Transkript
Schwerpunkt
1. Direkte Arbeit am Defizit mit Programmen, die auf die spezifischen Schwächen des Kindes abgestimmt sind (z. B. Arbeit an Lautunterscheidung).
2. Modifizierung der Umwelt zur Optimierung des Zugangs zu akustischen Informationen (z. B. Einsatz von FM-Systemen, Sitzordnung in der Klasse).
3. Kompensatorische Strategien mittels Förderung der höheren kognitiven und sprachlichen Ressourcen (z. B. Einfordern von vermehrt schriftlicher Information, Stärkung der Sprachkompetenz).
Für die Interpretation der Testergebnisse ist zentral, dass diese mit der Symptomatik zusammenpassen.
FM-Systeme (FM = Frequenzmodulation) kommen zum Einsatz, wenn das Hören im Störgeräusch eingeschränkt ist. Häufig ist eine Kostenübernahme durch die Invalidenversicherung (IV) zu erreichen, wenn ein durch einen audiopädagogischen Dienst begleiteter Trageversuch erfolgreich ist. Die Befunde sollten ca. alle 2 Jahre kontrolliert werden, so dass die Therapie an die aktuell noch vorhandenen Defizite angepasst werden kann. Die Behandlung wird je nach Schwerpunkt der Störung durch Audiopädagogen oder Logopädinnen erfolgen.
Zusammenfassung
Die Diagnose «auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung» stellt ein Diskrepanzmerkmal dar. Sie bedarf einer umfassenden interdisziplinären Abklärung mittels standardisierter, normierter Verfahren. Für die Interpretation der Ergebnisse ist zentral, dass die Test ergebnisse mit der Symptomatik zusammenpassen. Durchgehend auffällige Untersuchungsergebnisse weisen eher auf eine modalitätsübergreifende Problematik als Ursache der Symptome hin. Die Therapie muss sich immer am individuellen Defizit des Kindes orientieren.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Steffi Johanna Brockmeier Oberärztin mbF Audiologie, Phoniatrie, Neurootologie HNO Kantonsspital Aarau Tellstrasse 25 5001 Aarau E-Mail: hanna.brockmeier@ksa.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Beidseitige sensorineurale Schwerhörigkeit
Frühzeitige Erkennung von grosser Bedeutung
Eine beidseitige Hörminderung beeinträchtigt die gesamte Entwicklung eines Kindes und sollte daher so früh wie möglich festgestellt werden. Mithilfe des Neugeborenen-Hörscreenings ist eine Erfassung vieler Störungen möglich. Die Versorgung der betroffenen Kinder erfolgt üblicherweise mit Hörgeräten oder einem Cochlea-Implantat. Erste Studien zeigen einen vielversprechenden Erfolg dank neuer Gentherapie und könnten in Zukunft für junge Patienten mit der seltenen OTOF-Mutation zur Verfügung stehen.
Von Arianne Monge Naldi
Jedes Jahr werden in der Schweiz zwischen 80 und 160 Kinder (1–2 pro 1000) mit einer beidseitigen Schwerhörigkeit geboren. Eine beidseitige Hörminderung hat einen negativen Einfluss auf die Lautsprachentwicklung, welche je nach Ausmass der Schwerhörigkeit ausbleiben kann. Die frühzeitige Erfassung einer beidseitigen sensorineuralen Schwerhörigkeit und Einleitung einer entsprechenden Hörrehabilitation ist daher für die gesamte Entwicklung des Kindes, insbesondere für die Lautsprache, entscheidend.
Neugeborenen-Hörscreening ermöglicht frühzeitige Erfassung
In der Regel wird das Neugeborenen-Hörscreening in den ersten Tagen nach der Geburt durchgeführt. Früher wurden nur Hochrisikokinder gescreent, sodass etwa die Hälfte der schwerhörigen Kinder nicht erfasst wurden und die Schwerhörigkeit meistens erst zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr oder sogar noch später diagnos tiziert wurde (1). Ab 1999 hat sich das flächendeckende Neugeborenen-Hörscreening, empfohlen durch die «Arbeitsgruppe Hörscreening bei Neugeborenen der Schwei-
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zerischen Gesellschaften für ORL und für Pädiatrie» zunehmend in der Schweiz verbreitet (2). Seither werden die meisten Kinder mit einer angeborenen Schwerhörigkeit in den ersten Lebensmonaten erfasst. Das Neugeborenen-Hörscreening erfolgt mittels Messung von transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) und kann das Hörvermögen bis zu den äusseren auditorischen Haarzellen im Frequenzbereich von 1000 bis 4000 Hz messen. Es ermöglicht eine Aussage über die cochleäre Funktion und erfasst die meisten Schwerhörigkeiten. Allerdings können isolierte Hoch- und Tieftonschwerhörigkeiten nicht festgestellt werden. Eine weitere Einschränkung des Hörscreenings mittels TEOAE besteht darin, dass die Messung der Funktion der inneren auditorischen Haarzellen und der Nervenfasern nicht möglich ist. Somit können seltene Arten einer Schwerhörigkeit, die aufgrund einer Störung der Weiterleitung zwischen auditorischer Haarzelle und Nervenfaser entstehen (auditorische Neuropathie) oder retrocochleäre, neurale Schwerhörigkeiten (z. B. Fehlbildungen des Hörnervs) nicht erfasst werden. Bei Kindern mit einem Risiko für eine Schwerhörigkeit wird daher eine Hirnstammaudiometrie empfohlen. 2019 wurde eine aktualisierte Empfehlung zum Neugeborenen-Hörscreening publiziert (3) und das beidseitige Hörscreening zur Erfassung einer einseitigen Schwerhörigkeit in der Schweiz eingeführt. Bei mehrmals nicht bestandenem Hörscreening und unklarem Hörvermögen wird in der Regel mittels Hirnstammaudiometrie eine objektive Hörmessung durch geführt. Dank zusätzlicher Informationen des otoskopischen Befundes von Gehörgang und Trommelfell sowie der Tympanometrie kann eine seitengetrennte Hörschwelle festgelegt und zwischen einer sensorineuralen und schallleitungsbedingten Schwerhörigkeit unterschieden werden. Bei älteren Kindern ist es möglich, eine Verhaltens- oder Spielaudiometrie durchzuführen.
Welche Ätiologien sind am häufigsten?
Die Ätiologie einer angeborenen sensorineuralen Schwerhörigkeit ist in mehr als der Hälfte der Fälle genetisch bedingt, davon 30 Prozent syndromal und 70 Prozent nicht syndromal, oder kongenital erworben (Schwangerschaftsinfektionen, perinatale Asphyxie, Hyperbilirubinämie über der Austauschgrenze usw.) (3). Bei einer postnatal erworbenen Schwerhörigkeit kann die Ursache u. a. eine Infektion (z. B. Meningitis, Labyrinthitis), ototoxische Medikamente (z.B. Aminoglycoside, Cisplatin) oder eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) sein. Bei unklarer Ätiologie einer Schwerhörigkeit kann retrospektiv eine Cytomegalievirus (CMV)-Untersuchung aus der Guthrie-Test-Karte veranlasst werden. Die konnatale CMV-Infektion stellt die häufigste Ursache einer nicht genetischen Schwerhörigkeit bei Kindern dar. Dank einer genetischen Abklärung kann eine entsprechende Ursache nachgewiesen werden. In der Felsenbein-Bildgebung können zum Beispiel Fehlbildungen des Innenohrs und des Hörnervs nachgewiesen werden. Diese Informationen können bei der Planung eines Cochlea-Implantats hilfreich sein.
Hörgeräte, Cochlea-Implantat und Gentherapie
Bei einer beidseitigen sensorineuralen Schwerhörigkeit
kann – je nach Ausmass der Einschränkung des Hörvermögens – dank einer beidseitigen HdO-Hörgeräteversorgung (hinter dem Ohr) eine normale Hörschwelle erreicht und, bei entsprechender Entwicklungsvoraussetzung, eine Lautsprachentwicklung ermöglicht werden.
Bei Kindern mit einem Risiko für eine Schwerhörigkeit wird eine Hirnstammaudiometrie empfohlen.
Ab einer hochgradigen Schwerhörigkeit kann die Verstärkung, welche mit einem HdO-Hörgerät erreicht werden kann, nicht mehr ausreichend sein, um eine Lautsprachentwicklung zu ermöglichen, sodass die Indikation für eine Cochlea-Implantation besteht. Säuglinge und Kinder mit einer Hörrehabilitation haben Anspruch auf eine audiopädagogische Therapie zur Förderung der sprachlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung. Eine kürzlich veröffentlichte Studie (4) und weitere Untersuchungen, welche am Meeting der «Association for Research in Otolaryngology» vorgestellt wurden (5), haben dank Gentherapie einen bahnbrechenden Erfolg in der Behandlung der sensorineuralen Schwerhörigkeit, welche durch Mutationen des OTOF-Gens verursacht wird, erreicht.
Die konnatale CMV-Infektion ist die häufigste Ursache einer nicht genetischen Schwerhörigkeit bei Kindern.
Dieser Durchbruch stellt einen Meilenstein in der Behandlung der Schwerhörigkeit dar. Die OTOF-Mutation, die zu einer auditorischen Neuropathie führt, ist jedoch selten und betrifft weltweit nur ca. 200 000 Menschen. In näherer Zukunft wird die Mehrzahl unserer jungen Patienten mit einer sensorineuralen Schwerhörigkeit weiterhin nur dank einer Hörgeräterehabilitation ein normales Hörvermögen erreichen können.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Arianne Monge Naldi Oberärztin mbF Leiterin Pädaudiologie Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Wroblewska-Seniuk KE et al.: Universal newborn hearing screening: methods and results, obstacles, and benefits. Pediatric Research. 2017;81(3):415-422. (Review) 2. Cao-Nguyen MH, Vischer M: Nationales Programm des systematischen Hörscreenings von Neugeborenen mit otoakustischen Emissionen. Paediatrica. 1999;10(5): 15-18. 3. Candreia C et al.: Aktualisierte Empfehlung zum Neugeborenen-Hörscreening in der Schweiz. Paediatrica.16.12.2019. 4. Lv J et al.: AAV1-hOTOF gene therapy for autosomal recessive deafness 9: a single-arm trial. Lancet. Published online 24.01.2024. doi:10.1016/S01406736(23)02874-X. 5. https://aro.org
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