Transkript
Fortbildung
Benchmarkbildung in der stationären Depressionsbehandlung
Teil 1: Ist schneller auch besser?
E.K. Hermann, R. Häusler, E. Hürlimann, W. Lang und R. Vauth
Ab dem Jahr 2008 werden in der Schweiz
Vorarbeiten laufen, um via DRG
(Diagnostic Related Groups) Kosten-
vergleiche zwischen Kliniken durchzu-
führen. Als zentrale Grösse dient dabei
die Behandlungsdauer. Der Beitrag
geht der Frage nach, wie aussagekräftig
die Behandlungsdauer ist – und ob
Betroffene nicht eher am Behandlungs-
effekt als an deren Dauer Interesse
haben.
Einleitung
Q ualitätsindikatoren zur Einschätzung der Qualität stationärer Behandlung sind recht vielfältig. Beispiele hierfür sind etwa Suizidraten, wie sie Desai, Dausey und Rosenheck (4) beschrieben oder Guideline-/ Leitlinien-Konkordanz in der Versorgung wie adäquate Dosierung und Dauer der Behandlung und deren Auswirkungen auf die Versorgungsqualität, referiert von Charbonneau et al. (3). Aus gesundheitsökonomischer Sicht gerät auch immer wieder die stationäre Verweildauer in den Fokus von Benchmarkprozessen. In der Diskussion um die Dauer und den Preis einer Behandlung werden wichtige Aspekte, welche für die Patienten vorrangig bedeutsam sind (z.B. die Effektivität der Therapie), nicht angesprochen. Die nachstehende Arbeit hat zum Ziel, die Frage der Behandlungsdauer auch im Kontext von Behandlungseffektivität zu diskutieren. Dies wird am Beispiel der Behandlung depressiver Erkrankungen ausgeführt. Grundlage hierfür sind Institutionen, bei denen ein relativ umfassendes Qualitätsmonitoring besteht und so die Grundlagen für einen quantitativen und qualitativen Vergleich gegeben sind.
Für ambulante Bedingungen liegen Kennwerte vor, was von einer Depressionsbehandlung erwartet werden kann. Kontrollierte Studien, die mehrheitlich mit einer Warteliste als Kontrollbedingung arbeiteten, ergaben in einer Einzeltherapie Effekte zwischen 0,13 und 1,03 (11). Haby et al. (11) berechneten in ihrer 2006 publizierten Metaanalyse einen durchschnittlichen Effekt von 0,77 für unterschiedliche Studien über Depressionstherapien, welche alle der kognitiv-behavioralen Richtung angehörten. Es handelt sich hier um Mittelwerte, die aus randomisiert-kontrollierten Studien (RCT) resultierten und Einzel- und Gruppentherapie zum Gegenstand hatten. Mit einer durchschnittlichen Effektstärke von 0,77 bestätigen sie dabei frühere Werte vorangegangener Metaanalysen wie der 1998 von Gloaguen et al. (5), die eine Effektstärke von 0,82 errechneten.
Patientenkollektive
Die Studie vergleicht eigene mit Daten von Behandlungen in Deutschland, wo zwei Untersuchungen existieren. Eine erste bezieht sich auf die Behandlungsergebnisse depressiv Kranker in der stationären Routineversorgung in Baden-Württemberg (7, 8). Die Zahlen stammen aus den Jahren 1995 und 1996 und umfassen 2651 Patienten. Das zweite Patientenkollektiv entstammt der Klinik Bad Pyrmont (1) und umfasst 229 stationär behandelte Patienten; diese Zahlen wurden von Borgart und Meermann 2004 publiziert. Die eigenen Daten aus der Schweiz stammen aus der Psychiatrischen Klinik Meissenberg (PKM). Die Psychiatrische Klinik Meissenberg hat vor vier Jahren einen störungsspezifischen Behandlungsansatz implementiert und in der Zwischenzeit ein darauf abgestimmtes Qualitätssicherungssystem aufgebaut (10). Die Daten beziehen sich auf 148 Patienten aus dem Jahr 2005.
Ergebnisse
Behandlungsdauer und -ergebnisse im Vergleich Abbildung 1 zeigt die Behandlungsdauer der drei referierten Populationen in Abhängigkeit von der Diagnose. Die Behandlungsdauer in Bad Pyrmont ist deutlich kürzer als zum Beispiel die Behandlung in Kliniken in Baden-Württemberg und sehr viel kürzer als die Behandlungen in der Klinik Meissenberg (PKM) in der Schweiz. Von daher wäre man geneigt, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Klinik in Bad Pyrmont für die Behand-
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lung depressiver Störungen gewählt werden muss. Sicher müsste sie von den Krankenkassen favorisiert werden, weist sie doch die kürzeste Verweildauer auf. Aus der Sicht betroffener Patienten und auch – wie neuere Untersuchungen von Simon et al. (15) zeigen – der gesundheitsökonomischen Kosten nach einem stationären Aufenthalt könnte jedoch eine andere Grösse ebenfalls interessieren: die Frage des Behandlungserfolgs.
Tage
Behandlungsdauer in Tagen 80
70 68,8
60 62,2
50
40 42,5 44,8 30
20
10
0 Bad Pyrmont
Baden-Württemberg
74,3 64,1
Klinik Meissenberg 2005
F32 (einmalige depressive Episode)
F33 (rezidivierende depressive Episode)
Abbildung 1: Behandlungsdauer in Abhängigkeit von der Diagnose
Abbildung 2 zeigt die Veränderung der Schwere der Depression vom Eintritt bis zum Austritt, den Effekt der Behandlung also. Hier zeigt sich, dass die bezüglich Behandlungdauer eine Spitzenposition einnehmende Klinik Bad Pyrmont insofern neu bewertet werden muss, als die von ihr behandelte Klientel bei Behandlungsbeginn offensichtlich weniger hohe Depressionswerte aufwies als die Patienten der Psychiatrischen Kliniken in Baden-Württemberg und die der Psychiatrischen Klinik Meissenberg. Diese Patienten zeigen eine deutlich stärkere Beeinträchtigung bei Eintritt in die Klinik. Als Mass für die Darstellung eines Behandlungseffektes ist die Kennzahl der Effektstärke geeignet.
Behandlungseffekte anhand des BDI 30
25
20 15 19,1
26,6
10 11,4
5
10,9
0 Bad Pyrmont
Baden-Württemberg
27,3
10,6 Klinik Meissenberg 2005
Eintritt
Austritt
Abbildung 2: Behandlungseffekte
Effektstärken statt Behandlungsdauer als Kennwert
Sollen die verschiedenen Institutionen respektive Regionen miteinander verglichen werden, so ist es zweifellos notwendig, Behandlungsdauer, Schwere der Erkrankung und auch Behandlungsergebnis zu berücksichtigen; eine Forderung, die Sitta et al. (16) 2006 postulierten.
Dies kann mittels verschiedener Kennzahlen erfolgen: ■ Wie lange dauert es, um eine Effektstärke von 1,0 zu
erreichen? ■ Welcher Behandlungseffekt lässt sich in 40 Behand-
lungstagen (annähernd Behandlungsdauer in Bad Pyrmont) erreichen? ■ Welche Effektstärke resultiert pro Behandlungswoche?
Die nachfolgenden Abbildungen geben über diese Fragen Aufschluss.
70
60 58,2
50 55,2 40 30
20 10 0
Bad Pyrmont
45,9 41,4
43,0 37,7
Baden-Württemberg Klinik Meissenberg 2005
F32 (einmalige depressive Episode)
F33 (rezidivierende depressive Episode)
Abbildung 3: Behandlungsdauer bis zur Effektstärke 1,0 (Zahlenangaben entsprechen Tagen)
Abbildung 3 zeigt, wie lange es dauern würde, um eine Effektstärke von 1,0 zu erreichen. Hier dreht sich die Rangliste um. Für erstmalige depressive Episoden bräuchte die PKM 37,7 Tage, das Land Baden-Württemberg 41,4 Tage. Mit deutlichem Abstand folgt die Klinik Bad Pyrmont mit 55,2 Tagen. Bei rezidivierenden depressiven Störungen würde die Klinik Meissenberg 43,0 Tage, Baden-Württemberg 45,9 und die Klinik Bad Pyrmont 58,2 Tage brauchen.
BDI-Reduktion 12
10
8 6 7,2 6,9
4
2
0 Bad Pyrmont
10,1 9,1
10,4 9,0
Baden-Württemberg Klinik Meissenberg 2005
F32 (einmalige depressive Episode)
F33 (rezidivierende depressive Episode)
Abbildung 4: Effekt in 40 Tagen (Reduktion BDI-Rohwerte)
Für Patienten relevant ist wohl auch die Frage, welchen Effekt sie in 40 Behandlungstagen erwarten können. Auch hier kehrt sich die Rangliste, bezogen auf blosse Verweildauer, um. Die bezüglich Behandlungsdauer an der Spitze liegende Klinik lässt in vergleichbarer Zeit den geringsten Effekt erwarten. Abbildung 4 stellt den möglichen Effekt in 40 Tagen dar, ausgedrückt in BDI-Rohwert-Punkten.
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exemplarisch dargestellt an der Klientel
Tabelle:
von Bad Pyrmont und der Psychiatrischen
Behandlungsergebnis, ausgedrückt als Effektstärke pro Woche
Klinik Meissenberg. Für diese beiden Klini-
Bad Pyrmont
einmalige depressive Episode rezidivierende depressive Episode
0,13 0,12
BadenWürttemberg
0,17
0,15
PKM
0,19 0,16
ken liegen Referenzwerte sowohl bezüglich der Schwere der Eintrittssymptomatik, der Behandlungsdauer und des Behandlungseffektes vor. Eine allein an der Behandlungsdauer orientierte Benchmarkbil-
dung würde nicht berücksichtigen, dass die
Klientel einer zweiten Institution – hier der
Die Tabelle zeigt das Behandlungsergebnis in dem Sinne, Klinik Meissenberg – eine deutlich stärkere Reduktion
dass erkennbar wird, wie stark der Behandlungseffekt der Symptombelastung erfährt als jene der Referenzkli-
pro Woche ausfällt. Vorerst zeigt sich, dass in allen drei nik. So wird eine kurze respektive lange Behandlungs-
Populationen rezidivierende depressive Störungen den dauer in jener Klinik in einen neuen Kontext gestellt.
kleineren Effekt aufweisen als einmalige depressive Epi- Ein Vergleich mit publizierten Kennwerten ergibt, dass
soden. Bezüglich Kliniken liegt der stärkste Effekt bei in der stationären Depressionsbehandlung die Effekt-
einmaligen depressiven Episoden in der PKM annähernd stärken grösser sind als die publizierten Zahlen der Me-
50 Prozent über dem des tiefsten Referenzwertes taanalyse von Haby et al. (11). Bekanntlich referieren sie
(0,19 vs. 0,13). Bei rezidivierenden depressiven Episoden Effektstärken von 0,77 für eine ambulante kognitiv-be-
liegt der grösste Effekt immer noch 33 Prozent über dem haviorale Therapie. Dieser Wert ist insofern konservativ,
tiefsten (0,16 vs. 0.12).
als er gegenüber einer Warteliste, das heisst also unter
kontrollierten Bedingungen erhoben wurde. Die Zahlen
Diskussion
mit Effektstärken von 1,5 respektive 1,7, wie sie für
Der Vergleich zwischen den Kliniken wird allenfalls da- Baden-Württemberg respektive die Klinik Meissenberg
durch erschwert, dass das Sample der PKM ausschliess- gezeigt wurden, sind in dem Sinne methodisch weniger
lich Frauen umfasst, wohingegen in den anderen Stich- valide, als sie eben nicht gegenüber einer Kontroll-
proben auch Männer enthalten sind. Allerdings gibt es in gruppe gewonnen wurden. Stationäre Behandlungen
der Literatur kaum Hinweise auf eine andere Reagibilität sind auch aus einem anderen Grund nicht vergleichbar
des Geschlechtes auf Interventionen; Geschlechtsunter- mit den referierten Studien. Währenddem kontrollierte
schiede sind vielmehr für die Prävalenz zu beachten. Die Studien eine Therapieform untersuchen, wird unter kli-
PKM stellt eine Klinik dar, die ein überregionales Ein- nischen Bedingungen im stationären Setting ein «Multi-
zugsgebiet hat. Von daher ist davon auszugehen, dass sie pack» verabreicht, sodass auch bei einer Ausrichtung
wohl auch eine gewisse «Negativselektion», das heisst gemäss einem Paradigma unterschiedliche Wirkfaktoren
schwerer kranke PatientInnen, anzieht, die zum Teil in zum Tragen kommen.
anderen Institutionen vor Ort schon behandelt worden Wird in der Diskussion bezüglich Wirksamkeit und Ef-
sind. Dies könnte einer der Gründe sein, weshalb die fektivität von Behandlungen der vorstehend beschrie-
Eintrittssymptomatik der PatientInnen in der PKM als benen Differenzierung zum Beispiel im Sinne einer Kor-
schwerer imponiert. Umgekehrt scheint es, dass die erste rektur unter Berücksichtigung des Ausgangswertes
Stichprobe für die Klinik Bad Pyrmont eher eine Positiv- (ausgedrückt als BDI-Rohwertpunkte) nicht Rechnung
selektion darzustellen scheint, dort also Patienten Ein- getragen, so hätte dies über kurz oder lang zur Folge,
gang gefunden haben, die diese Klinik aufgrund der dass eine Patientenselektion vorgenommen wird, worun-
leichten depressiven Störung gewählt haben respektive ter dann genau die am schwersten Kranken zu leiden
dort zugewiesen wurden.
hätten.
Benchmarkbildung ist Voraussetzung dafür, Behandlun-
gen in unterschiedlichen Institutionen vergleichen zu Schlussfolgerungen und Ausblick
können. Dabei wird häufig die Behandlungsdauer als Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, die Frage der
Vergleichsgrösse verwendet. Die vorliegenden Ausfüh- Benchmarkbildung von der alleinigen Diskussion bezüg-
rungen haben gezeigt, dass ein alleiniger Vergleich der lich Verweildauer zu lösen und im Kontext weiterer
Behandlungsdauer der Problematik des Behandlungs- Variablen zu diskutieren. Dabei zeigte sich, dass Institu-
effektes, der Schwere der Eintrittssymptomatik und – tionen, welche durch eine kurze Verweildauer ihrer Pa-
daraus abgeleitet – des innerhalb eines umschriebenen tienten imponieren, massgeblich von einer Selektion der
Intervalls erreichbaren Effektes nicht gerecht wird. Wer- Patienten profitieren. Schneller ist somit nicht besser,
den zusätzlich zur Dauer die Behandlungseffekte – aus- schneller ist die Behandlung vor allem deshalb beendet,
gedrückt in BDI-Werten oder Effektstärken – beigezo- weil die Patienten auch weniger krank waren. Wird dar-
gen, so kann sich eine Rangliste umkehren. Dies wurde über hinaus sogar ein Verbesserungsindex gebildet (z.B.
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Dauer bis zum Erreichen einer Effektstärke von 1,0), so
wird die Rangliste neu gruppiert. Die scheinbar Besten
bezüglich kurzer Behandlungsdauer sind dann bezüglich
des erreichten Effektes in gleicher Zeit sogar die
Schlechtesten.
Wird von Versicherern versucht, Patienten ins benach-
barte Ausland zu schicken, weil Behandlungen dort
scheinbar günstiger sind, so wird dem Umstand nicht
Rechnung getragen, dass Patienten, welche sich in der
Schweiz behandeln lassen und solche, die ins Ausland
gehen, sich wohl kaum miteinander vergleichen lassen.
Im Bereich der Rehabehandlungen ist in Deutschland
der Spruch «am Tage Fango, abends Tango» ein geflügel-
tes Wort und charakterisiert die in grossen Kliniken der
Versicherer behandelten Klientel. Schneller und kosten-
günstiger also sind derartige Institutionen häufig deshalb,
weil sie eine relativ gesunde Population anziehen.
Im Sinne eines Ausblicks lässt sich folgern, dass das Ziel,
Kennwerte für die Behandlung psychischer Erkrankun-
gen zu finden, zweifelsohne sinnvoll und zweckmässig
ist. Allerdings sollten dabei die vorstehend andiskutier-
ten methodischen Probleme zwingend berücksichtigt
werden. Um die Sache nicht unnötig zu komplizieren,
wurde die vorstehende Arbeit nicht durch die zusätzliche
Berücksichtigung von Einfach- und Mehrfachdiagnosen
belastet. Auch dieser Aspekt ist bei einer Benchmarkbil-
dung zu berücksichtigen. Eine seriöse Benchmarkbildung
orientiert sich nicht ausschliesslich an der Behandlungs-
dauer und vergleicht nicht Ungleiches miteinander.
Sinnvoll wäre es, anstelle der Behandlungsdauer alleine
einen Index zu definieren, in den auch das Behandlungs-
ergebnis Eingang findet.
Dieser Index könnte so aussehen, dass der Quotient von
Behandlungseffekt durch Behandlungsdauer gewählt
wird. Dieser Wert sagt mehr über die Qualität einer Be-
handlung aus als isolierte Grössen wie Dauer der Be-
handlung oder Zufriedenheit damit!
■
Für die Autoren: PD Dr. med. Ernst Hermann Privatdozent für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel Psychiatrische Klinik Meissenberg
6301 Zug
Interessenkonflikte: keine
Der zweite Teil dieses Beitrages beschäftigt sich mit der Frage, ob schwer kranke Patienten die gleichen Resultate erwarten können wie weniger schwer Kranke – und mit welchem (Zeit-)Aufwand dies verbunden ist. Teil 2 erscheint in Heft 1/2008.
Wir danken Frau F. Kräuchi für die akribische Erstellung des Manuskriptes und des Jahresberichtes der Psychiatrischen Klinik Meissenberg.
Literatur kann beim Verfasser bestellt werden. Ebenso kann dort auch das Kapitel «Material und Methode» in der ausführlichen Form bestellt werden.
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