diese Richtlinien liegen längst vor. Von einem psychologischen Debriefing ist darin ebenso wenig die Rede wie von Akuttherapien vor Ort. Betrachtet man die wenigen kontrollierten Studien etwas genauer, deuten diese entweder auf ■ keinen Unterschied zwischen den Untersuchungs-
gruppen (Rose et al. 1999; Conlon et al. 1999) ■ oder aber auf eine Zunahme der Erkrankungsfälle
durch psychologisches Debriefing hin (Bisson et al. 1997; Carlier und Gersons 1997). Es zeigte sich, dass zuvor von einer akuten Belastungsreaktion nicht betroffene Personen durch das psychologische Debriefing traumatisiert oder durch die Aktualisierung biografischer Vorbelastungen retraumatisiert werden können (Wiederaufleben einer älteren belastenden Situation). Ebenfalls wurden Nebeneffekte wie Schuldgefühle («Ich bin halt unempfindsam») und Verantwortungsansprüche («Ich habe zu wenig mitgeholfen») und so weiter festgestellt (Wagner et al. 1999).
Strukturierende Gruppengespräche beugen einer PTBS nicht vor
Einer der Gründe für diese Resultate wird darin gesehen, dass das PD ursprünglich als strukturierende Einsatznachbesprechung konzipiert wurde und in eine Kultur weiterer stresspräventiver Massnahmen eingebaut war. Ohne diesen Rahmen erscheint ein PD als übergestülpte, nicht sinnvolle Massnahme. Nach dem bisherigen Stand der Forschung scheinen strukturierende Gruppen- oder Einzelgespräche bei Einsatzkräften innert Tagen nach dem Ereignis für die Teambildung, das gegenseitige Verständnis und die soziale Unterstützung sinnvoll zu sein, sie dienen aber nicht der Prävention einer posttraumatischen Belastungsstörung (Mitchell 1998; Steil R., Mitte K. und Nachtigall C. 2001; Vetter 2001). Jeglicher Rahmen fehlt insbesondere bei Opfern, die häufig zufällig zur gleichen Zeit am gleichen Ort dem gleichen Ereignis ausgesetzt waren, was nicht für eine sinnvolle Gruppenbildung spricht und sich als klar kontraindiziert erwies. In Bezug auf Opfer scheint eine kognitiv-behaviorale Intervention, die nicht sofort, sondern etwa ein bis vier Wochen nach dem traumatischen Ereignis einsetzt, jedoch erfolgversprechender zu sein (Nyberg, Stieglitz, Angenendt; Nowotny-Behrens und Berger 2001; Vetter 2001; Foa et al. 2002; Michael, Lajtmann und Margraf 2005).
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Psychiatrie 1•2008
Fortbildung
Im Zentrum stehen die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen
Es besteht inzwischen in Fachkreisen Konsens bezüglich eines pragmatischen Vorgehens, das die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen im Fokus hat und sich in der akuten Phase als hilfreich erwies, um deren Erholung zu begünstigen: 1. individuelles Bedürfnis der Betroffenen abklären 2. Sicherheit vermitteln 3. Sofortmassnahmen zur Unterstützung einleiten
(Wärme, Nahrung, usw.) 4. Handlungskontrolle zurückgeben 5. Informationsvermittlung und Aufklärung 6. soziales Netz aktivieren, eventuell Familien
zusammenführen 7. Copingplan erstellen.
Gegenwärtig wird weniger den präventiven Faktoren als den für die Triage oder für den «Screen and treat»-Ansatz grundlegenden Risikofaktoren Beachtung geschenkt. «Screen and treat» bedeutet etwa «schaue und handle» oder, um beim Bild der Giesskanne zu bleiben: «Schaue, wer wirklich etwas braucht, und giesse dann gezielt so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich.» Um herauszufinden, wer was braucht, werden Ereignis-, Risikound Schutzfaktoren unterschieden. Während das Ausmass der permanenten Risikofaktoren und die Ausprägung der Schutzfaktoren weniger starken Schwankungen unterliegen, wechseln die akuten Risikofaktoren und die Ereignisfaktoren von Fall zu Fall. Um die Giesskanne gezielt einsetzen zu können, ist es deshalb notwendig, das Ausmass der Ereignis- und Risikofaktoren zu erfassen sowie die Schutzfaktoren zu aktivieren. In einer eher fehlerorientierten Gesellschaft kann nicht genug darauf hingewiesen werden, dass nicht nur
Nicht nur nach krankmachenden
Risikofaktoren suchen, sondern – ganz
wichtig – auch die gesunderhaltenden
Schutzfaktoren reaktivieren!
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die Suche nach möglicherweise krankmachenden Risikofaktoren, sondern auch die Reaktivierung der gesunderhaltenden Schutzfaktoren in der psychologischen Nothilfe von grosser Bedeutung sind. Es sind nicht zuletzt die Schutzfaktoren, welche mithelfen, das schwerwiegende Erlebnis als einen Bestandteil der persönlichen Lebensgeschichte einzuordnen und dadurch abschliessen zu können. So hat sich die psychologische Nothilfe in den letzten Jahren vom relativ breiten Giesskannenprinzip des psychologischen Debriefings verabschiedet und zu einer evidenzbasierten Disziplin mit situationsangepassten
Interventionen gemausert. In einer sich in Entwicklung befindenden Disziplin muss deshalb nach wie vor sowohl die Qualitätssicherung durch Standardisierungen in Ausbildung und Einsatzrichtlinien verbessert als auch die konstruktive Kritik der Wissenschaft berücksichtigt werden. ■
Dr. phil. Johanna Hersberger Fachpsychologin für Psychotherapie FSP
Master in Psychotherapie MAS zert. Notfallpsychologin FSP
Zentrum für psychologische Beratung Gerbergasse 26, 4001 Basel
Interessenkonflikte: keine
Literatur: Bisson JI, Jenkins PL, Alexander J & Banntiser C (1997): A randomised controlled trial of psychological debriefing for victims of acute burn trauma. British Journal of Psychiatry, 171, 78–81. Carlier I.V. & Gersons B.P. (1997): Debriefing of psychically traumatized persons. Ned Tijschr Geneeskd, 141 (24) 1180–1181. Conlon L., Fahy TJ & Conroy R (1999): PTSD in ambulant rta victims: A randomised controlled trial of Debriefing. Journal of Psychosomatic Research, 46 (1), 37–44. Foa E.B., Zoellner L.A. & Feeny N.C. (2002): An evaluation of three brief programs for facilitating recovery. Manuscript submitted for publication Michael T. Lajtman M. & Margraf J. (2005): Frühzeitige psychologische Interventionen nach Traumatisierung. Deutsche Ärzteblatt, 33; A2240–A2243. Michtell J.T. & Everly G.S. (1998): Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen. Zur Prävention psychischer Traumatisierung. Wien: Stumpf und Kossendey. Nyberg E., Stieglitz R.-D., Angenendt J., Nowotny-Behrens U. & Berger M. (2001): Frühintervention bei schwerverletzten stationär behandlungsbedürftigen Arbeitsunfallopfern. Thieme: Psychotraumatologie, www.thieme.de Rose S, Brewin CR, Andrews B & Kirk M (1999): A randomised controlled trial of individual psychological debriefing for victims of violent crime. Psychol Med, 29, 793–799. Rose S., Bisson J. & Wessely S. (2001): Psychological debriefing for preventing post traumatic stress disorder (PTSD). Cochrane Review, www.cochrane.org Steil R., Mitte K. & Nachtigall C. (2001): Ergebnisse einer Metaanalyse zur Effektivität des Psychological Debriefing in der Pävention posttraumatischer Symptomologie. Vortrag auf der 3. Jahrestagung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychtraumatologie. Konstanz. Vetter S (2001): Akute traumatische Stress-Syndrome – wie kann geholfen werden? Psychiatrie, 4; 14–18. Wagner D., Heinrichs M. & Ehlert, U. (1999): Primäre und sekundäre Posttraumatische Belastungsstörung: Untersuchungsbefunde bei Hochrisikopopulationen und Implikationen für die Prävention. Psychomed: Zeitschrift für Psychologie und Medizin, 11/1, 31–39. Wagner D., Heinrichs M., Kerber U., Wingenfeld K., Hellhammer D.H. & Ehlert U. (2002): Wirkfaktoren der Prävention sekundärer posttraumatischer Belastungsstörungen bei Hochrisikopopulationen. In: Maercker A. & Ehlert U. Psychotraumatologie. Göttingen: Hogrefe.
Psychiatrie 1•2008